Skip to main content

Full text of "Kurze erklaerung des roemerbriefes"

See other formats


Karl Barth 


!%M-iW?' 


KURZE ERKLÄRUNG 
DES RÖMERBRIEFES 


Zweite, unveränderte Auflage 



CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN 


19 5 9 


© 

1956 Chr. Kaiser Verlag München 

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdruckes, der photo¬ 
mechanischen Wiedergabe und der Übersetzung Vorbehalten. Printed 
in Germany Umschlag und Einband von Rudolf Nieß. 

Satz und Druck: Buchdruckerei Albert Sighart, Fürstenfeldbruck. 


VORWORT 


Diese „Kurze Erklärung des Römerbriefs“ ist ein klei¬ 
nerer und jüngerer (unterdessen freilich auch schon älter 
gewordener) Bruder des „Römerbriefs“ von 1918 und 
1921. Sie ist entstanden als Manuskript zu einer im 
Winter 1940/41 in Basel gehaltenen Volkshochschul-Vor¬ 
lesung. Man wird ihr die eigentümliche Spannung, in der 
auch wir hier in jenen Jahren gelebt haben, kaum an¬ 
merken. Das in seiner Art immerhin Einmalige mag er¬ 
wähnt sein, daß ich einige dieser Vorlesungen (ich meine, 
es waren die über Röm. 8) in der etwas verwitterten Uni¬ 
form eines Mannes vom „Bewaffneten Hilfsdienst“ ge¬ 
halten habe. Im übrigen war ich, wie einst 1933 in Bonn, 
ziemlich entschlossen, nun erst recht bei der Stange zu 
bleiben: „als wäre nichts geschehen“. Das Manuskript 
existierte seither in verschiedenen Vervielfältigungen. Dem 
Ansinnen, es in Druck zu geben, habe ich bis jetzt wider¬ 
standen, bis der Ruf danach so dringlich an mich kam, 
daß ich meine Bedenken zurückstellte. Hier ist also das 
Gewünschte. 

Es ist wirklich eine kurze Erklärung des Römerbriefs. 
Die Notwendigkeit von Ergänzungen aus anderen Kom¬ 
mentaren wird sich dem Leser an vielen Stellen aufdrän¬ 
gen. Wer Ausführlicheres zum Römerbrief von mir lesen 
möchte, wird entweder nach wie vor zu jenem älteren 
Buch oder aber zu meinen späteren Schriften, besonders 
zur „Kirchlichen Dogmatik“ greifen müssen. Es ist ja 
selbstverständlich, daß dieser Text auch sonst in mir 
weiter gearbeitet hat. Man findet in den Fußnoten wenig¬ 
stens bei einigen größeren Abschnitten Verweise auf meine 
anderweitig fortgesetzten Versuche, ihm besser gerecht zu 
werden, wobei man Manches von dem hier Vorgebrachten 
auch schon wieder überholt sehen wird. Am Römerbrief 


lernt man eben nicht aus. In diesem Sinn „wartet“ er noch 
immer (wie ich es in der Vorrede von 1918 etwas hoch¬ 
gemut ausgedrückt hatte) — bestimmt auch auf mich! 

Uber das Verhältnis dieses Buches zu dem bzw. zu den 
beiden älteren wäre in sprachlicher, methodischer und 
sachlicher Hinsicht Vieles zu sagen. Daß es sich hier nicht 
etwa um einen Auszug aus der Darstellung von damals 
handelt, sieht man auf den ersten Blick. Ich nehme an, 
daß ich von diesem und jenem Rezensenten Einiges dazu 
zu hören bekommen werde. Die Anmerkungen, die ich 
selbst dazu machen könnte, sollen ihnen und den anderen 
Lesern erspart sein. Meine Absicht war beide Male — 
und soll es, wenn ich je wieder etwas zum Römerbrief 
sagen sollte, auch in Zukunft bleiben: den Paulus selbst 
zur Sprache zu bringen. Um den vorbehaltenden Zusatz: 
„So wie ich ihn verstehe“, kommt kein Ausleger hinweg 
und so auch ich nicht. Meine Hoffnung war und ist: daß 
Paulus stark genug ist, sich auch durch das Medium immer 
noch und immer wieder unzureichender Auslegungen hin¬ 
durch Gehör zu verschaffen. 

Noch bleibt hier anzumerken, daß ich die des Griechi¬ 
schen nicht kundigen Hörer jener Vorlesung damals auf¬ 
forderte, meinen Ausführungen an Hand einer modernen 
Übersetzung (Weizsäcker, Schiatter, Züricher Bibel, Menge) 
zu folgen. Mir fehlt leider die Zeit, den Lesern dieses 
Buches den Text, so wie ich ihn heute in seinem Zusam¬ 
menhang ins Deutsche übertragen würde, in einer zugleich 
treuen und lesbaren Gestalt vorzulegen. So muß ich auch 
sie bitten, bei der Lektüre eine jener anderen Übersetzun¬ 
gen — allenfalls auch meine eigenen von 1918 und 1921, 
die ich hier nicht reproduzieren wollte — neben sich zu 
legen. 


Basel, im Februar 1956 


INHALT 


Einführung und Übersicht. 

9 

1,1—17 

Das apostolische Amt und das Evangelium 

16 

1,18—3, 20 

Das Evangelium als Gottes Verurteilung des 
Menschen. 

27 

3, 21—4, 25 

Das Evangelium als göttliche Gerechtsprcchung 
der Glaubenden . 

49 

5,1—21 

Das Evangelium als Versöhnung des Menschen 
mit Gott. 

65 

6,1—23 

Das Evangelium als des Menschen Heiligung . 

77 

7,1—25 

Das Evangelium als des Menschen Befreiung . 

89 

8,1—39 

Das Evangelium als die Aufrichtung des Ge¬ 
setzes Gottes. 

107 

9,1—11,36 

Das Evangelium unter den Juden .... 

134 

12,1—15, 13 

Das Evangelium unter den Christen . 

180 

15,14—16, 27 

Der Apostel und die Gemeinde .... 

213 



Einführung und Übersicht 


Der Römerbrief ist tatsächlich ein Brief, genauer gesagt 
ein Sendschreiben an die christliche Gemeinde in Rom, in 
griechischer Spradie verfaßt von dem uns aus der 
Apostelgeschichte und aus einer Reihe anderer solcher 
Sendschreiben bekannten Apostel Paulus. Es bestehen 
Gründe, anzunehmen, daß er ihn im Jahre 58 n. Chr. 
in Korinth geschrieben oder vielmehr (Kap. 16, 22) einem 
gewissen Tertius diktiert hat und daß er von dort durch 
die in Kap. 16,1 erwähnte Gemeindeschwester Phöbe nach 
Rom gebracht worden ist. Er stammt also aus einer spä¬ 
teren Zeit als die beiden Thessalonicherbriefe, als der Ga¬ 
laterbrief und als die beiden Korintherbriefe, denen er im 
Neuen Testament vorangestellt ist, ist dagegen älter als 
alle übrigen im Neuen Testament unter dem Namen des 
Paulus enthaltenen Schriften. 

Wir wissen nicht, von wem, wann und unter welchen 
Umständen die christliche Gemeinde in Rom gegründet wor¬ 
den ist. Nach Kap. 1, 6 ist anzunehmen, daß sie in ihrer 
Mehrzahl aus ehemaligen Heiden bestand, von denen übri¬ 
gens nach der Grußliste im 16. Kapitel nicht wenige ur¬ 
sprünglich im Osten des römischen Reiches zu Hause wa¬ 
ren. Aus dem ganzen Inhalt des Briefes ergibt sich, daß 
das Alte Testament (ein Neues gab es ja noch nicht!) in 
dieser Gemeinde fleißig gelesen wurde und daß dessen 
rechte Auslegung für sie ein ernstes Problem bildete. Das 
kann mit Fragen Zusammenhängen, die ihr durch die Exi¬ 
stenz der jüdischen Synagoge in Rom nahegelegt waren, 
vielleicht auch mit solchen Fragen, die damals überall, wo 
es christliche Gemeinden gab, durch eine gewisse Richtung 


9 


unter den ehemals jüdischen Christen aufgeworfen waren. 
Wenn der Apostel in Kap. 1, 8 von den römischen Christen 
sagt, daß ihr Glaube in der ganzen Welt eine bekannte 
Sache sei, und wenn er in Vers lOf. so eindringlich sagt, 
wie gern er sie längst besucht hätte, so ist das ein Hinweis 
auf die Wichtigkeit, die dieser Gemeinde einfach darin zu¬ 
kam, weil sie in der Reichs- und Welthauptstadt ihren Ort 
und damit bereits etwas von jener Schlüsselstellung hatte, 
die die Kirche von Rom in den folgenden Jahrhunderten 
gewonnen und bis heute behalten hat. Wenn Petrus, wie 
die katholische Tradition, unterstützt auch von einigen 
protestantischen Forschern, behauptet, später in Rom ge¬ 
wesen ist und dort hingerichtet wurde, so haben wir es in 
unserem Paulusbrief jedenfalls mit einem noch älteren 
Dokument der Geschichte der dortigen Kirche zu tun. Es 
mag aber auch das notiert sein, daß Paulus in seinen spä¬ 
teren Briefen, die von Rom selber aus geschrieben sind (z. B. 
im Philipperbrief), mindestens sehr zurückhaltend über sei¬ 
ne dortige christliche Umgebung geschrieben hat und daß 
von der Anwesenheit des Petrus in Rom auch da noch 
keine Spur wahrzunehmen ist. Eine ziemlich scharfe, aber 
nicht näher erklärte Warnung vor Verführern, die das 
innere Leben der römischen Gemeinde bedrohten, findet 
sich übrigens schon am Ende unseres Briefes (Kap. 16, 
17—20). 

Wozu hat Paulus diesen Brief geschrieben? Wir erfah¬ 
ren aus Kap. 15, 25 f., daß er sich auf der Reise von Maze¬ 
donien und Griechenland nach Jerusalem befindet, um die 
im 2. Korintherbrief ausführlich besprochene Kollekte zur 
Unterstützung der dortigen Urgemeinde abzuliefern. Indem 
er seine Aufgabe im Osten des Reiches für getan hält 
(Kap. 15, 19. 23), will er nachher über Rom nach Spanien 
reisen, um dort sein Missionswerk fortzusetzen. Paulus 
war dem Ruf nach ein wohlbekannter Mann in der ganzen 
damaligen Christenheit, aber, wie er selbst (2. Kor. 6, 8) 


10 


einmal geschrieben hat: „unter Ehre und Schande, durch 
gute Gerüchte und böse Gerüchte <c . Er hatte viele Gegner, 
nicht nur unter Juden und Heiden, sondern auch in der 
christlichen Gemeinde selber. Er war mit dem, was er sagte, 
und wohl besonders auch in der Art, wie er es sagte, bzw. 
schrieb oder diktierte, nicht nur nicht leicht zu haben, 
sondern für manche gute und weniger gute Christen ein 
richtiger Anstoß. Und er hat auch zweifellos mit vollem 
Bewußtsein überall da selbst angegriffen, wo er es — und 
das war nicht selten — für nötig hielt. Um was und wie er 
sich wehren mußte, sehen wir z. B. gewaltig im Galater¬ 
brief. Und wie man umgekehrt ihn kritisierte, wenn es ganz 
freundlich geschah, kann man in 2. Petr. 3, 15 f. vielleicht 
etwas lächelnd, nachlesen. Indem nun dieser viel bestrittene 
und streitende Mann nach Rom zu reisen beabsichtigte, 
hielt er es für nötig und richtig, sich den dortigen Christen 
bekannt zu machen. Sie sollen durch ihn selbst erfahren 
— nicht, wer und wie er persönlich ist, wohl aber, was 
sein Amt und seine Botschaft ist. Sie sollen ihn kennen 
lernen in seiner Darstellung des Evangeliums in der be¬ 
stimmten Zuspitzung auf die sie selbst — und nicht nur 
sie — damals offenbar bewegende Frage der rechten Aus¬ 
legung des Alten Testamentes. Es war das große Thema 
auch seines eigenen Lebens: des Lebens des Mannes, der 
jüdischer Schriftgelehrter gewesen und christlicher Missio¬ 
nar geworden war — das Thema, um das auch die Kämpfe 
kreisten, die er in der Kirche erregte und zu bestehen 
hatte — insofern zweifellos gerade das redite Thema, um 
sich selbst, und nun doch nicht sich selbst, sondern seine 
Sache solchen bekannt zu machen, die ihn bis dahin nur 
von weitem und auf Grund der über ihn umlaufenden 
Berichte und Gerüchte kannten. Seine Erwartung beim 
Schreiben dieses Briefes ist offenbar die, daß eine ausführ¬ 
liche Äußerung zu diesem Thema seine beste Einführung 
bei der römischen Gemeinde sein werde: die Einführung, 


11 


die er zur Verwirklichung seiner weiteren Absichten im 
Westen des Reiches nötig hatte. Wir wissen nicht, inwiefern 
seine Erwartung in Erfüllung gegangen ist. Paulus ist ja 
dann ganz anders als vorgesehen nach Rom gekommen, 
nämlich als Gefangener. Aber jene Absicht war der Anlaß 
des Römerbriefes. 

Und damit ist nun auch schon das Entscheidende gesagt 
über seinen Inhalt. Man hat ihn oft mit einem Katechis¬ 
mus oder gar mit einer Dogmatik verglichen, und er ist 
denn auch tatsächlich von dem ersten Dogmatiker der 
evangelischen Kirche, Ph. Melanchthon, als Leitfaden für 
ein solches Werk benützt worden. Das Richtige an diesem 
Eindruck besteht darin, daß der Römerbrief tatsächlich 
mehr als alle anderen Schriften des Neuen Testamentes 
Lehre enthält, zusammenhängende Darstellung des christ¬ 
lichen Glaubens entwickelt. Man muß aber beachten, daß er 
von einem Katechismus oder von einer Dogmatik dadurch 
unterschieden ist, daß er jenes (wenn auch — besonders am 
Ende des Briefes — nicht absolut festgehaltene, aber im 
Ganzen doch sehr bestimmt hervortretende) besondere Ziel 
hat, das Luther in seiner Vorrede zu diesem Brief mit 
großer Treffsicherheit so angegeben hat: „Darum es auch 
scheinet, als habe S. Paulus in dieser Epistel wollen einmal 
in der Kürze verfassen die ganze christliche und evangeli¬ 
sche Lehre und einen Eingang bereiten in das ganze Alte 
Testament. Denn ohne Zweifel, wer diese Epistel wohl im 
Herzen hat, der hat des Alten Testamentes Licht und Kraft 
bei sich; darum lasse sie ein jeglicher Christ ihm gemein 
und stetig in Übung sein.“ Dieses Ziel bringt es nun aber 
mit sich, daß die Entfaltung der christlichen Lehre, zu der 
es in unserem Brief allerdings kommt, jene äußere Voll¬ 
ständigkeit doch nicht hat, die einem Katechismus oder 
einer Dogmatik eigentümlich sein müßten. Aber wie dem 
auch sei, der Inhalt des Römerbriefes ist, in kürzesten 
Zügen Umrissen, der folgende: Paulus erklärt sich in der 


12 


Einleitung Kap. 1, 1—17 über sein Amt und über das von 
ihm verkündigte Evangelium als solches: Es handelt sich 
im Evangelium, das schon im Alten Testament verkündigt 
ist und das darum (Kap. 1,16) zunächst die Juden angeht, 
um den als Nachkommen Davids geborenen, von den Toten 
auferstandenen Gottessohn Jesus Christus. Dieser selbst 
hat ihn, den Paulus, als seinen Boten an alle Heidenvölker 
ausgesendet. So kommt es dazu, daß auch die ehemaligen 
Heiden in Rom im Bereich seines Auftrags sind. Die Ein¬ 
leitung endigt mit der Feststellung, daß im Evangelium 
die Eröffnung des göttlichen Gerichtsurteils über die ganze 
Welt stattfindet, daß aber eben in dem Glauben, der dieses 
Gerichtsurteil annimmt und es sich gefallen läßt, auch 
jedes Menschen Errettung und Leben besteht. Kap. 1, 18 
bis 3, 20 bilden einen weiteren deutlichen Zusammenhang. 
Immer in Erinnerung an das, was schon das Alte Testament 
bezeugt hat, wird aufgewiesen, daß im Evangelium, in der 
Botschaft von Jesus Christus also, tatsächlich ein göttliches 
Gerichtsurteil, und zwar ein negatives Gerichtsurteil über 
alle Menschen: eine Verurteilung der Heiden und Juden 
in gleicher Weise, ausgesprochen ist. Aber dieser Aspekt 
verändert sidi nun laut dessen, was in dem darauffolgen¬ 
den großen Hauptteil des Briefes in Kap. 3, 21—8, 39 
ausgeführt wird, wenn wir — wieder unter Anleitung 
des Alten Testamentes — beachten, daß eben das Gerichts¬ 
urteil Gottes, durch das alle verdammt sind, weil es in 
Jesus Christus gesprochen, weil es in seinem Tode voll¬ 
zogen ist, alle diejenigen frei spricht, allen denjenigen recht 
gibt, die an ihn glauben, so daß das Evangelium als Er¬ 
öffnung dieses Gerichtsurteils, wenn es im Glauben ge¬ 
hört und aufgenommen wird, tatsächlich Evangelium, nicht 
schlimme, sondern gute Botschaft ist: die Botschaft von 
der Versöhnung zwischen Gott und Mensch und von einem 
neuen Leben des Menschen in der Gerechtigkeit, in der 
Freiheit, unter der Herrschaft des Geistes. Was dieses Evan- 


13 


gelium da bedeutet, wo es zuerst hätte Glauben finden 
müssen und wo es nun gerade keinen Glauben gefunden 
hat, unter den Juden der Synagoge nämlich, die sein ent¬ 
scheidendes Zeugnis, eben das Alte Testament, in Händen 
haben und doch offenbar bis jetzt nicht vernommen haben, 
das wird dann in Kap. 9—11 entwickelt. Und dem entspricht 
endlich Kap. 12, 1—15, 13 in Form einer Reihe von an¬ 
deutenden Mahnungen der Hinweis darauf, was das Evan¬ 
gelium da praktisch zu bedeuten hat, wo es Glauben ge¬ 
funden hat, in der Kirche Jesu Christi also, als die ja auch 
die Gemeinde von Rom anzusprechen ist. Der Schluß des 
Ganzen (Kap. 15, 14—16, 27) bringt die erwähnten persön¬ 
lichen Mitteilungen, eine Reihe von Grüßen an einzelne 
Personen und von solchen, Kap. 16, 17—18, jene etwas 
unvermittelt auftauchende Warnung vor Verführern und 
Kap. 16, 25—27 einen feierlichen Lobpreis des Gottes, der 
sich im Evangelium offenbart hat. — Das sind die großen 
Linien des Römerbriefes, die wir in diesen Vorlesungen 
etwas genauer auszuziehen die Aufgabe haben. 

Um der Vollständigkeit willen noch folgende Anmerkung: 
Daß der Apostel Paulus tatsächlich der Verfasser des Rö¬ 
merbriefes ist, daß wir es also nicht etwa mit einer jener 
Unterschiebungen zu tun haben, die in jenen Jahrhunder¬ 
ten in allen Ehren literarischer Brauch waren, das ist im 
Ernst nur von einigen wenigen Forschern des 19. Jahr¬ 
hunderts bezweifelt worden und kann auch nicht gut be¬ 
zweifelt werden, wenn man nicht gleich alle Paulusbriefe 
als solche in das 2. Jahrhundert gehörige Nachbildungen 
ansehen will. Das geht aber schon darum nicht an, weil die 
geistige Welt dieser späteren Zeit nach dem, was wir von 
ihr wissen, notorisch eine ganz andere gewesen ist, als die, 
die in den Paulusbriefen und so auch im Römberbrief 
sichtbar wird. Ein gewisser Zweifel besteht hinsichtlich des 
Schlusses des Briefes von Kap. 15, 1 ab, sofern es wahr¬ 
scheinlich ist, daß es um das Jahr 200 lateinische Über- 


14 


Setzungen des Briefes gegeben haben muß, die mit Kap. 14, 
23 aufhörten, in denen dieser Schluß also gefehlt hat. 
Auch der berühmte Irrlehrer Marcion, der freilich mit 
dem Text des Neuen Testamentes auch sonst mehr als 
frei umgegangen ist, behauptete, den Brief nur in dieser 
verkürzten Form zu kennen. Man sieht aber ohne weiteres, 
daß die Behandlung des Themas von Kapitel 14 in Kapi¬ 
tel 15 ihre unmittelbare Fortsetzung hat und wird darum der 
hier allerdings bestehenden Frage kein entscheidendes Ge¬ 
wicht beimessen können. Dagegen bestehen ernsthafte Grün¬ 
de zu der Annahme, daß jener Lobpreis Gottes in Kap. 16, 
25—27 nicht zum ursprünglichen Bestand des Briefes gehört 
haben, sondern ihm später hinzugefügt worden sein könnte. 
Eine andere Frage ist die, ob nicht speziell das 16. Kapitel 
unseres Briefes mit seinen vielen Grüßen an die Paulus 
persönlich bekannten Leute sich besser erklären läßt, wenn 
man annimmt, daß es zwar von Paulus stammt, aber ur¬ 
sprünglich einen Teil eines von ihm an die Gemeinde von 
Ephesus gerichteten Briefes gebildet hat. Die Gründe für 
und gegen diese Hypothese halten sich ungefähr die Waage. 
Es ist und bleibt durchaus möglich, daß auch dieses Kapitel 
zum ursprünglichen Bestand des Römerbriefs gehört hat. 
Wir befinden uns in guter Gesellschaft, wenn wir auch 
diese Frage zwar hören aber offen lassen und wenn wir 
uns nun an den Text halten, wie er uns durch die weit 
überwiegenden Stimmen der Überlieferung tatsächlich ge¬ 
boten und wie er in der christlichen Kirche tatsächlich im¬ 
mer gelesen worden ist. 


15 


1, 1—17 


Das apostolische Amt und das Evangelium 


Die Einleitung zum Ganzen, die wir in diesen Versen 
vor uns haben, gliedert sich deutlich: Vers 1—7 der Gruß 
des Apostels an seine römischen Leser, Vers 8—15 die 
Erklärung über seinen Wunsch, bald selber nach Rom zu 
kommen, Vers 16—18 die programmatische Bestimmung des 
Evangeliums als die Eröffnung des göttlichen Gerichtsur¬ 
teils, das dem, der es im Glauben annimmt, zum Heil und 
zum Leben wird. 

Die Verse 1—7 enthalten den Gruß des Verfassers in 
der damals üblichen Form: Er nennt sich selber, er nennt 
seine Adressaten, er wünscht ihnen in direkter Anrede das 
Beste, was er ihnen wünschen kann. Aber in dieser üblichen 
Form hat Paulus bereits sehr gehaltvoll von der ihn be¬ 
wegenden Sache geredet. Die Sache ist eine Person (v. 1): 
nicht die seinige, auch nicht etwa die des einzelnen Lesers 
oder Hörers des Briefes, sondern über seiner Person und 
den in der römischen Gemeinde vereinigten Personen die 
Person Jesu Christi. Sein Knecht, wörtlich: sein Sklave, ist 
Paulus, d. h. ihm gehört er und nur als der ihm Gehörige 
und nicht in eigener Person und auf Grund eigenen Rech¬ 
tes will er reden. Er wurde der diesem Herrn Gehörige, 
indem er von ihm berufen, aus seiner bisherigen Umge¬ 
bung, aber auch aus seinem bisherigen eigenen inneren 
und äußeren Lebensstand herausgerufen und insofern aus¬ 
gesondert wurde, um Apostel zu sein. Er empfing von die¬ 
sem Herrn die Gnade des Apostelamtes (v. 5), d.h. des 
Amtes eines von ihm bevollmächtigten Gesandten, das Amt, 


16 


dessen Auftrag die Verkündigung des Evangeliums, der 
guten Botschaft, ist. So ist Paulus von allem in der Welt 
getrennt, ganz an das Evangelium gebunden, für das Evan¬ 
gelium ausgesondert und das durch Jesus Christus, durch 
denselben, von dem er in Vers 3 f. sofort sagen wird, daß er 
auch der Inhalt des Evangeliums selber ist. Ihm liegt aber 
zunächst an der Feststellung (v. 2), daß diese gute Bot¬ 
schaft identisch ist mit dem, was schon durch die Propheten 
in den heiligen Schriften (gemeint ist: Israels, also des 
Alten Testamentes) ausgesprochen ist. Sie haben es zuvor 
ausgesprochen. Sie haben es angezeigt, bevor es da war, 
um nun durch den Mund des Apostels seinen Lauf durch 
die ganze Welt zu nehmen. Als seine mit ihm genau über¬ 
einstimmenden Voranzeigen sind also diese heiligen Schrif¬ 
ten zu lesen. Das Evangelium hat aber (v. 3—4) einen 
einzigen Inhalt — alles scheinbar andere ist nur immer 
wieder dieser eine Einhalt: der Sohn Gottes, der nach dem 
Fleische, d. h. als Mensch aus dem Geschlechte Davids 
stammt, der dem David verheißene Sohn und Thronerbe 
ist. Nach dem Heiligen Geist durch seine Auferstehung 
von den Toten aber, d. h. durch seine Kraft als Sohn Gottes 
ist er als solcher eingesetzt, d. h. erwiesen, offenbart, wört¬ 
lich: von anderen Menschen abgegrenzt und unterschieden. 
Dieser, Jesus Christus, ist der Herr des Paulus. Und eben 
von ihm hat Paulus (v. 5) die Gnade seines Auftrags 
empfangen, der dahin lautet, alle Heidenvölker zum Ge¬ 
horsam gegen den König Israels zu rufen, weil dieser als 
solcher der Sohn Gottes ist, der über allen Menschen ist — 
zu dem Gehorsam, der im Glauben besteht: damit durch 
ihren Gehorsam sein Name (der Name Jesus Christus als 
der Name des Gottessohnes und Davidssohnes) die Ehre 
bekomme, die ihm gebührt. Zu diesen Heidenvölkern ge¬ 
hören ursprünglich — es sind aber, wie Paulus selbst „be¬ 
rufen in Jesu Christi“, an ihrem Ort ebenfalls Heraus¬ 
gerufene (v. 6) — auch seine Leser: „alle, die Geliebten 


17 


Gottes, die Berufenen, die Heiligen in Rom“ (v. 7). Jede 
dieser Bezeichnungen meint genau so wie das, was Pau¬ 
lus von sich selbst gesagt hatte, nicht irgend eine religiös 
moralische Qualität der so Bezeichneten, sondern das Werk 
Jesu Christi, das für sie und an ihnen geschehen ist: durch 
ihn sind sie Geliebte Gottes, durch ihn berufen, durch ihn 
heilig, genau so in dem Sinne, wie Paulus durch ihn 
Apostel ist. So ist Jesus Christus, seine Person, wirklich 
die Einheit, in der der Apostel und die Gemeinde zum vorn¬ 
herein und ohne sich von Angesicht zu kennen, schlechter¬ 
dings beeinander sind. In dieser Einheit grüßt der Apostel 
die Gemeinde mit dem Segenswunsch. Wo Griechen und 
Römer jener Zeit „Freude“ und „Wohlergehen“ wünschten, 
da wünscht der Apostel „Gnade“ und „Friede“. Die Worte 
werden uns noch mehr begegnen, wir begnügen uns hier 
mit der Feststellung, daß sie gewissermaßen von oben und 
von unten das bezeichnen, was die Kirche zur Kirche, die 
Christen zu Christen macht: die göttliche Zuwendung zum 
Menschen, die Ordnung des Menschenlebens auf Grund 
dieser Zuwendung. In Jesus Christus ist beides Ereignis, 
aber auch immer neu zu erwarten und also zu erbitten 
von dem, aus dem beides quillt: von Gott, unserem Vater, 
den wir durch unseren Herrn Jesus Christus als solchen 
erkennen — von unserem Herrn Jesus Christus, der als 
solcher der Weg zu Gott, unserem Vater, ist. Je weniger 
man die beiden Glieder dieser Formel trennt, je deutlicher 
man sieht, daß eines nur durch das andere zu erklären ist, 
um so besser versteht man sie. 

In Vers 8—15 erläutert Paulus seinen Wunsch, mit der 
römischen Christengemeinde auch persönlich zusammen¬ 
zutreffen. Er beginnt (v. 8) wie in den meisten seiner Briefe 
damit, daß er Gott dankt für die Existenz der Gemeinde. 
Es gibt vielleicht keinen stärkeren Ausdruck für die Eigen¬ 
art des apostolischen Amtes im Unterschied zu dem Amt 
der Priester und Propheten im Alten Testament als dieses 


18 


Danken als das erste Wort, das dem Apostel seinen Ge¬ 
meinden gegenüber regelmäßig auf die Lippen kommt. In¬ 
dem er sich durch und in Jesus Christus an Gott wendet, 
darf und muß er schon in der Existenz einer Christen¬ 
gemeinde als solcher ein Wunder der Güte Gottes preisen. 
Denn der Glaube der römischen Christen, den er hier im 
besonderen nennt, und von dem er sagt, daß er in der 
ganzen Welt bekannt sei, ist sicher nicht etwa ihr ernster, 
ihr tiefer, ihr lebendiger Glaube, sondern schlicht ihr Glaube 
als solcher: die Tatsache, daß Jesus Christus auch in Rom 
— und das ist für die ganze Welt bedeutsam — seine Be¬ 
rufenen, seine Heiligen hat. Indem Paulus sich, in diesem 
Sinn an sie denkend, an Gott wendet, ist es selbstverständ¬ 
lich und kann er (v. 9) Gott dafür zum Zeugen anrufen, 
daß er für sie betet, daß sie ihm also in diesem strengsten 
Sinn des Wortes am Herzen liegen. Und eben diese seine 
Fürbitte wird dann (v. 10) wieder selbstverständlich zu 
der Bitte, es möchte nach Gottes Willen möglich werden, 
daß er selbst einmal zu ihnen komme. Er möchte sie 
(v. 11) sehen: dazu nämlich, um sie durch Weiter¬ 
reichung der ihm selbst verliehenen Geistesgabe zu be¬ 
stärken. Die Geistesgabe, von der die Rede ist, ist schlicht 
das ihm nach Vers 5 zur Verkündigung aufgetragene 
Evangelium. Andere haben andere Gaben. Paulus hat in 
1. Kor. 12 von der Verschiedenheit der Gaben des Geistes 
geredet und wird auch in unserem Brief in Kap. 12, 6 f. 
darauf zu reden kommen. Diese Gabe, die Verkündigung 
des Evangeliums, ist die ihm verliehene Gabe des Apostel¬ 
amtes. Er hat sie in allen seinen Briefen, er hat ihre Bedeu¬ 
tung nicht nur für die Begründung der Kirche (also für die 
Mission im engeren Sinn des Wortes), sondern audi für 
deren Stärkung und also für ihren Aufbau und ihre Er¬ 
haltung geltend gemacht. Aber das apostolische Amt macht 
seinen Träger nicht selbstgenügsam und darum fügt Pau¬ 
lus in der Fortsetzung (v. 11—12) hinzu: sie zu bestärken 


19 


ist für ihn gleichbedeutend damit, daß er mit ihnen ge¬ 
tröstet und ermahnt zu werden hofft durch den gegen¬ 
seitigen Austausch zwischen ihnen und seinem Glauben. 
Es ist ihm ernst damit, daß Jesus Christus zwischen ihm 
und der übrigen Kirche steht, daß er selbst, Paulus, also 
nicht monarchisch über der Kirche, sondern selbst in der 
Kirche lebt, ebenso empfangend wie gebend. So betet er 
wohl auch für sich selber, indem er für die römische Ge¬ 
meinde und wenn er darum betet, daß er sie persönlich 
sehen möchte. Der Ausführung seines Wunsches standen 
bis jetzt (v. 13) Hindernisse entgegen: Paulus meint nach 
Vers 10 und nach seinem sonstigen Verständnis solcher 
Situationen bestimmt, daß es nicht der Wille Gottes war, 
wenn er bis jetzt nicht ausgeführt werden konnte. Sie 
sollen aber wissen, daß der Wunsch und die Absicht von 
seiner Seite immer wieder da waren — der dritte Grund, 
den er dazu hat, wird jetzt sichtbar — auch unter ihnen, 
auch in Rom wie unter den anderen Heidenvölkern „einige 
Frucht zu haben“, einiges zu ernten, d. h. auch dort per¬ 
sönlich als Missionar das Evangelium zu verkündigen 
und einige dafür zu gewinnen, einige zu jenem Gehorsam 
des Glaubens (v. 5) zu führen. Wenn Paulus von den 
Heidenvölkern und ihrer Gewinnung für das Evangelium 
redet, so meint er, wie es hier deutlich wird, immer und 
ganz grundsätzlich: Einige aus diesen Völkern. In diesen 
Einigen sind die ganzen Völker Gegenstand seines Auf¬ 
trags, Hörer seiner Botschaft. Der paulinische Missions¬ 
gedanke hat mit großen oder kleinen Zahlen nichts zu 
tun: es geht darum, den Funken überall auszustreuen 
und in ihm jedesmal den zukünftigen Brand des Ganzen. 
Man kann schließlich Vers 14—15 als die Angabe eines 
vierten Grundes für seinen Wunsch, nach Rom zu kom¬ 
men, verstehen. Paulus erklärt nämlich diesen (in v. 15 
noch einmal ausdrücklich ausgesprochen) Wunsdi mit 
seiner besonderen Berufung zum Weltapostolat, zur Ver- 


20 


kündigung des Evangeliums unter Hellenen und Barba¬ 
ren, Gebildeten und Ungebildeten. Hellenen hießen ur¬ 
sprünglich die Griechen, Barbaren im Mund der Griechen 
alle übrigen Völker. In der Zeit unseres Briefes hatten 
die Begriffe sich gewandelt: hellenisch war der Inbegriff 
der Kultur, barbarisch der Inbegriff ihres Gegenteils ge¬ 
worden. In ihrer Zusammenstellung im Munde eines Chri¬ 
sten und ehemaligen Juden bezeichneten die beiden Be¬ 
griffe die nicht-jüdische, also die heidnische Welt als Ganzes 
und in ihrer Differenzierung. Als dieser Welt Apostel ist 
Paulus mit dem Evangelium beauftragt, im Unterschied 
zu den Aposteln, die nach wie vor in Jerusalem, unter 
den Juden dasselbe Amt vertraten. Weil das sein Amt ist, 
darum (vierter Grund) wünscht Paulus auch nach Rom 
zu kommen: nach Rom als dem Zentrum eben dieser hel¬ 
lenisch-barbarischen, aus höchster Bildung und gröbster 
Unbildung sich zusammensetzenden Heidenwelt. Man wird 
aber, auf diese ganze Erklärung in Vers 8—15 zurück¬ 
blickend, gut tun, sich zu erinnern, daß dieser Wunsch 
dort seinen eigentlichen Nerv, seine entscheidende Kraft 
hat, wo Paulus sich mit den römischen Christen wie mit 
den Christen aller anderen Gemeinden jetzt schon — aller 
räumlichen Trennung und persönlichen Unbekanntschaft 
zum Trotz — beieinander sieht: in der Einheit Jesu Christi, 
der zugleich sein, des Apostels, und ihr, der Gemeinde, 
Herr ist. 

Die letzten Sätze der Einleitung (v. 16—17) bringen die 
Erklärung darüber, was Paulus versteht unter dem Evan¬ 
gelium, von dem er in Vers 15 noch einmal gesagt hatte, 
daß er willens sei, es auch in Rom zu verkündigen. Es be¬ 
ginnt in diesen Versen bereits die Darstellung der Sache, 
um derentwillen der Brief geschrieben wurde. Aber der 
Übergang vom Vorangehenden her vollzieht sich fast un¬ 
merklich. 


21 


Was Paulus in Vers 16 zuerst sagt: daß er sich des 
Evangeliums nicht schäme , bezieht sich sicher noch darauf, 
daß er vorher davon geredet, wie er schon lange gerne 
nach Rom gekommen wäre und nun doch bisher nicht 
kommen konnte. Niemand soll denken, daß er etwa deshalb 
nicht kommen konnte, bzw. wollte, weil er die Probe 
scheute, die gerade Rom als der eindrucksvolle Mittel¬ 
punkt der heidnischen Welt für seine Verkündigung be¬ 
deuten mußte. Er fürchtet nicht, daß das Evangelium der 
in der Weltstadt massierten Kultur und Unkultur etwa 
nicht gewachsen sein, daß es an den dort herrschenden 
Mächten des Geistes und des Ungeistes, der Humanität und 
der Banalität zuschanden werden und damit auch ihn 
blamieren könnte. Aber das Vertrauen auf seine eigene 
Geistesmacht, Beredsamkeit, Menschenkenntnis oder der¬ 
gleichen ist nicht der Grund dieser seiner „Unverschämt¬ 
heit“. Er ist darum „unverschämt“, er fürchtet das ganze 
Rom darum nicht, weil — und nun kommt er zu der 
Sache, bei der er bis Kap. 15, 13 in großer Strenge bleiben 
wird — das Evangelium selbst Kraft , und zwar Kraft 
Gottes und also schlechterdings überlegene Kraft ist. Man 
bemerke, daß er nicht von seiner Überzeugung oder Er¬ 
fahrung von dieser Kraft redet. Man bemerke ferner, daß 
er nicht sagt, das Evangelium habe solche Kraft (als ob es 
sie allenfalls auch nicht haben könnte). Er zeigt vielmehr 
— wir müssen uns daran gewöhnen, daß ein Apostel so 
redet — an, daß das Evangelium solche Kraft ist. Der Satz 
bedeutet: es ist die Allmacht Gottes. Also keine Macht 
neben anderen Mächten, keine Macht, die mit anderen auch 
nur zu vergleichen wäre, keine Macht mit der eine andere 
konkurrieren könnte, sondern die Macht, die über allen 
anderen Mächten ist, die ihrer aller Grenze ist, von der 
sie alle regiert werden. Das ist das Evangelium. Wie sollte 
es da in dem großen und nun doch recht kleinen Rom zu 
Schanden werden? Wie sollte da sein Bote verschämt sein 


22 


können? Wir hörten schon in Vers 4: der Inhalt des Evan¬ 
geliums ist die Person Jesus Christus. Der alte Abschreiber, 
der hier diesen Namen ausdrücklich hinzufügte, hat dar¬ 
um sachlich nichts verändert. Selbstverständlich hat Paulus 
an diesen Inhalt und also an diese Person des Evangeliums 
gedacht, wenn er es die Allmacht Gottes genannt hat. Wo 
Jesus Christus der Inhalt ist, da nimmt jede Form seine 
Art an. Die Art Jesu Christi ist aber die Allmacht Gottes. 
So kommt das Evangelium dazu, die Allmacht Gottes zu 
sein. Aber was ist die Allmacht Gottes? Paulus hatte ein 
sehr bestimmtes Verständnis von dieser Sache: Das ist die 
Allmacht Gottes und also die letztlich alleinige Macht in 
der Welt, die wirksam ist „zur Errettung für jeden Glau¬ 
benden, für den Juden zuerst und auch für den Griechen“. 
Man betrachtet diese Worte am besten ohne Auflösung 
ihres Zusammenhangs. Paulus weiß von einem Werk, das 
in Gang gekommen ist und nun unaufhaltsam in Gang 
bleiben wird. Dieses Werk besteht in einer Errettung . In 
jedem Glaubenden kommt dieses Werk zu seinem Ziel da¬ 
mit, daß er durch dieses Werk gerettet wird. Und es läuft 
der Weg dieses Werkes zuerst zu den Juden und dann 
von da aus zu den Griechen , d. h. zu den damals durch 
die griechische Sprache und Art beherrschten heidnischen 
Völkern in der Umgebung des Mittelmeeres, um im Glau¬ 
ben der Juden zuerst, dann im Glauben der Griechen damit 
zu seinem Ziel zu kommen, daß sie gerettet werden. Also: 
die Allmacht Gottes ist diejenige Macht, die in diesem Werk 
wirksam ist. Und umgekehrt: was in diesem Werk wirk¬ 
sam ist, das ist die Allmacht Gottes im strengsten Sinn 
des Begriffs. Vieles, was noch kommt, wird verständlicher, 
wenn man bedenkt, daß diese Gleichung zum ABC des 
Paulus gehört. Er wird nachher in keinem Satz so reden, 
als ob es an dieser Gleichung etwas zu rütteln gäbe. Wir 
nehmen also zunächst zur Kenntnis: das Evangelium ist 
dieses allmächtige Rettungswerk. 


23 


Und nun erfahren wir in Vers 17 in kürzester Form, was 
Paulus vor Augen hat, wenn er das Evangelium als die¬ 
ses Rettungswerk bezeichnet. Im Evangelium findet eine 
Offenbarung statt. Das bedeutet schlicht: die Aufdeckung, 
die Enthüllung einer Sache, die sonst verborgen ist und 
verborgen bleiben muß. Paulus redet hier wie nachher in 
Vers 18 in der Gegenwartsform. Man kann auf die Offen¬ 
barung im Evangelium nicht zurückblicken wie auf andere 
historische Ereignisse. Sie hört nicht auf, im Evangelium 
zu geschehen. Man kann das Evangelium nicht hören, ohne 
sein Zeitgenosse, ohne selber Zeuge seines Geschehens zu 
werden. Es ist aber die im Evangelium sich ereignende 
Offenbarung die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes , d. h. 
der rechtlichen, der richterlichen Entscheidung Gottes. Was 
sonst verborgen ist und bleibt, im Evangelium aber sicht¬ 
bar wird, das ist der „Richterstuhl“ (2. Kor. 5,10), welchen 
der Mann einnimmt, den Gott nach Übersehen der Zeiten 
der Unwissenheit bestimmt hat, den ganzen Erdkreis, die 
Lebendigen und die Toten zu richten in Gerechtigkeit (Act. 
10, 42; 17, 30 f.). Dieser Mann, Jesus Christus, ist ja der 
Inhalt des Evangeliums. Er wird in ihm offenbar und in 
ihm Gottes Richterspruch. Zu seinem Zeitgenossen, zum 
Zeugen seiner Offenbarung, wird der Hörer des Evange¬ 
liums. Und eben er als Verkünder des Richterspruches Got¬ 
tes ist auch der Vollbringer jenes allmächtigen Rettungs¬ 
werkes. Das ist die zweite erstaunliche Gleichung in die¬ 
sen programmatischen Versen: Gottes Richterspruch ist 
Gottes Rettungswerk. Der Richter ist der Retter. Auf den 
Mann, durdi den Gott sein Urteil offenbart, blickt Paulus 
und an das durch ihn ausgesprochene Urteil hält er sich, 
indem er im Evangelium die Gotteskraft zur Errettung 
erkennt. Die hinzugefügten Worte „aus Glauben zum Glau - 
ben“ sind nicht ganz leicht zu verstehen. Die naheliegend¬ 
ste Deutung dürfte die sein, daß wir es in ihnen mit einem 
im Deutschen freilich nicht wiederzugebenden Wortspiel zu 


24 


tun haben. Das griechische Wort für „Glaube“ (pistis) be¬ 
deutet ebenso Treue wie Vertrauen. In der Stelle in Kap. 
3, 3 wird es tatsächlich zur Bezeichnung der Treue Gottes 
verwendet und man muß damit rechnen, daß es auch an 
anderen Stellen nicht vom Glauben des Menschen, son¬ 
dern von der Treue Gottes reden könnte. Wenn dies auch 
hier anzunehmen wäre, wäre alles klar: der durch Jesus 
Christus verkündigte Richterspruch stammt aus der Treue, 
er ist das Wort der Treue Gottes und zielt auf das Ver¬ 
trauen, auf den Glauben der jüdischen und griechischen 
Menschen, die ihn zu hören bekommen. Von diesem Grund 
und von diesem Ziel seiner Offenbarung her gesehen ist 
dieser Richterspruch das, als was Paulus ihn beschreibt: 
Gottes allmächtiges Rettungswerk. „Der aus Glauben Ge¬ 
rechte“, von dem das abschließende Zitat aus Hab. 2, 4 sagt, 
daß er leben werde, ist der Jude oder Grieche, der das 
Evangelium so gehört hat, daß der darin ausgesprochene 
Richterspruch Gottes und also Gottes allmächtiges Rettungs¬ 
werk bei ihm zu seinem Ziel gekommen ist — der Jude 
oder Grieche, der damit glaubt, daß er es annimmt und 
bekennt, der zu sein, als der er durch das göttliche Urteil 
bezeichnet und angesprochen wird. Wer das tut, wer sich 
der Rechtsentscheidung Gottes mit Herz und Mund unter¬ 
wirft, der glaubt, der steht mit diesem seinem Glauben vor 
Gott da als einer, der ihm recht ist und eben der wird 
leben, d. h. eben der wird der Errettung und durch seine 
Errettung des Lebens teilhaftig, das ihm durch die Rechts¬ 
entscheidung Gottes zugesprochen ist. Es soll aber doch 
nicht unerwähnt bleiben, daß es eine griechische Über¬ 
setzung jenes Habakukwortes gegeben hat, die vielleicht 
auch dem Paulus nicht unbekannt war, laut derer es hei¬ 
ßen würde: „Der Gerechte wird aus meiner (Gottes) Treue 
leben“. Und es ist auch das nicht ausgeschlossen, daß Pau¬ 
lus bei dem Mann, von dem das gesagt wird, ursprünglich 
und zuerst nicht an den Hörer und Empfänger des Evan- 


25 


geliums, sondern an seinen Inhalt, d. h. an den Mann 
Jesus Christus gedacht hat: an den durch den treuen Gott 
eingesetzten gerechten Richter, dessen Leben, d. h. dessen 
Auferstehung von den Toten (v. 4) die schon im Alten 
Testament geweissagte Offenbarung ist, die Paulus nun 
auslegen will. Ohne Jesus Christus als Hintergrund kann 
man das, was hier und in allem Folgenden vordergründ¬ 
lich vom glaubenden Menschen gesagt wird, auf alle Fälle 
nicht verstehen. Seine Gerechtigkeit ist wie die des treuen 
Gottes so auch die des auf ihn vertrauenden Menschen. 
Und sein aus dem Tode errettetes Leben ist das Leben, das 
diesem durch ihn gerechten Menschen zugesagt ist. — Die 
Verkündigung dieser Gerechtigkeit und dieses Lebens, die 
Verkündigung des Glaubens, die den Menschen dieser Ge¬ 
rechtigkeit und dieses Lebens teilhaftig macht, ist das apo¬ 
stolische Amt, in das Paulus eingesetzt ist und in dessen 
Verwaltung er im Römerbrief das Wort ergriffen hat. 


26 


1,18 — 3,20 


Das Evangelium als Gottes Verurteilung 
des Menschen 


Meint Paulus eine zweite oder erste Offenbarung neben 
und außer der, von der in Vers 17 die Rede war, wenn 
nun auf einmal eine Offenbarung des Zornes Gottes 
vom Himmel her über alle Gottlosigkeit (Ehrfurchtslosig- 
keit) undUngerechtigkeit (Unbotmäßigkeit) der Menschen, 
nämlich der Heiden (v. 18—32) und der Juden (Kap. 2,1 
bis 3, 20) zur Sprache kommt? Stellt er sein Amt als Ver¬ 
künder des Evangeliums zurück, um zunächst in einem ganz 
anderen Amt, nämlich in dem eines frommen Auslegers der 
menschlichen Situation als solcher, eines christlichen Reli- 
gions- und Geschichtsphilosophen zu reden? Man hat das, 
was nun folgt, oft so verstanden, als ob dem so wäre. Die 
ganze doch sehr lange Stelle in Kap. 1, 18—3, 20 würde 
dann bedeuten, daß Paulus — wie schlechte Prediger es 
allerdings zu tun pflegen — zunächst weit und breit von 
etwas ganz anderem als von seinem Text, d. h. von der 
vorher klar und deutlich angegebenen Sache reden würde. 
Will man ihm das Zutrauen? Irgend eine äußere Anzeige 
dafür, daß wir es mit einem solchen Frontwechsel gleich 
zu Beginn des Ganzen zu tun hätten, liegt tatsächlich nicht 
vor. Man kann aber jedenfalls das in Kap. 2, 1 f. über die 
Juden Gesagte unmöglich verstehen, wenn man nicht sieht, 
daß hier nicht von einer allgemein-menschlichen Warte, 
sondern vom Evangelium her geredet, daß hier das im 
Evangelium den Juden verkündigte Urteil ausgesprochen 
wird, daß also Paulus hier ganz eindeutig in seinem Amt 


27 


als Apostel redet. Ist dem aber so, mit welchem Recht soll 
dann angenommen werden, daß er es im 1. Kapitel, wo 
von den Heiden die Rede ist, anders halte? Auf welche 
andere „Offenbarung Gottes vom Himmel her“ konnte er 
sich denn auch berufen, wenn er im Folgenden das ent¬ 
wickeln will, was gegen Schluß dieses Abschnittes und zu 
Beginn des Folgenden zusammengefaßt wird in den Wor¬ 
ten: „Wir haben Juden und Griechen als schuldig erwie¬ 
sen, daß sie alle unter der Herrschaft der Sünde seien“ 
(Kap. 3, 9) „... damit jeder Mund verschlossen und alle 
Welt vor Gott strafwürdig sei“ (Kap. 3,19). „Es ist hier kein 
Unterschied; alle haben gesündigt und ermangeln der Ehre 
vor Gott“ (Kap. 3, 23). Sollte das „vom Himmel her“ auf 
einen anderen Ursprung dieser Offenbarung hinweisen? 
Aber was für ein Ursprung käme da in Betracht, da wir ja 
hörten, daß eben das Evangelium die Allmacht Gottes und 
also doch wohl der Inbegriff aller Himmelshöhe ist? Und 
was Paulus angibt als Inhalt dieser Offenbarung, das hat 
doch noch nie jemand gesagt und hat auch noch nie je¬ 
mand sagen oder auch nur nachsagen können als eben in 
Auslegung der Offenbarung, von der Paulus vorher ge¬ 
redet: in Auslegung des durch den Mann Jesus Christus 
gesprochenen göttlichen Gerichtsurteils. Nur der Glaube 
an das Evangelium wird jene Sätze, wird diese ganze 
Rede vom Zorne Gottes annehmen, wird ihr nicht wider¬ 
sprechen. Das bedeutet aber: wir befinden uns schon in 
diesem Abschnitt nicht in einer Art Vorhalle, sondern tat¬ 
sächlich bereits mitten in der Sache. Diese Sache, das Ge¬ 
richtsurteil des treuen Gottes über die ganze Welt, dessen 
Offenbarung Jesus Christus heißt, hat eben auch diese 
Seite, diese Schattenseite. Sie ist auch die Offenbarung des 
Zornes Gottes. Und wenn es vielleicht unseren pädagogi¬ 
schen Begriffen nicht entspricht, so ist es für die apostoli¬ 
sche Pädagogik um so bedeutungsvoller, wenn Paulus, be¬ 
vor er auf die Lichtseite der einen Offenbarung zu spre- 


28 


chcn kommt, dieses Schwerere vorwegnimmt, den ganzen 
Trost des Evangeliums (denn er ist auch hier zur Stelle) 
zunächst nicht als solchen kenntlich macht, sondern ver¬ 
birgt in dem Zeugnis von Gottes Verurteilung des Men¬ 
schen. 

Das merkwürdige „Denn“, mit dem Vers 18 anfängt, 
wird verständlich, wenn man beachtet, daß es in einer Reihe 
steht mit den zwei anderen „Denn“ in Vers 16 und 17 : 
„Denn es ist Gottes Kraft“, „Denn die Gerechtigkeit Got¬ 
tes wird in ihm offenbar“. Damit wurde dort der Satz: „Ich 
schäme mich des Evangeliums nicht“ begründet. Auch das 
„Denn“ in Vers 18 ist begründet: Ich schäme mich des 
Evangeliums den Mächten der Weltstadt Rom gegenüber 
darum nicht, weil das Evangelium als das allmächtige Ret¬ 
tungswerk Gottes jedenfalls auch Gottes Verurteilung des 
Menschen ausspricht, weil es ganz klar ist, daß nicht ich 
mich des Evangeliums, sondern die in Rom massierte Hei¬ 
denwelt angesichts des Evangeliums sich ihrer selbst zu 
schämen hat. So ist Paulus gewissermaßen von selbst, noch 
im Zuge seiner Einleitung, zuerst gerade auf diese Sache 
zu reden gekommen. Wenn Gott und der Mensch — auch 
der Mensch der Weltstadt Rom — sich begegnen, wie es in 
der Verkündigung und im Hören des Evangeliums der 
Fall ist, dann kann es nicht anders sein, als daß der Wider¬ 
spruch zwischen beiden sichtbar wird: der Widerspruch 
Gottes gegen den Widerspruch, den der Mensch ihm seiner¬ 
seits entgegensetzt. Die Haltung des Menschen Gott gegen¬ 
über wird dann sichtbar als Ehrfurchtslosigkcit — das ist 
das Wesen der Gottlosigkeit und als Unbotmäßigkeit, als 
Aufruhr — das ist das Wesen aller menschlichen Unge¬ 
rechtigkeit. Es gibt dann Feuer: das Feuer, von dem das 
Unmögliche, was da auf seiten des Menschen passiert, ver¬ 
zehrt wird. Dieses Feuer ist der Zorn Gottes. Man ver¬ 
stehe den Zorn Gottes nicht als etwas, was der Liebe Got¬ 
tes fremd und entgegengesetzt wäre. Man verstehe aber 


29 


die Liebe Gottes als diese brennende und verzehrende 
Liebe. Die Offenbarung des Zornes Gottes, des über den 
Menschen um seiner Sünde willen beschlossenen Todes¬ 
urteils Gottes ist der Akt, in welchem Gott (Kap. 8, 32) 
seines eigenen Sohnes nicht verschonte, sondern hat ihn für 
uns alle dahingegeben. Der Kreuzestod Jesu Christi ist die 
Offenbarung des Zornes Gottes vom Himmel her. Von hier 
aus denkt Paulus. Von hier aus haben wir nun auch das 
Folgende zu verstehen. 

Gestehen wir es gleich zu: Wären uns die Verse 19—21 *) 
für sich, vielleicht als Fragment eines uns unbekannten 
Textzusammenhangs eines unbekannten Verfassers über¬ 
liefert, so könnte man wohl auf die Vermutung kommen, 
als sei hier von der Existenz eines „natürlichen“ d. h. einer 
der Offenbarung Gottes in Jesus Christus vorangehenden 
und ihr gegenüber selbständigen Gotteserkenntnis der Hei¬ 
den die Rede. Die Stelle ist immer wieder so gelesen wor¬ 
den, als wenn sie ein solches Fragment wäre und ist dann 
tatsächlich als Beweis einer allgemeinen Lehre von einer 
solchen natürlichen Gotteserkenntnis verstanden undimmer 
wieder angeführt worden. Man hat freilich auch unter 
jener seltsamen Voraussetzung zu viel aus ihr gemacht. 
Daß die heidnischen Religionen ein Zeugnis von der dem 
Menschendasein notwendigen Gottesbeziehung seien, daß 
sie als Ergebnis aus Gottes Offenbarung und des Men¬ 
schen Sünde zu verstehen seien, steht z. B. nicht in diesen 
Versen, in denen die heidnische Religion als solche noch 
gar nicht erwähnt wird. Aber schon die Voraussetzung ist 
hier falsch. Die Verse sind nun einmal kein Fragment, son¬ 
dern stehen als Worte des Apostels Paulus in ihrem be¬ 
stimmten Zusammenhang im Römerbrief und in den pau- 
linischen Schriften überhaupt. Angesichts der Feststellung, 
auf die der ganze Absdinitt, in dem sie stehen, hinaus- 

* Vgl. zu dieser Stelle KD. I, 2 S. 334 f. und II, 1 S. 131 f. 


30 


läuft und angesichts der damit übereinstimmenden Dar¬ 
legungen des Paulus über die verborgene, von keinem 
Auge gesehene, von keinem Ohrt gehörte, in keines Men¬ 
schen Herz gekommene Weisheit Gottes, die der natür¬ 
liche Mensch nicht annimmt, die er nicht erkennen kann, 
die nur der Geist Gottes, die der Mensch nur durch diesen 
Geist Gottes erkennen kann (1. Kor. 2,6—16), wäre es doch 
sehr merkwürdig, wenn Paulus hier auf einmal die Hei¬ 
den im Vollzug und Besitz wirklicher Gotteserkenntnis 
sehen sollte. Würde Paulus mit einer solchen Sache rech¬ 
nen, warum hätte er sie dann nicht ganz anders fruchtbar 
gemacht? Warum redet er dann im ganzen übrigen Römer¬ 
brief und in allen seinen sonstigen Briefen von der Er¬ 
kenntnis Gottes so, als gäbe es in Wirklichkeit nur die eine, 
nämlich die, die auf die Offenbarung jenes göttlichen Rich¬ 
terspruches und Rettungswerkes und also auf die Offen¬ 
barung in Jesus Christus gegründet ist? 

Denkt man von diesem Zusammenhang her über die 
Stelle nach, dann wird vor allem ersichtlich: Paulus redet 
nicht von den Heiden an sich und im allgemeinen, nicht in 
der Weise, wie es etwa ein Religionshistoriker oder Reli¬ 
gionsphilosoph an seiner Stelle getan hätte. So wird er ja 
nachher auch von den Juden nicht reden. Er redet von 
den Heiden, die jetzt, durch die Auferstehung Jesu Christi 
und durch die seither durch die ganze Welt gehende Ver¬ 
kündigung seines Namens, ob sie es wissen oder nicht, ob 
es ihnen recht ist oder nicht, mit dem Evangelium kon¬ 
frontiert sind. Er sieht die Heiden wie die Juden — das 
tut kein Religionshistoriker und kein Religionsphilosph — 
im Widerschein jenes Feuers des Zornes Gottes, das das 
Feuer seiner Liebe ist. Er redet von etwas, was den Heiden 
angeht, was ihm aber keineswegs bekannt, sondern höchst 
unbekannt ist, er sagt ihm über ihn selbst — und es 
braucht schon einen Apostel dazu, um ihm das zu sagen 
— die größte Neuigkeit: dies nämlich, daß Gott sich fak- 


31 


tisch auch ihm längst, ja immer, von der Erschaffung der 
Welt her bezeugt und offenbart hat. Die Welt, die ihn 
immer umgab, war immer Gottes Werk und damit immer 
Gottes Selbstzeugnis. Objektiv gesprochen haben die Hei¬ 
den Gott: sein unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und 
Gottheit immer erkennen können. Und wieder objektiv ge¬ 
sprochen: sie haben ihn auch immer erkannt. In allem, 
was sie sonst erkannten, war ja, objektiv gesprochen, im¬ 
mer Gott als der Schöpfer aller Dinge der eigentliche und 
wahre Gegenstand ihres Erkennens. Genau in dem Sinn, 
wie es ja auch die Juden in ihrem Gesetz objektiv zweifel¬ 
los mit Gottes Offenbarung zu tun hatten. Wie kommt 
Paulus zu diesen Sätzen? Man achte auf das, worauf sie 
hinaus wollen: daß Heiden und Juden unentschuldigt, in 
vollem Ernst haftbar und verantwortlich für ihren Wider¬ 
spruch gegen Gott vor diesem dastehen (Kap. 1, 20 und 
Kap. 2, 1), das ist es, was im Lichte der Offenbarung 
Gottes in Jesus Christus, im Widerschein jenes auf Golga¬ 
tha entbrannten Zornesfeuers sichtbar ist. In dieser gött¬ 
lichen Anklage und also in der Offenbarung in Jesus 
Christus und also im Evangelium und nur da, nur so, 
sieht Paulus nun auch das enthalten und ausgesprochen: 
wirklich von Gott Verkommend, also wirklich und ernst¬ 
lich im Widerspruch gegen Gott und also wirklich und 
ernstlich getroffen von Gottes Zorn sind Heiden und Juden, 
was sie sind. Sie fehlen gegen ihr eigenes besseres Wissen. 
Wie wäre das Evangelium nach Vers 16 die Allmacht 
Gottes, wenn die Heiden etwa darauf sich zurückziehen 
könnten, daß Gott ihnen fremd sei, daß sie sich in irgend 
einem Winkel der Welt befänden, wo Gott nicht Gott und 
als solcher nicht offenbar sei, wenn es so etwas gäbe wie 
ein in sich ruhendes, gefestigtes, gesichertes und berech¬ 
tigtes Heidentum, ein Heidentum, dem gegenüber Gottes 
Anklage, Zorn und Urteil im Unrecht wäre, weil es sich 
auf Unkenntnis des Gesetzes berufen könnte? Das eben ist 


32 


es, was das Heidentum nicht kann: angesichts des Kreuzes¬ 
todes Christi unmöglich kann. Und das ist es, was Paulus 
in Vers 19—21 in seiner Unmöglichkeit hingestellt hat. Das 
Gesetz gilt auch für die, die es nicht kennen, einfach dar¬ 
um, weil es objektiv auch über ihnen steht. 

Daß Paulus nicht daran denkt, den Heiden so etwas wie 
ein Kompliment zu machen und in ihren Religionen so 
etwas wie einen Anknüpfungspunkt aufzusuchen, von dem 
aus es zu einem Brückenbau zum Verständnis des Evan¬ 
geliums kommen könnte, daß er sie vielmehr pur und 
einfach zum Glauben an Gottes Richterspruch aufruft, das 
zeigt die ganze Fortsetzung in dem an sie gerichteten Teil 
dieses Abschnitts. Ihrer objektiven Kenntnis Gottes zum 
Trotz haben sie ihm die Ehre und den Dank, die sie ihm 
schulden, nicht erwiesen. Sie befinden sich in flagrantem 
Widerspruch gerade zu der Wahrheit des Menschen, die 
mit der Wahrheit Gottes in Jesus Christus offenbart wor¬ 
den ist. Sie halten diese Wahrheit aufrührerisch darnieder 
(v. 18). Sie vertauschen sie mit der Lüge (v. 25). Ihr 
Denken ist — immer an dieser Wahrheit gemessen — im¬ 
mer in ihrem Lichte! — ein leeres Denken, ihr Herz finster 
(v. 21). Indem sie sich als Weise ausgeben, machen und 
halten sie sich selber zum Narren (v. 22). Wie und inwie¬ 
fern das alles? Paulus antwortet nicht etwa zuerst mit 
dem Hinweis auf diese und jene heidnischen Laster und 
Verirrungen, sondern zuerst mit dem Hinweis gerade auf 
das Beste, was die Heiden haben oder zu haben meinen: 
nämlich auf ihre Religion, die in einer einzigen großen 
Verwechslung zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpf 
besteht (v. 23). Wenn es von irgendwoher keine Brücke 
zum Evangelium, zur Erkenntnis des lebendigen Gottes 
gibt, dann gerade von hier aus! Menschliche Religion als 
solche, in ihrem radikalen Unterschied vom Glauben an 
Gottes Offenbarung entsteht und besteht eben immer in 
dieser Verwechslung: in dem falschen Selbstvertrauen, in 


33 


welchem der Mensch von sich aus darüber verfügen will, 
wer und was Gott ist und dessen Werk nur jene Ver¬ 
wechslung und also nur der Götzendienst sein kann. Dieses 
falsche Selbstvertrauen ist der eigentliche Gegenstand des 
Zornes Gottes. Denn in ihm besteht eigentlich der Wider¬ 
spruch des Menschen gegen Gott. Es ist es, das in Gottes 
Verurteilung des Menschen gemeint und von ihr getroffen 
wird. Entscheidend und im Grunde sogar nur es. Denn 
alles, was Paulus nun (v. 24—31) noch nennt an „na¬ 
türlichen“ und „widernatürlichen“ Sünden, nennt er ja aus¬ 
drücklich das Ergebnis einer „Dahingabe“ (v. 24, 26, 28), 
mit der Gott auf jenen Grundwiderspruch des Menschen, 
auf dessen eigentliche, die fromme Sünde, antwortet. In¬ 
dem der Mensch die fromme Sünde begeht, ist er — und 
das ist es, was den Heiden zum Heiden macht — von 
Gott sich selbst überlassen, sich selbst preisgegeben und 
daraus folgt dann alles Weitere von selbst: das ganze 
Unmoralische, zu dessen Entfaltung es nicht erst der Welt¬ 
stadt bedarf, das auch und vielleicht nur noch intensiver 
das Unmoralische der Kleinstadt, des Dorfes, der biederen 
Provinz ist. Man verstehe die ganzen Andeutungen dieser 
Verse als allerdings furchtbare Illustration — aber eben 
auch nur als Illustration — zu dem wesentlichen Satz: Die 
Heiden sind darin ehrfurchtslos und unbotmäßig und dar¬ 
um unter dem Zorne Gottes, weil sie die Wahrheit dar¬ 
niederhalten, weil sie sie mit der Lüge vertauschen, weil 
sie sich jene Verwechslung zwischen Schöpfer und Geschöpf 
erlauben und leisten, weil sie — nicht in ihrer Dummheit, 
sondern in ihrer Klugheit, nicht in ihrer Schlechtigkeit, 
sondern gerade in und mit dem Besten, dessen sie fähig 
sind, nicht in der Tiefe, sondern auf der Höhe ihrer Huma¬ 
nität — jenen Griff nach der Krone Gottes vollziehen. Weil 
sie das tun, darum dann notwendig — auf Grund der 
Reaktion Gottes selber notwendig — auch all das andere: 
die Sünde und die Sünden im populären Sinn des Be- 


34 


griffes — alles das, dessen Nichtswürdigkeit, ja Todeswür¬ 
digkeit sie selbst (v. 32) sehr wohl kennen und das sie 
nun bei sich selbst und anderen dennoch bejahen und be¬ 
jahen müssen, nachdem sie den Schöpfer als solchen prak¬ 
tisch verneint und gelästert haben. 

Man bemerke, daß Paulus die Worte „Heiden“ oder 
„Griechen“ oder „Rom“ gerade in diesem Zusammenhang 
nicht ausgesprochen hat. Daß er dahin geblickt hat, ergibt 
sich aus der Fortsetzung, in der er gegensätzlich und dies¬ 
mal ausdrücklich von den Juden reden wird und von wo¬ 
her er auf Kap. 1, 18—32 zurückblickt, so daß es deutlich 
ist: hier stehen ihm tatsächlich speziell die Heiden vor 
Augen. Es geht doch auch im Heiden einfach um den 
Menschen als solchen. Ist er mit dem Evangelium konfron¬ 
tiert, dann ist zunächst dies von ihm zu sagen, was hier 
von ihm gesagt wird: man versteht von da aus noch ein¬ 
mal, daß Paulus sich des Evangeliums wirklich nicht gut 
sdiämen konnte. 

Man kann den Gehalt alles dessen, was nun in Kap. 2, 
1—3, 20 folgt, zusammenfassen in den Satz: Die im Evan¬ 
gelium verkündigte Verurteilung des Menschen erstreckt 
sich wirklich auf alle Menschen. Gottes Zorn, wie er gerade 
in der Offenbarung seiner Liebe entbrannt ist, auf sich 
selbst zu beziehen, hat jeder Mensch allen Anlaß. Man 
beachte, wie in Kap. 3, 9 und Kap. 3, 19 das Ergebnis 
der ganzen Überlegung von Paulus selbst zusammengefaßt 
wird. 

Wir hören in Kap. 2, 1 von einem Menschen (dem Ver¬ 
treter einer ganzen Gruppe von Menschen offenbar), der 
hier sich selbst als Ausnahme geltend machen möchte. Ihm 
gilt die ganze Auseinandersetzung, die nun folgt. Man 
bemerke, daß er erst in Vers 17 ausdrücklich als Jude an¬ 
geredet werden wird. Es ist dort, wie wenn Paulus sich 
plötzlidi erhöbe, zum Fenster ginge, es öffnete und auf die 


35 


Gasse oder auf das Gäßlein hinaus redete, wo der Ge¬ 
meinde Jesu Christi gegenüber immer noch die Synagoge 
wohnt. Aber in der Sache ist es von Anfang an deutlich, 
daß eben der Jude gemeint ist: der Beschnittene, der Be¬ 
sitzer und Leser der Bücher vom Bunde Gottes mit Abra¬ 
ham, Mose und David, der Mann, der in der Erfüllung 
des Gesetzes Gottes bis zum letzten Buchstaben seinen 
Lebensinhalt gesucht und gefunden hat. Dieser Mann hält 
sich der in Kap. 1, 19 f. erhobenen Anklage gegenüber für 
entschuldigt, von dem dort beschriebenen Zorne Gottes für 
nicht betroffen. Er betet ja keine Götter und Götzen an 
neben dem wahren Gott, dem einen Schöpfer des Himmels 
und der Erde. Ihm wird man ja auch all die groben 
in Kap. 1, 24 f. angedeuteten Sünden nicht so leicht nach- 
weisen, ihn wird man also nicht gut als einen von Gott 
an seines Herzens Gelüste, an die „ehrlosen Leidenschaf¬ 
ten“ (Kap. 1, 26) Dahingegebenen bezeichnen können. Er 
steht dem Treiben der heidnischen Hauptstadt und der 
ganzen heidnischen Welt wahrhaftig fremd und überlegen, 
als selber unbeteiligter kritischer Zuschauer gegenüber. 
Ihm fällt es gar nicht ein, im Kreuze Christi sein eigenes 
Todesurteil zu vernehmen, ganz im Gegenteil: er, ver¬ 
treten durch die Stimme seiner höchsten religiösen Auto¬ 
ritäten und durch die Stimme des Volkes von Jerusalem, 
hat ja diesen Jesus ans Kreuz gebracht und damit aufs 
neue bewiesen und erklärt, daß er mit Gotteslästerung 
nichts gemein haben will, daß ein solcher aus seiner Mitte 
ausgeschlossen ist, ausgestoßen sein soll zu den Heiden, in 
die Wüste, um daselbst zu sterben, wie es einem solchen 
gehört. Eben von diesem jüdischen Menschen sagt Paulus 
jetzt, daß er sich irrt, daß gerade er unentschuldigt ist. 
Das ganze Problem der göttlichen Verurteilung des Men¬ 
schen durch das Evangelium wird offenbar erst jetzt, erst 
diesem jüdischen Menschen gegenüber ganz ernsthaft. Was 
sind schon die armen Heiden von Kap. 1, 19 f. mit ihrer 


36 


Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit neben der Gottlosigkeit 
und Ungerechtigkeit dieses Menschen? Was ist schon der 
fromme Heide, der dort, gewissermaßen präludierend, zu¬ 
nächst ins Auge gefaßt war, neben dem frommen Juden: 
dem Mann der reinen, der nicht willkürlichen, sondern 
an Gottes eigenem Wort orientierten Frömmigkeit und 
Sittlichkeit? „Daher“ sagt Paulus eben zu diesem Mann, 
will sagen: eben in dem und weil das in Kap. 1, 19 f. 
Gesagte von den Heiden gilt, eben von dem Ort her, von 
dem her es von jenen gesagt ist, gilt es — nicht nur auch 
dir, sondern gerade dir. Gerade bei dir, gerade in deiner 
Mitte, gerade in deinem Sein und Tun findet jene Offen¬ 
barung des Zornes Gottes über alle Gottlosigkeit und Un¬ 
gerechtigkeit der Menschen statt. Gerade „durch das Ge¬ 
setz“, d. h. durch das, was dich von der bösen Welt der 
Heiden in der Tat und allen Ernstes unterscheidet und 
ihr gegenüber auszeichnet, kommt es zur Erkenntnis, zur 
objektiven Darstellung und Feststellung der Sünde, die 
der Gegenstand des Zornes Gottes ist — so wird das letzte 
Wort unseres Abschnittes (Kap. 3, 20) lauten. Du weißt 
nur nicht, daß die Kritik, mit der du die andern kritisierst, 
mit der du die ganze heidnische Welt betrachtest und ver¬ 
urteilst, gerade indem sie richtig ist, — du hast sie ja 
aus dem Gesetz — vor allen anderen, vor der ganzen 
Heidenwelt dich selber trifft, darum, weil eben du der 
Mann bist, der das, was dort getan wird, nicht nur auch 
tut, sondern zuerst tut (v. 1). Daß die Heiden mit ihrem 
in Kap. 1, 19 f. geschilderten Sein und Tun unter dem Ge¬ 
richt Gottes stehen, das wissen wir und du hast wohl 
recht, wenn du das auch siehst und sagst (v. 2). Es gibt 
aber für dich viel Dringlicheres zu sehen und zu sagen. 
Das Gericht Gottes erfolgt nämlich „der Wahrheit gemäß“. 
Paulus wird in Vers 5 sagen: es ist das gerechte Gericht 
Gottes und in Vers 16 ganz ausdrücklich: es erfolgt „ge¬ 
mäß meinem Evangelium durch Jesus Christus“. Er ist 


37 


die Wahrheit, er ist die Gerechtigkeit Gottes. Das bedeutet 
nun aber nach Vers 11: Das Gericht Gottes erfolgt „ohne 
Ansehen der Person“, womit wörtlich gemeint ist: so, daß 
Gott durch jede Maske hindurch auf die wirklichen Ge¬ 
sichter der Menschen sieht, so also, daß zwischen dem kri¬ 
tisierenden Juden und den kritisierten Heiden nicht nur 
kein Unterschied besteht, vielmehr gerade der kritisierende 
Jude als der zuerst und eigentlich von Gott Verurteilte 
dasteht, so daß die Sünde der Heiden, die Sünden der 
bösen Welt eigentlich nur eine nachfolgende Illustration 
zu der Sünde des Juden sind: so gewiß Gottes Gesetz, auf 
das er sich beruft, tatsächlich in seine Hände gelegt ist, so 
gewiß seine Verheißungen und Drohungen, wie in Vers 9 
und 10 zweimal scharf betont wird, zuerst ihn, den Juden 
und dann erst, indirekt, auch den Heiden angehen. Indem 
Jesus Christus der Richter ist, sind alle Menschen — aber 
wie sollte es anders sein: zuerst gerade die Juden, unter 
denen er aufstand, nach ihrem Verhältnis zu dem Ge¬ 
setz gefragt, nach dem er richtet, dessen Vollstrecker er ist, 
sind sie also nach ihrem Verhältnis zu ihm gefragt. Damit, 
daß der Jude von dem in Kap. 1, 19 f. geschilderten Sein 
und Tun des Heiden den kritischen Abstand nimmt, der 
da allerdings am Platze ist, damit kann er selbst dem 
Gerichte Gottes, das das Gericht Jesu Christi ist, nicht zu 
entrinnen meinen: er, der eben das, was jene tun, zuerst 
und eigentlich tut (v. 3). Es ist nämlich — und das ist es, 
was er nicht übersehen, nicht verachten sollte — der 
„Reichtum der Güte und der Geduld und der Langmut 
Gottes“, es ist Gottes Gnade dem Menschen gegenüber, 
die in seinem wahren und gerechten Gericht durch Jesus 
Christus auf dem Plane ist (v. 4). Es handelt sich nicht 
um irgendeine Verurteilung des Menschen, sondern um 
seine Verurteilung durch das Evangelium, durch die gute, 
die seine Errettung verkündigende und verbürgende Bot¬ 
schaft, daß er als der alte gottlose und ungerechte Mensch, 


38 


der er ist, sterben darf, ja in Jesus Christus, in seinem Tod 
auf Golgatha schon gestorben ist, um nun, wieder in Jesus 
Christus, dem Auferstandenen, ganz anders und neu leben 
zu dürfen. Es leitet und treibt diese Verurteilung des 
Menschen zur Buße, zur Umkehr seines Denkens und 
Seins. So trifft sie ihn, den Juden, zuerst. So stellt sie 
ihn zuerst unter den Zorn Gottes. Eben an diesem 
(nicht: „auf diesen“!) wunderbar heilsamen Tag des Zor¬ 
nes und der Offenbarung des gerechten Gerichts Got¬ 
tes weiß aber der Jude — und er verkennt und verachtet 
offenbar den gnadenvollen Sinn dieses Tages, des Tages 
Jesu Christi! — nichts Besseres zu tun, als sich selbst 
„Zorn anzuhäufen“ (wörtlich: Zorn wie einen Schatz zu 
sammeln) — damit nämlich, daß er sich begnügt, immer 
wieder zu sehen und zu sagen, wie schlimm es die Heiden 
treiben, wie ganz anders er selbst ihnen gegenüber dasteht 
(v. 5). Der Zorn Gottes, Gottes Urteil über den Menschen, 
daß er sterben muß, um zu leben, ist nämlich nicht zum 
Anhäufen, nicht zu einer selbständigen Betrachtung da, 
weder sofern er den Heiden, noch sofern er den Juden an¬ 
geht. Und wer ihn im Blick auf andere anhäuft, der häuft 
ihn eben damit für sich selber an. Wer im Blick auf die 
anderen beim Todesurteil stehen bleibt, der besiegelt eben 
damit sein eigenes. Gottes Urteil müßte zu Ende gehört 
werden, wie es lautet: daß wir sterben müssen, um leben 
zu dürfen — als Urteil der Güte, Geduld und Langmut 
Gottes über alle menschliche Gottlosigkeit und Ungerech¬ 
tigkeit. Der Jude will es jedenfalls im Blick auf die ande¬ 
ren nicht zu Ende hören und eben damit offenbart er die 
Verstocktheit und Unbußfertigkeit seines Herzens ihm ge¬ 
genüber und bleibt er selber unter ihm stehen als unter 
seinem Todesurteil. Denn (v. 6) „Gott vergilt einem Jeg¬ 
lichen nach seinen Werken“. Vor dem Richterstuhl Jesu 
Christi empfangen wir genau das, was uns zukommt, je 
nach dem wir in unserem Sein und Tun solche sind, die 


39 


sein Urteil zu Ende oder eben nicht zu Ende hören wol¬ 
len, um daraufhin dann auch seinen Anfang: daß wir als 
Sünder unter Gottes Zorn stehen und sterben müssen, 
restlos ernst zu nehmen und also eben auf jenes selige 
Ende hin ernstlich Buße tun. In unserer Entscheidung 
der offenbaren Gnade Gottes gegenüber stehen und fal¬ 
len wir damit, daß wir sie Gnade, unverdiente Wohltat 
Gottes für andere und für uns selbst sein oder eben nicht 
sein lassen. Der Jude beweist mit seiner Kritik der Heiden, 
daß er nicht Gnade sein lassen will und daran wird gerade 
er, er zuerst, zu Schanden kommen. Das ist seine Verken¬ 
nung Gottes, sein Ungehorsam, dem gegenüber sich aller 
Götzendienst und alle Unsittlichkeit der frommen und un¬ 
frommen Heiden wirklich nur wie ein schwaches Spiegel¬ 
bild ausnehmen. Wie das ist, wenn Gott einem Jeglichen 
vergilt nach seinen Werken, das wird in Vers 7—10 ent¬ 
faltet im Lichte der Feststellung von Vers 11: daß diesem 
Kriterium Gottes gegenüber keine Maske — und die ganze 
vermeintliche Sonderstellung der Juden ist eine Maske — 
tauglich ist, daß Gott (v. 16) gerade bei seiner Beurteilung 
der Werke des Menschen ihre Herzen erforscht. Vers 7—10 
variieren den einen Gedanken: zuerst der Jude, dann 
auch der Grieche ist dem Zorne Gottes, ist seinem Urteil, 
daß der Mensch des Todes schuldig ist (Kap. 1, 32) ver¬ 
fallen, sofern er das böse Werk der Unbußfertigkeit, sofern 
er nicht das gute Werk der Buße wählt und tut. Denn 
darum geht es nach dem ganzen Zusammenhang und 
nach dem Wortlaut: es würde sich darum handeln, der 
Wahrheit gehorsam zu werden statt der Ungerechtigkeit 
(v. 8). Es würde sich also darum handeln, Gottes Gnade 
in seinem Gericht als Gnade anzunehmen und eben dar¬ 
um auch sein Gericht sich gefallen zu lassen, darum Buße 
zu tun. Es würde sich handeln um die Beharrlichkeit in 
diesem guten Werk als dem rechten Weg zur Herrlichkeit, 
zur Ehre, zur Unvergänglichkeit (v. 7). Es würde sich han- 


40 


dein um die Treue des Glaubens, der in Gottes gerechtem 
Urteil das Wort seiner Barmherzigkeit hört und annimmt. 
Wer dieses Werk täte, der würde Herrlichkeit, Ehre und 
Frieden tatsächlich erlangen (v. 10). Wer aber dieses Werk 
nicht tun will, wer jene Streitlust (vielleicht: Lohnarbei 
tergesinnung) an den Tag legt, die die Haltung der Juden 
den Heiden gegenüber kundgibt und in dieser Streitlust 
die Unbußfertigkeit, die keine Gnade begehrt und die sich 
darum auch nicht beugen mag, was kann der von diesem 
Richterstuhl anderes erwarten, als eben Zorn und Grimm, 
Trübsal und Angst (v. 8—9)? Er hat das alles schon ge¬ 
wählt, er hat sich selbst schon gerichtet, indem er in dieser 
Verfassung vor diesen Richterstuhl gestellt ist. 

Warum hilft es dem Juden nichts, sich darauf zu be¬ 
rufen, daß er und er allein doch das Gesetz Gottes habe, 
kenne und halte? Es hilft ihm nach Vers 12—16 darum 
nichts, weil Gott — der Gott, der jetzt in Jesus Christus 
sein Urteil über den Menschen spricht — die Herzen er¬ 
forscht. Daraus folgt, daß die, die das Gesetz haben, und 
die, die es nicht haben, vor derselben Frage stehen: Tun 
sie oder tun sie nicht, was gerade das Gesetz fordert? Tun 
sie es nicht, so sind sie mit dem Gesetz ebenso verloren 
wie ohne das Gesetz (v. 12). Es geht im Gericht Jesu 
Christi nicht darum, ein Hörer, sondern ein Täter des Ge¬ 
setzes zu sein (v. 13). Und es gibt (v. 14—15) Täter des 
Gesetzes, die durchaus nicht im Sinn der Juden auch seine 
Hörer sind. Es gibt nämlich Menschen, denen sein Gesetz 
in wunderbarer Erfüllung der Verheißung von Jer. 31, 33 
in ihr Inneres gelegt und in ihre Herzen geschrieben, ja 
denen er in Erfüllung von Hesek. 11, 19; 36, 26 ein neues 
Herz gegeben hat, so daß sie nun sich selber Gesetz sind 
und in ihrer menschlichen Natur, ohne das Gesetz zu haben, 
tun, was das Gesetz fordert, deren Gewissen die Stätte ist, 
da die Verbote und Gebote des Gesetzes mit ihren Anklagen 
und Rechtfertigungen sich gegenüberstehen in Form ihrer 


41 


eigenen Gedanken: obwohl sie das Gesetz nicht haben, ob¬ 
wohl sie von Natur Heiden sind. Paulus wird in Vers 26 f. 
nochmals auf diese merkwürdigen Täter des Gesetzes, die 
es doch so wie die Juden nicht gehört haben, auf diese 
Beschnittenen ohne Beschneidung zurückkommen. Es war 
schon im Blick auf diese andere Stelle in diesem Kapitel, 
aber auch im Blick auf jene Prophetenworte, auf die hier 
offenbar Bezug genommen ist, sehr töricht, wenn man ge¬ 
meint hat, daß Paulus in Vers 14—15 von irgendwelchen 
Heiden geredet habe, die auf Grund eines ihnen in die Her¬ 
zen geschriebenen sittlichen Naturgesetzes das Gesetz fak¬ 
tisch erfüllten. Zu dem, was in Kap. 1,19—32 über das Sein 
und Tun der Heiden gesagt ist und zu Kap. 3, 9 und 3, 19 
würde das offenbar ebenso schlecht passen wie die Deutung 
von Kap. 1, 19—21 auf eine den Heiden eigene natürliche 
Gotteserkenntnis. Die Heiden, die Paulus in Vers 14—15 den 
Juden gegenüberstellt, sind ganz einfach die Yleidencbristen 
(Paulus hat sie z. B. in Kap. 11, 13; 15, 9 ebenfalls in die¬ 
ser verkürzenden Weise angeredet), denen durch Gottes 
Wundertat in Jesus Christus eben das widerfahren ist, 
was in jenen Prophetenworten dem Volk Israel zugesagt 
war, denen Gott seinen Heiligen Geist und damit ein 
neues Herz gegeben hat, das Gottes Willen erkennt, 
und zwar so erkennt, daß sie ihn nun auch tun und 
vollstrecken dürfen, so daß sie jetzt — eine allerdings un¬ 
geheuere Umkehrung — den Israeliten, sofern diese nicht 
denselben Weg geführt wurden, sofern sie noch da drüben 
in der widerstrebenden Synagoge versammelt sind, gegen¬ 
überstehen als Bestätigung der Anklage: gerade dort wird 
Gottes Gesetz zwar gelesen, aber nicht getan, weil dort das 
gute Werk der Buße nicht getan, weil dort die Gnade nicht 
als Gnade gelten gelassen, sondern gelästert wird. 

Es hilft aber, so wird jetzt in Vers 17—24 weiter gezeigt, 
dem Juden auch das nichts, daß er sich um das geschrie¬ 
bene Gesetz Gottes, um das Halten der 10 Gebote insbe- 


42 


sondere zweifellos bemüht, daß er den „sittlich-ethisch¬ 
moralischen Standpunkt“ (wie in Vers 17—20 ausführlich 
beschrieben) in Theorie und Praxis zweifellos einnimmt 
und als solchen eindeutig sichtbar macht. Es ist wohl Iro¬ 
nie in diesen Worten, aber doch nicht nur Ironie, sondern 
ernste Anerkennung der den Juden in der heidnischen 
Hauptstadt und in der heidnischen Welt überhaupt tat¬ 
sächlich gegebenen Stellung und Mission. Israel ist ja nach 
so manchem Wort des Alten Testamentes das, als was es 
hier beschrieben wird: „ein Führer der Blinden, ein Licht 
derer, die in der Finsternis sind, ein Lehrer der Unmündi¬ 
gen“. Es hat in seinem Gesetz tatsächlich „die Verkörpe¬ 
rung (die Gestalt) der Erkenntnis und der Wahrheit“. Aber 
doch nur deren Gestalt und bei allem Eifer, in dieser Ge¬ 
stalt zu leben, nicht die Erkenntnis und die Wahrheit sel¬ 
ber. Denn die Erkenntnis und die Wahrheit, der Inbegriff 
und die Summe des Gesetzes ist (vgl. Kap. 10, 4) Jesus 
Christus. In ihrem Verhältnis zu ihm aber sind die Juden 
nidit nur keine Täter des Gesetzes (v. 12—16), sondern 
seine Übertreter (v. 23), brechen sie alle 10 Gebote, er¬ 
füllen sie also jene erhabene Funktion Israels in der Welt 
gerade nicht, machen sie Gott nicht Ehre, sondern bereiten 
sie ihm — und das ist in Hesek. 36, 20 von ihnen ge- 
weissagt — Schande unter den Heiden. Man muß die 
Schilderung in Vers 21—22 wohl wörtlich, aber nicht etwa 
als eine Schilderung besonderer Greueltaten oder schlech¬ 
ter Gewohnheiten verstehen, die Paulus dem zeitgenössi¬ 
schen Judentum vorzuwerfen hatte. Diebe, Ehebrecher, 
Tempelschänder sind die Juden in dem, was sie mit Jesus 
Christus gemacht haben an dem Tag von Golgatha und 
nun trotz seiner Auferstehung immer noch mit ihm ma¬ 
chen in der Ablehnung der frohen Botschaft von der in 
ihm erschienenen Gnade in der Verfolgung der diese Gnade 
preisenden Gemeinde. Wer hat seinen Messias und mit 
ihm seinen Gott den Heiden ausgeliefert? Und wer wieder- 


43 


holt das immer wieder? Daß der Jude sich dessen schuldig 
gemacht hat und noch macht, das raubt ihm — und ihm, 
wie gerade hier ersichtlich, zuerst — die Möglichkeit, vor 
Gott eine Ehre zu haben, die ihn gegenüber der alle Men¬ 
schen angehenden Anklage entschuldigen würde. 

Und nun hilft dem Juden (v. 25—29) auch seine Be¬ 
schneidung nichts und nichts seine damit physisch bezeich- 
nete Aussonderung von den Heidenvölkern. Denn die Be¬ 
schneidung bezieht sich auf das Gesetz. Sie bezeichnet die 
Aussonderung zum Halten des Gesetzes. Wird das Gesetz 
aber nicht gehalten — und es wird von den Juden, wie 
gezeigt, faktisch nicht gehalten, sondern gebrochen — fällt 
also jene Aussonderung faktisch dahin, befinden sie — 
und sie zuerst — sich dort, wo sich die Heiden befinden: 
als Gottlose und Ungerechte unter dem Zorne Gottes, dann 
kann daran auch das Zeichen der Beschneidung nichts 
ändern (v. 25). Wieder sind dann die Juden faktisch be¬ 
schämt durch die Existenz von Unbeschnittenen, welche, 
indem sie Buße tun und glauben, die Forderungen des 
Gesetzes halten und erfüllen und deren Unbeschnittenheit 
ihnen daraufhin als Beschnittenheit angerechnet wird, wel¬ 
che also daraufhin in Gottes Augen und damit in Wirk¬ 
lichkeit Israels und aller Verheißung Israels teilhaftig sind 
(v. 26). Die Existenz dieser von Natur Unbeschnittenen — 
Paulus redet wieder von den Heidenchristen — wiederholt 
jetzt das Urteil über die Beschnittenen, die es offenbar nur 
äußerlich, nur dem Buchstaben nach sind (v. 27). Denn 
wer ist eigentlich — vor Gott und also in Wirklichkeit — 
ein Jude, ein Kind Abrahams, ein Angehöriger des Volkes 
des Mose, ein Erbe der Verheißungen Davids? Nicht der, 
der es nach Rasse und Blut und nicht der, der es auf 
Grund der an seinem Leibe vollzogenen Beschneidung, 
kurz, nicht der, der es „offenkundig“ in den Augen und 
in der Meinung der Menschen ist (v. 28), sondern der, der 
es ist in der Verborgenheit des Herzens, in die Gott sieht 


44 


und im Blick auf die Gott richtet und sondert zwischen 
Reinen und Unreinen, zwischen denen, die die Seinen und 
denen, die nicht die Seinen sind. Der Jude würde als 
solcher zu loben sein, der in jener Verborgenheit nicht 
menschliches sondern göttliches Urteil lobenswert finden 
und tatsächlich loben würde (v. 29). Aber das würde ja 
der Christ sein — gleichviel, ob aus den Heiden oder aus 
den Juden: der Christ, der Gottes Gnade preist und dar¬ 
um sein Gericht annimmt, darum vor der göttlichen Ver¬ 
urteilung nicht auf der Flucht ist, darum sich ihr gegen¬ 
über nicht zu retten sucht, sondern sich ihr preisgibt, um 
sich der Barmherzigkeit dessen zu rühmen, der ihn zum 
Tode verurteilt. Der Jude, der sich entschuldigen will, 
weil er sich für eine Ausnahme hält, tut das nicht. Eben 
darum fehlt ihm jenes Lob und eben darum ist und bleibt 
gerade er gänzlich unentschuldigt (v. 1). 

Wir haben es in der Fortsetzung Kap. 3, 1—8 mit einer 
Reihe von Bemerkungen zu tun, die gewissermaßen Zwi¬ 
schenrufe, die sich hier einstellen könnten und zur Zeit 
des Paulus wohl tatsächlich alle irgendwie eingestellt haben, 
nebst den kurzen Antworten des Paulus zur Sprache 
kommen, wobei es, bis Vers 9 der Faden wieder aufge¬ 
nommen wird, kaum möglich ist, einen eigentlichen Ge¬ 
dankengang aufzuzeigen. 

Vers 1—2: Hat denn das Judentum und die Beschnei¬ 
dung gar keinen Wert, keine reale und bleibende Aus¬ 
zeichnung? Paulus antwortet, daß dies das größte Mi߬ 
verständnis wäre. Die Juden sind und bleiben das Volk, 
dem die Worte, die Offenbarungen Gottes, bis und mit der 
Person Jesu Christi selbst anvertraut wurden und anver¬ 
traut bleiben, bei dem also die Heiden, indem sie zum 
Glauben kommen, immer nur gleichsam zu Gaste sein 
können. Es bleibt dabei: „Das Heil kommt von den Juden c< 
(Joh. 4, 22). 


45 


Vers 3—4: Bedeutet die Tatsache, daß einige (es sind 
sehr viele!) der Juden jetzt nicht glauben, nicht eine Auf¬ 
hebung der Treue Gottes? Warum hat der treue Gott 
nicht einfach alle Glieder seines Volkes zu Getreuen ge¬ 
macht? Paulus antwortet: Die Treue Gottes kann nicht 
aufgehoben werden. Sie ist aber die Treue seiner Wahr¬ 
heit, d. h. seiner Offenbarung, der gegenüber jeder Mensch 
als solcher als ein Blinder oder vielmehr aktiv: als ein 
Lügner dasteht. Gott ist also keinem verpflichtet, an kei¬ 
nen gebunden, auch nicht an die Glieder seines Volkes. 
Gibt es in diesem Volk Widerspruch gegen ihn, Abfall von 
ihm, dann zeigt sich darin nur um so gewaltiger, daß es 
seine Gnade ist, wenn es auch Glaubende gibt, daß er in 
seinem Richten gerade sich selbst — nur danach kann doch 
gefragt werden! — treu bleibt, sofern es immer nur seine 
Barmherzigkeit sein wird, deren sich die durch ihn Ge¬ 
rechtfertigten rühmen können (Paulus wird auf diese zwei 
ersten Fragen in den Kapiteln 9—11 ausführlich zurück¬ 
kommen). 

Vers 5—6: Ist es aber so, wie Vers 3—4 behauptet: 
warum und mit welchem Recht zürnt dann Gott über 
die, die ihm den Gehorsam des Glaubens nicht leisten? 
Paulus antwortet: Gott ist und bleibt der Weltrichter, ob¬ 
wohl und indem er auch und gerade die Ungerechtigkeit 
der Menschen dazu dienen läßt, seine Gerechtigkeit als 
solche, seine Treue gegen sich selbst und also seine Gnade 
zu offenbaren. Tötet er, um lebendig zu machen, so kann 
es doch nicht anders sein, als daß er immer tötet, um leben¬ 
dig zu machen. Wer dürfte und könnte sich gegen Gott 
auf Gott berufen? 

Vers 7—8: Eine verschärfte Wiederholung der voran¬ 
gehenden Frage: Also die Wahrheit, die Offenbarung 
Gottes wird erhöht, sie triumphiert gerade durch das 
Mittel der menschlichen Lüge, von der sie sich in der 
Rechtfertigung der Glaubenden strahlend abhebt? Pau- 


46 


lus hat in Kap. 5, 20 tatsächlich geschrieben: „Wo die 
Sünde groß wurde, da eben ist die Gnade übergroß ge¬ 
worden.“ So dient also meine Lüge diesem Übergroßwer¬ 
den, diesem Strahlen der Gnade und also der Ehre Gottes? 
Warum stehe ich dann unter dem Gericht? Haben die 
nicht recht, denken die nicht konsequent, die daraus ma¬ 
chen: „Lasset uns Böses tun, damit Gutes daraus werde?“ 
Die Antwort des Paulus ist gerade hier so kurz wie die 
Frage lang ist. „Derer (die so reden) Verdammnis ist als 
gerechte (Verdammnis) fällig“. Warum so kurz? Weil man 
Narren und ganz besonders konsequenten Narren nur 
kurz antworten kann und soll. Und in jener langen Frage 
ist Alles Narrheit, Alles verkehrt: Das, was Paulus in 
dem ganzen Abschnitt das Böse genannt hat, die Unbu߬ 
fertigkeit, die Verwerfung Jesu Christi, der Unglaube, das 
kann man offenbar nicht tun, damit Gutes daraus werde, 
damit darin die Gnade triumphiere! Und wer umgekehrt 
den Triumph der Gnade will, der wird offenbar das Gute 
und nicht das Böse wollen, der wird nicht lügen, sondern 
Buße tun und damit der Wahrheit gehorsam sein. Was 
Gott mit der Lüge und mit dem Lügner macht, ist seine 
Sache. Wir aber sind von Gott nicht aufgerufen, zu lügen, 
sondern der Wahrheit und so ihm die Ehre zu geben. 

Und nun die Zusammenfassung des Ganzen in Vers 9—20: 
Es gibt dem Gericht Gottes gegenüber keinen Vorzug 
eines Menschen. Es sind Juden und Heiden, es sind die 
Menschen als solche alle unter der Sünde, d. h. unter der 
Herrschaft, unter der sie Gegenstand des Zornes Gottes 
sein und bleiben müssen. Das ist es, was das Ganze, gerade 
in den Händen der Juden befindliche Alte Testament, das 
nun in Vers 11—18 in einer langen Reihe von einzelnen 
Worten zur Sprache kommt, zu dieser Sache zu sagen hat. 
Man muß zum Verständnis aller dieser Sprüche bedenken, 
daß Paulus in ihnen nicht nur diesen und jenen Prophe- 


47 


ten und Psalmisten, sondern überall Jesus Christus selber 
reden hört als den, der vom Alten Testament bezeugt ist 
und der im Alten Testament durch die Stimme der Väter 
Zeugnis von sich selber gibt. Er richtet. Sein Gesetz ist das 
Gesetz, von dem Vers 19 sagt, daß es zu allen rede, die 
unter dem Gesetz sind, d. h. an die es sich richtet, denen es 
begegnet. Es begegnet im Evangelium der ganzen Welt und 
eben darum und insofern wird durch das Gesetz, genauer 
gesagt: durch den Richter, der das Gesetz anwendet und 
vollzieht, jeder Mund gestopft, die ganze Welt vor Gott 
schuldig erklärt. Vor dem Gesetz Gottes als solchem und 
für sich steht nach Vers 20 alles Fleisch, die ganze Mensch¬ 
heit ungerechtfertigt da mit allen ihren Werken. Eine 
andere, eine radikal erneuerte Menschheit müßte das sein, 
die mit ihren Werken vor Gott und seinem Gesetz gerecht¬ 
fertigt dastehen würde. Paulus hat in Kap. 2 (v. 14—15 
und 26—29) bereits angedeutet, daß es eine solche neue 
Menschheit gibt und wo sie zu finden ist. Sieht er von dieser 
Möglichkeit, vielmehr von dieser neuen Wirklichkeit (Kap. 
3, 21 f.!) ab, dann muß es dabei bleiben: was durch das Ge¬ 
setz, was aus dem Evangelium selbst, sofern es Gottes Ge¬ 
setz ist, folgt, das ist (v. 20) die Erkenntnis der Sünde: die 
Offenbarung der göttlichen Verurteilung des Menschen, der 
uns als solcher zu unterwerfen uns zu unserem Heil ge¬ 
boten und zu unserem reichen Trost erlaubt ist. 


48 


3,21—4, 25 


Das Evangelium als göttliche Gerecht¬ 
sprech ung der Glaubenden 


Uns ist es zu unserem Heil erlaubt und zu unserem 
reichen Trost geboten, uns der göttlichen Verurteilung zu 
unterwerfen, weil es ja das Evangelium ist, das uns sol¬ 
chen Zorn Gottes offenbart. Es ist ja dieser Zorn Gottes 
doch nur die harte, bittere Schale, in der wir Gottes Rechts¬ 
entscheidung freilich entgegennehmen müssen — und nun 
doch auch wirklich dürfen! Denn für die, die sie entgegen¬ 
nehmen, ist gerade sie das allmächtige Werk ihrer Er¬ 
rettung (Kap. 1, 16). Wozu die göttliche Verurteilung des 
Menschen in Kap. 1, 18—3, 20, jene Anklage gegen Alle 
und Jeden (Kap. 3, 9), jenes Verstopfen jedes rechthaberi¬ 
schen Mundes (Kap. 3,19), jene Aufdeckung der Sünde durch 
die Anwendung des Gesetzes Gottes (Kap. 3, 20)? Was will 
der Richter Jesus Christus, indem Juden und Griechen 
ohne Ausnahme vor seinem Stuhl solches widerfährt? Und 
was wollte Paulus, indem er in jenem ersten Teil des 
Römerbriefes an dieses Gericht erinnerte? Es geht, so wer¬ 
den wir nun in der Fortsetzung hören, gerade in diesem 
Bericht nicht um die Verwerfung der Menschen, sondern 
wirklich um ihre Errettung, um Heil und Seligkeit. Um sie 
zu empfangen, stehen wir vor diesem Richter und um uns 
zu diesem fröhlichen Empfangen einzuladen und aufzu¬ 
fordern hat Paulus uns an das Gericht dieses Richters er¬ 
innert. 

Aber wie? Haben denn die Menschen ihre Verwerfung 
nicht verdient? Ist ihre Verurteilung nicht vollzogen? Ist 


49 


etwas anderes als die Vollstreckung des Zornes Gottes in 
ihrer Bestrafung jetzt noch zu erwarten? Wird Paulus 
von etwas anderem als von Tod und Hölle (Kap. 1, 32) 
jetzt noch reden können? Oder war jene Verurteilung 
vielleicht so ernsthaft gar nicht gemeint? Ist sie irgendwie 
zurückgenommen? Hat Gott nachträglich mit sich reden, 
sich etwas abmarkten lassen aus irgend einer launischen 
Güte? Besteht darin die Liebe Gottes: daß es so gefährlich 
nicht ist mit seinem Zorn, wie es zuerst wohl aussehen 
mag, daß er in Wirklichkeit auch anders kann? Sollte das 
das Geheimnis des Evangeliums sein, der gute Kern in der 
harten Schale: es ist nicht so gefährlich, Gott kann auch 
anders? 

Die Fortsetzung unseres Briefes redet nun aber weder 
davon, wie die Menschen von Gottes Zorn verdientermaßen 
verzehrt und vernichtet werden, noch von einer solchen in 
ihrer Weichheit sehr verdächtigen Liebe und Güte Gottes. 
Sie redet vielmehr weiter und nun erst recht von Gottes 
Rechtsentscheidung. Man merke wohl: nicht von ihrer Sus¬ 
pendierung, nicht von einer Amnestie, nicht von einem 
Gnadenerlaß, sondern von Gottes Rechtsentscheidung, so 
wie sie wirklich vollzogen ist und vollständig lautet und 
wie der Mensch sie auch hören und verstehen darf, 
wenn er sie nur annimmt, wenn er sie nur wirklich auf 
sich bezieht, sich selbst nicht für eine Ausnahme hält, den 
sie nicht angehe. Sie lautet nämlich, wie Jeder hören kann, 
der sie vollständig hört und vollständig auf sich bezieht — 
Jeder, der glaubt, hat Paulus schon in Kap. 1, 17 gesagt 
und wird er jetzt wieder sagen — dahin, daß er nicht ver¬ 
dammt, auch nicht irgend einer bloßen Amnestie teilhaftig 
gemacht, sondern von Gott freigesprochen, für unschuldig 
erklärt und also gerecht gesprochen ist. Weil gerecht ge¬ 
sprochen, darum und damit in den Frieden mit Gott ver¬ 
setzt, so wird dann in Kap. 5, 1 f. weiter gezeigt werden. 
Zunächst aber ist dies zu verstehen: gerecht gesprochen 


50 


in Gottes strengem, wahrhaftigem, die Herzen erforschen¬ 
dem und kein Ansehen der Person kennendem Gerichte. 
Es war die ganze lange, harte Stelle in Kap. 1, 18—3, 20 
eine einzige Erklärung der Tatsache: Du bist der Mann! 
— der Mann nämlich, der von Gottes Rechtsentscheidung 
betroffen ist und sich selbst als betroffen erkennt, wer es 
also annimmt: Ja, ich bin der Mann!, der soll jetzt weiter 
hören: Du bist der Mann, den Gott gerecht gesprochen 
hat! Und der soll jetzt wieder antworten: Ja, ich bin dieser 
Mann!, ich darf es und ich will es auch sein. Daß das der 
gute Kern in der harten Schale ist, davon redet der Ab¬ 
schnitt in Kap. 3, 21—4, 25. Er redet vom Evangelium als 
der göttlichen Gerechtsprechung der Glaubenden. 

Der Beginn von Vers 21 erinnert uns sofort an Kap. 1,17: 
Gottes Gerechtigkeit ist offenbar gemacht. Aber der grie¬ 
chische Ausdruck, den Paulus hier braucht, ist ein anderer, 
speziellerer, der weniger von dem Enthülltwerden als von 
dem Sichtbarwerden eines bis jetzt Verborgenen redet. Und 
Paulus fügt ja auch im Unterschied zu Kap. 1, 17 hinzu: 
„Ohne Zutun (eigentlich: außerhalb) des Gesetzes“. Und er 
sagt am Anfang: „Jetzt aber“. Dieses „Jetzt aber“ stellt 
die in Kap. 1,18—3,20 beschriebene Offenbarung der gött¬ 
lichen Rechtsentscheidung in Gegensatz eben zu der fal¬ 
schen Meinung, die nach jener Schilderung aus einem 
falschen jüdischen oder heidnischen Denken sich erheben 
könnte: als ob jetzt nur entweder unsere Verdammung 
oder ein weichliches Verzeihen Gottes Platz greifen 
könnte. Nein, jetzt ist gerade Gottes Rechtsentscheidung 
als solche als Akt seiner Gerechtigkeit, der nun doch nicht 
unsere Verdammnis bedeutet, sichtbar geworden. Man be¬ 
merke, wie in Vers 25—26 daran festgehalten wird und 
wie der Begriff der Gerechtigkeit den Schluß des dritten 
Kapitels und dann das ganze vierte Kapitel auch sonst 
beherrscht: es geht um den Erweis der Gerechtigkeit Got- 


51 


tes, aber eben um ihren Erweis , um das Sichtbarwerden 
des wirklichen vollständigen Inhalts seiner Rechtsentschei¬ 
dung, durch das jene falschen Meinungen zum vornherein 
zunichte gemacht werden. Die Worte „außerhalb des Ge¬ 
setzes“ stecken zunächst einmal einen leeren Raum ab. 
Was sie positiv bedeuten, kann erst nachher sichtbar wer¬ 
den. Blicken wir voraus auf Vers 31, so ist das ganz 
sicher: sie können nicht bedeuten, daß das Gesetz aufge¬ 
hoben, zerbrochen, außer Kraft gesetzt ist. Wenn irgend¬ 
wo, so sagt Paulus dort, dann wird das Gesetz durch das, 
was wir jetzt von Gottes Rechtsentscheidung auf Grund 
seiner Offenbarung zu sagen haben, in Kraft und Geltung 
gesetzt. Wir sollen aber — und das sagen die Worte „außer¬ 
halb des Gesetzes“ — um diese Rechtsentscheidung zu 
verstehen, nicht auf das Gesetz sehen, d. h. nicht auf das, 
was Gott von Menschen will und fordert und nicht auf 
unser Tun, mit welchem wir alle es nach Kap. 1, 18—3, 20 
nicht erfüllen. Wir sollen das, was das Evangelium in 
Einklang mit Mose und den Propheten hinsichtlich des 
Gesetzes allerdings auch zu sagen hat, (und also zu sagen 
hat von unserer notwendigen Verurteilung!), als Zeugnis 
verstehen, durch das wir auf den Kern der Sache, wie 
in Kap. 1, 18—3, 20 geschehen ist, hingeleitet, vorbereitet, 
durch das wir zum Hören des vollen Gehaltes jener Rechts¬ 
entscheidung aufgerufen werden. Was aber ist dieser ihr 
eigentlicher voller Gehalt? Es ist (v. 22) die durch den 
Glauben an Jesus Christus , d. h. durch die Botschaft von 
diesem Glauben und für den Glauben an diese Botschaft 
offenbarte und wirksame und so zu jedem Glaubenden 
kommende Rechtsentscheidung. Auf ihn und nicht auf das, 
was Gott von uns verlangt und fordert, noch auf unser 
dieser Forderung so gar nicht entsprechendes Tun sollen 
wir sehen, um sie zu verstehen. Wir sollen auf den Richter 
selbst sehen. Wollten wir von ihm weg, an ihm vorbei¬ 
sehen, dann bekämen wir nur das zu sehen (v. 23), was 


52 


nach Kap. 1, 18—3, 20 freilich unleugbare Wirklichkeit ist: 
„Da ist kein Unterschied, sie alle haben gesündigt und er¬ 
mangeln der Ehre vor Gott“. Aber wir sollen eben nicht 
an ihm vorbei, wir sollen nicht auf das Gesetz sehen, sonst 
würden wir ja Gottes Rechtsentscheidung gerade nicht so 
annehmen und von dorther, woher sie kommt auf uns be¬ 
ziehen, wie sie lautet. Wollten wir auf das Gesetz sehen, 
so wären wir nach Kap. 1,18—3, 20 noch einmal zu fragen: 
ob wir es noch nicht verstanden haben, daß wir verurteilt, 
daß wir gar nicht in der Lage sind, dem Gesetz ins Auge 
zu sehen und uns an ihm zu messen? Wir sollen und 
dürfen also statt dessen „außerhalb des Gesetzes“ den 
Richter ansehen und aus seinem Munde hören, daß eben 
die, die laut des von ihm verkündigten und angewendeten 
Gesetzes Sünder sind und vor Gott keine Ehre haben 
(v. 24), indem sie sich an ihn halten, indem sie an ihn 
glauben, gerecht gesprochen sind. Das ist nun allerdings 
reines Geschenk, nicht ihr Verdienst — wo sollten sie ein 
solches schon her haben? — sondern Gottes Gnade: das freie 
Werk göttlicher Huld und Gunst, das sie in keiner Weise 
provoziert, auf das sie keinerlei Anspruch haben. So lügt 
Gott, indem er sie gerecht spricht, da sie es doch nicht sind? 
Nein, gerade in diesem Wort der Gnade redet er die Wahr¬ 
heit, übt er strengste Gerechtigkeit. Sie werden nämlich 
darum gerecht gesprochen, weil sie in Jesus Christus er¬ 
löst, d. h. weil sie durch ihn von der ganzen Herrschaft 
der Sünde, unter der sie laut des Gesetzes stehen und von 
dem ganzen Fluch, der sie deshalb laut des Gesetzes tref¬ 
fen müßte, ein für allemal losgekauft sind: wie Sklaven, 
für deren Befreiung bezahlt ist und auf die ihr alter Herr 
deshalb keinen Anspruch mehr hat. Denn was ist gesche¬ 
hen? Eben der Richter, vor dem sie alle zur Verantwortung 
gezogen sind, vor dem sie alle als Übertreter und Ver¬ 
lorene dastehen, ist (v. 25), indem er als Mensch sein Blut 
vergossen, sein Leben dahingegeben hat, zum Versöhnungs- 


53 


opfer geworden für das ganze Volk derer, die an ihn 
glauben. Er hat die ihrer Verurteilung notwendig folgende 
Strafe, er hat die ganze Auswirkung des Zornes Gottes 
auf sich genommen. Sie hat also in seinem Tode bereits 
ihren rechtmäßigen Lauf gehabt. Gottes Geduld gegenüber 
der Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit der Menschen hat in 
seinem Tode ihr Ende und Ziel erreicht. Gott hat mit sei¬ 
nem Tode mit den Sündern den nötigen zornigen Schluß 
gemacht. Eben damit ist aber die Schuld — nicht die seinige 
aber die seines Volkes, für das er als Opfer eingetreten 
ist — getilgt, so daß es in diesem seinem Volk keinen Un¬ 
gerechten mehr gibt. Die sein Volk sind — und das sind 
die, die an ihn glauben—, sind gerecht, sind unschuldig, sind 
rein. Denn mit ihrer Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit, mit 
ihnen als Sündern ist im Tode des Richters Jesus Christus, 
vor dem sie stehen und dessen Urteil sie annehmen, tat¬ 
sächlich Schluß gemacht. Daß sie sein Volk sein und im 
Glauben an ihn sein Urteil annehmen dürfen, das ist un¬ 
verdient, das ist Geschenk, das ist Gnade. Aber daß Gott 
sie gerecht spricht, das ist das Wort lauterster Wahrheit, 
das ist der Akt seiner strengsten Gerechtigkeit. Es ist, wie 
wenn Paulus das (v. 26) fast nicht stark genug betonen 
könnte: es geht um den Erweis, um die Sichtbarmachung 
der Gerechtigkeit Gottes in dem, was das Evangelium der 
Gegenwart — und als Begründung einer ganz neuen ein¬ 
zigartigen Gegenwart! — zu sagen hat. Als der Gerechte 
handelt Gott, indem er den gerecht spricht, der „aus dem 
Glauben“ an Jesus ihm gegenübertritt, der „aus dem 
Glauben“ an den für ihn gerichteten Richter zur Unter¬ 
werfung unter dessen Urteil, zu der Anerkennung: Ich 
bin der Mann! gekommen ist. Um die Wiederholung, Er¬ 
klärung und Erläuterung der in Vers 21—26 ausgespro¬ 
chenen christlichen Erkenntnis von unserem in Jesus Chri¬ 
stus geordneten Rechtsverhältnis zu Gott wird es nun im 
ganzen Römerbrief gehen. Daß uns im Glauben an Jesus 


54 


Christus dieser Rechtsgrund unserer Existenz vor Gott 
und damit Alles, wirklich Alles gegeben ist, das ist es, 
was Paulus das Evangelium nennt. 

Was als übriger Inhalt des Abschnittes Kap. 3, 21—4, 25 
folgt, steht unter einer doppelten Absicht. Paulus wird 
sich darüber erklären, daß und inwiefern dieses Sicht¬ 
barwerden der göttlichen Rechtsentscheidung als Gerecht- 
sprechung aller Glaubenden keine neue Offenbarung, son¬ 
dern (v. 21) „vom Gesetz und den Propheten“, vom Alten 
Testament also, bezeugt und also seinerseits nur die Be¬ 
stätigung der Wahrheit des Alten Testamentes ist. Und 
Paulus wird sich gerade im Zug dieser Auseinander¬ 
setzung darüber erklären, was es mit dem Glauben an 
Jesus Christus, in welchem jene göttliche Rechtsentschei¬ 
dung sichtbar wird, auf sich hat. 

Wir haben es zunächst in Vers 27—31 ähnlich wie in 
Vers 1—9 mit einer kleinen Serie von einzelnen Zwischen¬ 
fragen und deren Beantwortung zu tun. Bei der in Kap. 4,1 
auftauchenden Frage wird Paulus dann stehen bleiben, 
um ihr den übrigen größeren Teil unseres Abschnittes zu 
widmen. 

Vers 27 a: Wo bleibt nun der Ruhm, der Ruhm eines 
Menschen nämlich, der sich der göttlichen Rechtsentschei¬ 
dung gegenüber für unangefochten halten möchte? Ant¬ 
wort: Er ist ausgeschlossen. Indem die Ehre des Menschen 
in Jesus Christus rechtmäßig wiederhergestellt ist, ist 
(v. 23) darüber entschieden, daß der Mensch für sich, von 
Jesus Christus abgesehen, keine Ehre und also nichts hat, 
dessen er sich vor Gott rühmen könnte. 

Vers 27 b—28: An welchem Gesetz, an welcher Norm ist 
der Mensch gemessen, wenn dieses Harte von ihm gesagt 
wird? An der Norm seiner Werke, seines Tuns und Nicht- 
tuns? Antwort: Nein, denn an diesem Gesetz gemessen 
möchte dem Menschen neben viel Schande einiger Ruhm 
wohl auch zuzubilligen sein. Menschen wie Abraham so- 


55 


gar sehr viel Ruhm (Kap. 4, 2!). Gemessen an dem Gesetz 
des Glaubens aber, gemessen daran, daß der gerichtete 
Richter unser Rechtsgrund ist, fällt jeder andere Rechts¬ 
grund dahin, hat der Mensch also keinen Ruhm. Daß er 
als Glaubender gerechtfertigt wird, schließt aus, daß er 
es durch seine Werke, durch sich selber wird. In dem Maß, 
als er selbst dem Gesetz genug tun und damit sich selbst 
rechtfertigen wollte, würde er an Jesus Christus vorbei¬ 
sehen, würde er nicht glauben und also nicht gerecht ge¬ 
sprochen sein. Wenn Luther in Vers 28 den Worten „durch 
den Glauben“ das Wort „allein“ hinzugefügt hat, so hat 
er damit genau das unterstrichen, was Paulus hier ohne 
dieses Wort tatsächlich gesagt hat. 

Vers 29—30: Oder sollte Gott — der Gott, der den Men¬ 
schen gerecht spricht — zwar der Juden, aber auch nur 
der Juden und nicht der Heiden Gott sein? Sollte es vor 
ihm gerechte Menschen nur in dem besonderen Bereich 
seines auserwählten Volkes geben? Antwort: Er ist der 
Gott der Juden und der Heiden; er erweist sich gerade in 
der Ordnung des Rechtsverhältnisses zwischen ihm und 
den Menschen durch Jesus Christus und den Glauben an 
ihn als der eine Gott. Aller Monotheismus ist ein kaltes 
Geschwätz, solange Gott nicht als der erkannt ist, der diese 
Rechtsentscheidung vollzogen hat. Als dieser aber steht er 
den Heiden nicht ferner als den Juden; diesen gegenüber 
sollen die Juden ja nicht auf einen Ruhm zurückkommen 
wollen, der ihnen erlauben würde, an Jesus Christus vor¬ 
beizusehen. 

Vers 31: Bedeutet das alles nicht die Aufhebung des 
Gesetzes? Wie steht es mit dem, was Gott von uns ver¬ 
langt und fordert, wie es im Alten Testament auf jeder 
Seite zu lesen ist, wenn wir dahin in der Frage unserer 
Gerechtigkeit vor Gott gerade nicht sehen sollen? Antwort: 
Unmöglich! (Es steht hier im Griechischen ein Ausdruck, 
den Paulus immer als Zeichen seines höchsten Entsetzens 


56 


gebraucht hat!) Paulus denkt nicht daran, das Gesetz auf¬ 
zuheben. Vielmehr: „Wir richten das Gesetz auf“. Wir 
lehren das Gesetz verstehen, wie es auf jeder Seite des 
Alten Testamentes eben das verlangt und fordert, daß wir 
an Gottes Verheißung — an die jetzt in Jesus Christus er¬ 
füllte Verheißung glauben sollen. Wir predigen ja den 
Gehorsam des Glaubens (Kap. 1, 5) und also wahrlich nicht 
Gesetzlosigkeit, sondern die Geltung des Gesetzes. Gerade 
Jesus Christus ist die Summe und der Inbegriff des Ge¬ 
setzes (Kap. 10, 4): indem er es erfüllt und indem er ihm 
genug getan hat, indem er dem wirklichen Hörer des Ge¬ 
setzes nur den Glauben übrig läßt als den rechten tätigen 
Gehorsam; den Glauben an ihn als den für uns gerichteten 
Richter, durch den wir vor Gott allein, dafür aber auch 
wirklich und vollständig, Gerechte sind. 

Man sieht, daß alle diese Fragen wie schon die von 
Kap. 3, 1—9 irgendwie im Zusammenhang mit der Frage 
des rechten Verständnisses des Alten Testamentes stehen. 
Von jüdischen, judenchristlichen aber sicher auch heiden¬ 
christlichen Lesern der heiligen Schriften Israels muß Pau¬ 
lus diese Fragen gehört haben. Bei der letzten von ihnen 
(Kap. 4, 1) macht er Halt und ihrer Behandlung ist nun 
das ganze vierte Kapitel gewidmet. Sie ist in der Tat 
radikal und umfassend genug, um allen anderen gegen¬ 
über diesen Vorzug zu verdienen. Sie lautet nämlich: 
„Was ist denn als das zu bezeichnen, was Abraham, unser 
Vorvater nach dem Fleisch, gefunden hat?“ Abraham war 
in der gewiß richtigen Sicht der damaligen Leser des Alten 
Testamentes der Gerechte, der Typus aller übrigen Ge¬ 
rechten. Indem Paulus ihn „unseren Vorvater nach dem 
Fleische“ nennt, bekennt er sich selbst als Juden, stellt er 
sich selbst in die erste Reihe der hier nach dem rechten 
Verständnis des Alten Testamentes Fragenden. Die Mei¬ 
nung der Frage in Kap. 4, 1 ist: Was machte denn den 


57 


Abraham zum Gerechten? Die Antwort verläuft in drei 
Teilen: Vers 2—8, Vers 9—12, Vers 13—17 a, in welchen 
nacheinander drei falsche Antworten abgewiesen und gleich¬ 
zeitig die rechte Antwort gegeben wird: daß der Glaube 
den Abraham zu einem Gerechten machte, und einem 
Schlußteil, Vers 17 b—22, in welchem erklärt wird, welches 
die Art und das Wesen des Glaubens des Abraham ge¬ 
wesen sei. In Vers 22—25 wird Paulus die Anwendung 
machen und zugleich den in Kap. 3, 26 verlassenen Faden 
seines Hauptgedankens neu aufnehmen. 

Paulus sagt in Vers 2—8, daß Abraham durch sei¬ 
nen Glauben gerecht ist und nicht durch seine Werke. 
Abraham hat freilich auch Werke, rühmenswerte Werke 
aufzuweisen. Der Leser des Alten Testamentes denkt an 
seinen Auszug aus seinem Vaterland, er denkt an Isaaks 
Opferung. Aber wenn solche Werke Abrahams Ruhm im 
Auge des Lesers sind, so ist sein Ruhm vor Gott nach 
dem Wort der Schrift ein anderer. Sie sagt nämlich, daß 
dem Abraham dies als Gerechtigkeit angerechnet wurde, 
daß er Gott glaubte. „Als Gerechtigkeit angerechnet“ heißt: 
als Gerechtigkeit angenommen, obwohl dieses Angenom¬ 
mene an sich, als Abrahams Tun, mit Gerechtigkeit nichts 
zu tun hat bezw. nur dann etwas damit zu tun hat, 
wenn es Abrahams Beziehung zu einem Rechtsgrund ist, 
den er selber nicht schaffen kann, der als solcher außer 
ihm liegt, der ihm gegeben sein muß, so daß sein Glaube 
ihm daraufhin: auf die Gerechtigkeit dieses objektiven 
Grundes hin, auf den er gerichtet ist, als seine Gerechtig¬ 
keit angerechnet werden kann. Würde Abraham durch 
seine Werke gerecht, dann würde die Schrift anders lau¬ 
ten: sie würde dann sagen, daß ihm das Gute, was er 
getan, nach Fug und Recht, nach seinem Verdienst als 
seine Leistung zur Erlangung der Gerechtigkeit angerech¬ 
net wurde. Nun aber sieht sie, wenn sie von seiner Ge¬ 
rechtigkeit redet, an allem was er getan und was ihn 


58 


von einem Gottlosen unterschieden hat, vorbei allein 
auf seinen Glauben, in welchem er wie ein Gottloser 
vor Gott steht und eben als solcher von Gott gerecht ge¬ 
sprochen wird. Und im gleichen Sinn wird auch Ps. 32,1 f. 
der Mann selig gepriesen, mit welchem Gott so verfährt, 
als wäre etwas anderes als dies, daß er Sündenvergebung 
nötig hat, überhaupt nicht von ihm zu sagen. Eben der 
und nur der Mann, der sich allein um deswillen selig 
preist, was ihm als einem verlorenen Sünder zukommt: 
daß Gott seinerseits einen Rechtsgrund hat, ihm zu ver¬ 
geben, ihn gerecht zu sprechen und als einen Gerechten 
zu behandeln — dieser Mann allein und also der Glaubende 
ist vor Gott gerecht, wie es von Abraham geschrieben steht. 

Paulus sagt in Vers 9—12, daß Abraham durch seinen 
Glauben gerecht ist und nicht auf Grund seiner Beschnei¬ 
dung. Abraham ist der erste Träger dieses Zeichens, das 
das Volk Israel als das erwählte Volk Gottes von anderen 
unterscheidet. Ist die Gerechtigkeit vor Gott an dieses Zei¬ 
chen gebunden und also auf dessen Träger und also auf 
Israel beschränkt? Gilt das Wort von Abrahams Gerechtig¬ 
keit, gilt Ps. 32, 1, wie schon in Kap. 3, 29 gefragt wurde, 
nur den Juden? Die Antwort der Schrift selbst lautet, daß 
nicht die Beschneidung, sondern der Glaube Abraham als 
Gerechtigkeit angerechnet wurde. Die Beschneidung war 
umgekehrt das Zeichen, das diese allein in seinem Glau¬ 
ben bestehende Gerechtigkeit Abrahams bestätigen sollte. 
Er glaubt ja als noch Unbeschnittener, und von seinem 
Glauben als noch Unbeschnittener heißt es, daß er ihm als 
Gerechtigkeit angerechnet wurde. Ist er als Beschnittener , 
als Jude, der Vater der Juden als des Volkes, das zum 
Träger der Verheißung und schließlich zur Erfüllung der 
Verheißung in seiner Mitte bestimmt, daß eben um dieser 
Verheißung willen durch dieses Zeichen von anderen Völ¬ 
kern unterschieden war — so ist Abraham gerade als 
noch Unbeschnittener zugleich der Vater und Vorläufer 


59 


aller derer, die ebenfalls als solche, als Nichtjuden mit 
ihm und wie er selbst an die Verheißung glauben und 
in diesem Glauben Gerechte vor Gott sein würden. Die 
Beschncidung kann als Zeichen des Volkes der Ver¬ 
heißung auf diese Gerechtigkeit vor Gott nur hinweisen. 
Die Beschneidung macht keinen gerecht. Es gibt, wie Abra¬ 
ham selbst zeigt, Gerechte vor Gott auch ohne Beschnei¬ 
dung, auch außerhalb des Judentums, aber nicht außer¬ 
halb des Glaubens. 

Paulus sagt in Vers 13—17 a, daß Abraham durch sei¬ 
nen Glauben gerecht ist und nicht als Kenner des Gesetzes. 
Abrahams Volk ist freilich das Volk, dem Gottes Gesetz 
gegeben, Gottes Wille und Gebot bekannt gemacht ist. Aber 
das ist es nicht, was Israel zum auserwählten Volk, zum 
Volk der Verheißung macht. Damit, daß es das Gesetz 
hat und kennt, hat es keinen Anteil an dem Segen, den 
Gott ihm als seine Zukunft zugesagt hat. Denn an dem 
ihm allerdings gegebenen und bekannten Gesetz Gottes 
wird Israel ja doch nur zu Schanden. Es hat sich der 
Glaube an seine eigene Erfüllung des Gesetzes immer wie¬ 
der als ein leerer Glaube, es hat sich die Verheißung als 
Ziel menschlichen Wollens und Vollbringens in Israels Ge¬ 
schichte immer wieder als eine nichtige Verheißung er¬ 
wiesen. Das Gesetz als solches und für sich ist, wie in 
Kap. 1, 18—3, 20 gezeigt, das Instrument des Zornes Got¬ 
tes. „Wo aber das Gesetz nicht ist y da ist keine Über¬ 
tretung!“ Sündlosigkeit, Gerechtigkeit gab es auch in Israel 
immer nur „außerhalb des Gesetzes“, d. h. nicht kraft sei¬ 
ner Erfüllung durch die Menschen (zu der es nie kam!), 
sondern als die Gerechtigkeit derer, die im Zeugnis des 
Gesetzes den objektiven Rechtsgrund Gottes, ihnen ihre 
Sünden zu vergeben, erkannten und ergriffen. An Gott 
selbst und seine Gnade haben die geglaubt, die in Israel 
recht geglaubt, die nicht an eine eingebildete, sondern an 
die am Ziel der Geschichte Israels erfüllte Verheißung ge- 


60 


glaubt haben. Alle diese sind Abrahams Kinder: inner¬ 
halb und außerhalb des Bereiches des Gesetzes — die das 
getan, die mit Abraham geglaubt haben, die vielen Völker, 
deren Vater er als Vorgänger im Glauben gewesen ist. 

Eben diese letzte Wendung gibt nun Paulus Anlaß zu 
einer positiven Beschreibung des Glaubens Abrahams: 
Vers 17 b—22. Wie glaubt Abraham? Und wie ist er also 
ein Gerechter? Wir hören in Vers 17 b zunächst: Er glaubt 
angesichts des Gottes, der die Toten lebendig macht und, 
was nicht ist, ins Dasein ruft. Er glaubt also an den Gott, 
der als Schöpfer der uns unbegreiflichen Welt, in welcher 
kein Tod ist, wie als der unbegreifliche Schöpfer dieser 
gegenwärtigen Welt der ist, der allein durch sein Wort 
etwas schlechthin Neues schafft. Glauben heißt, sich an 
dieses Wort dieses Gottes halten. So hat Abraham ge¬ 
glaubt. Dieser Glaube wurde ihm nach der Schrift als 
Gerechtigkeit angerechnet. Wir hören in Vers 18: Er hatte 
dabei gegen alle Hoffnung, nämlich gegen alle menschlich 
mögliche Hoffnung auf die Erfüllung dessen zu hoffen, 
was Gott ihm zusagte. Er hatte in Gottes Wort eine ihm 
gegebene Hoffnung anzunehmen, ohne dabei durch irgend 
eine menschlich einleuchtende Wirklichkeit oder Wahrschein¬ 
lichkeit unterstützt zu werden. Das hat er getan. Und das 
war sein Glaube, der ihm als Gerechtigkeit angerechnet 
wurde. Wir hören in Vers 19—20: Abraham stand vor 
lauter widersprechenden natürlichen Tatsachen: er sah, 
als er die Verheißung empfing, nichts vor sich als sein 
eigenes Alter und das der Sara, seines Weibes. Daß er 
diese Tatsache faktisch nicht ansah, daß er keinen Ver¬ 
gleich anstellte zwischen dem, was er da sah und was er 
als Gottes Wort hörte, daß er auf Berechnungen über 
dessen Erfüllbarkeit nicht eintrat, sondern ganz allein hörte 
auf das, was ihm gesagt war, daß er seine Existenz dem 
Worte Gottes gegenüber nicht zweifelnd, d. h. nicht von 
einem doppelten, einem „gläubigen“ und einem „weltlichen“ 


61 


Standpunkt aus beurteilte — denn dieser Dualismus ist 
das Wesen des Zweifels! —, daß er vielmehr ganz und gar 
nur von dem Einen aus urteilte, von dem man doch den¬ 
ken möchte, daß es einen Standpunkt gar nicht bilden 
könne, daß er mit dem Unglauben nicht umging als mit 
einer zweiten Möglichkeit, sondern nur als mit der ausge¬ 
schlossenen Unmöglichkeit, das war die Stärke des Glau¬ 
bens, der ihm als Gerechtigkeit angerechnet wurde. Nicht 
um seiner selbst, nicht um der Schönheit und der Tiefe 
dieses Glaubens willen! Sondern darum, weil der damit 
(v. 20) Gott die Ehre gab, d. h. weil er bei dem allen von 
sich selber weg sah auf Gott hin, um ihn Gott sein zu 
lassen, als den, der die Macht, die Allmacht, hat zu tun, 
zu erfüllen, was er verheißen hat und von dessen Treue 
solche Erfüllung unter allen Umständen zu erwarten ist. 
Indem Abrahams Glaube dieses Hinwegsehen und Hin¬ 
sehen war, wurde er ihm angerechnet als Gerechtigkeit 
(v. 22). 

Das also ist Abraham, der Gerechte des Alten Testa¬ 
mentes. Man kann ihn nicht zum Zeugen gegen, man kann 
ihn und das ganze Alte Testament nur zum Zeugen für 
das Evangelium anrufen: zum Zeugen der göttlichen Ge- 
rechtsprechung der Glaubenden. 

Die Verse 23—25 bringen die Reihe der in Kap. 3, 27 
begonnenen Zwischenüberlegungen zum Abschluß. Wir er¬ 
innern uns, daß die ganze, das vierte Kapitel beherrschende 
Feststellung über Abraham nur die ausführliche Antwort 
auf die letzte der in Kap. 3,27—4,1 aufgeworfenen Fragen 
war. Diese letzte Frage hatte gelautet: „Was macht den 
Abraham zu dem Gerechten, der er nach dem Alten 
Testament gewesen ist?“ Die Antwort hatte gelautet: Nicht 
seine Werke machen ihn dazu, nicht seine Beschneidung, 
nicht das Gesetz, sondern dies, daß er glaubte, d. h. daß er 
sich an Gottes an ihn ergangenes Verheißungswort hielt 


62 


und so an Gottes Allmacht, Treue und Beständigkeit. In¬ 
dem er damit Gott selbst die Ehre gab, wurde Gott selbst 
seine Gerechtigkeit, wurde er selbst von Gott freigespro¬ 
chen, gerecht gesprochen: er der Gottlose! (v. 5). So stand 
es mit Abrahams Gerechtigkeit. Und wenn man noch ein¬ 
mal an die ganze Reihe der in Kap. 3, 27 f. aufgeworfenen 
Fragen denkt, merkt man, daß Paulus damit sagen will: 
so steht es mit dem, was im Alten Testament überhaupt 
des Menschen Gerechtigkeit ist. Das Alte Testament be¬ 
zeugt (Kap. 3, 21) diese Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit 
des Glaubens. Was von Abraham geschrieben steht — so 
nimmt jetzt Vers 23 den Faden wieder auf —, eben das 
steht von uns geschrieben: von uns, die wir uns jetzt, 
heute der in Jesus Christus offenbarten Rechtsentschei¬ 
dung Gottes, indem wir an Jesus Christus glauben, freuen 
dürfen als unseres Freispruchs, als unserer Gerechtspre- 
chung im Gerichte. An wen sonst als eben an Jesus Chri¬ 
stus hat ja schon Abraham sich gehalten und also ge¬ 
glaubt, indem er sich an Gottes Verheißung hielt? War 
doch eben Jesus Christus der ihm in Isaak verheißene 
Nachkomme! So und also in ihm hat schon Abraham der 
Allmacht, Treue und Beständigkeit Gottes die Ehre ge¬ 
geben. So und also in ihm war Gott selbst Abrahams Ge¬ 
rechtigkeit. Wir glauben nicht anders und an keinen ande¬ 
ren, als Abraham es tat und mit ihm alle Glaubenden des 
Alten Testamentes. Wir glauben ja schlicht an die nun ge¬ 
schehene Erfüllung der ihm gewordenen Verheißung und 
wissen darum mit ihm, wissen nun erst recht, daß unsere 
Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit jedes Menschen vor Gott, 
allein in seinem Glauben, allein darin bestehen kann, daß 
ihm sein Glaube angerechnet wird als Gerechtigkeit. Noch¬ 
mals: nicht wegen seiner Kraft, Güte und Schönheit, son¬ 
dern wegen seines Gegenstandes, wegen Jesus Christus, 
wegen der in ihm beschlossenen, offenbarten und wirk¬ 
samen Allmacht, Treue und Beständigkeit Gottes. Das ist 


63 


es, was Kap. 4, 24—25 im Rückblick auf Kap. 3, 22—26 
noch einmal in einer kurzen Formel bestätigt wird: Wir 
sind darum vor Gott gerecht, weil Gott uns unseren Glau¬ 
ben, wie er es Abraham getan, als Gerechtigkeit anrechnet. 
Gott tut das aber darum, weil er, an den wir glauben, der 
Gott ist, der Jesus als unseren Herrn von den Toten auf¬ 
erweckt, d. h. der sich selbst in der Erhöhung dieses Men¬ 
schen, in der Offenbarung des Lebens seines eigenen Soh¬ 
nes in diesem getöteten Menschensohn (Kap. 1, 5) zu unse¬ 
rem Herrn und Haupt gemacht hat. Er hat diesen seinen 
eigenen Sohn (und in ihm sich selber für uns) zur Hin- 
wegschaffung, zur völligen Beseitigung und Wiedergut¬ 
machung aller unserer Übertretungen eingesetzt und da¬ 
hingegeben, so daß sie in seinem Tode beseitigt sind und 
uns nicht mehr zur Last fallen können. Und er hat diesen 
Sohn Davids (und in ihm uns durch sich selber) aus dem 
Tode, den wir verdient hatten, dem wir verfallen waren, 
erweckt zu unserem Herrn und Haupt, unter dem 
und mit dem wir existieren dürfen als solche, die — 
wie ihr altes böses Kleid für immer ausgezogen ist — 
nunmehr bekleidet sind mit seiner Gerechtigkeit, mit der 
Gerechtigkeit seines Sohnes, mit seiner eigenen Gerechtig¬ 
keit. Indem wir uns an ihn halten als an unseren Herrn, 
indem wir uns daran halten, daß er unser Haupt ist, ste¬ 
hen wir vor Gott schlechterdings so da, wie er, sein geliebter 
Sohn, vor ihm steht, sieht er uns in ihm und also in 
seinem eigenen Bilde an, kann er gar nichts an uns fin¬ 
den als seine eigene Gerechtigkeit. Indem wir an diesen 
Gott Abrahams glauben, ist uns seine Gerechtigkeit zuge¬ 
rechnet, ist sie die unsrige, wie sie die seine ist, sind wir 
mit Abraham wahrhaft und von rechtswegen gerecht vor 
ihm. 


64 


5, 1—21 


Das Evangelium als Versöhnung 
des Menschen mit Gott 


Gottes in Jesus Christus vollzogene und offenbarte Rechts¬ 
entscheidung ist nach dem, was uns der Römerbrief bis 
jetzt gesagt hat, verschlossen und verborgen in der Ver¬ 
urteilung aller Menschen (Kap. 1, 18— 3, 20), die Gerecht- 
sprechung der Glaubenden (Kap. 3, 21—4, 25). Diese 
Rechtsentscheidung Gottes ist das Evangelium. Aber nun 
hatte ja Paulus in Kap. 1,16 vom Evangelium noch etwas 
anderes gesagt: nämlich das Entscheidende über seinen 
Inhalt und seine Tragweite: es sei Gottes allmächtiges 
Rettungswerk für jeden Glaubenden. Wir bemerkten schon 
dort: das ist kein Zweites, das jetzt zu dem Ersten zu der 
göttlichen Rechtsentscheidung noch hinzukäme. Das ist viel¬ 
mehr mit dieser identisch: wir sind damit gerettet, daß 
wir als Glaubende gerecht gesprochen sind; und umge¬ 
kehrt: indem wir als Glaubende gerechtfertigt sind, sind 
wir gerettet, wie es in Kap. 5, 1 zunächst im Blick auf die 
grundlegende Tatsache der Versöhnung des Menschen mit 
Gott ausdrücklich gesagt wird. Aber eben, daß diese 
Gleichung besteht und gilt, soll und wird nun in einer 
Reihe von vier zusammenhängenden Entwicklungen in 
den Kapiteln 5—8 gezeigt werden: indem wir im Glauben 
Gottes Rechtsentscheidung hören und annehmen, wider¬ 
fährt uns die Rettung, deren wir als Menschen bedürftig 
sind. Es ist also diese Rechtsentscheidung kein leeres Wort, 
sondern sie hat als Gottes Rechtsentscheidung jene un¬ 
widerstehliche Kraft der Wahrheit, die ihr Paulus schon 


65 


in Kap. 1,16 nachgerühmt hat: Wer vor Gott gerecht ist, 
der kann eben darum und damit kein Verlorener sein. 
Wer von Gott so angesehen und beurteilt ist, wie er seinen 
eigenen lieben Sohn, wie er in diesem seinem Bilde sich 
selbst ansieht, der ist eben darum und damit bei Gott ge¬ 
borgen und aufgehoben, dem kann es darum und damit 
in alle Ewigkeit hinein, aber darum und damit nun auch 
wirklich in der kurzen Zeit seiner Existenz jetzt und hier 
nicht schlecht, sondern nur noch gut gehen. Der muß und 
wird, wie es schon in Kap. 1,17 hieß, leben: Der Gerechte, 
der durch seinen Glauben vor Gott Gerechte, wird aus 
und in diesem Glauben vor Gott nicht sterben, sondern 
leben — im Bund mit Gott leben und darum kein be¬ 
drücktes, kein beschattetes, kein verzweifeltes, sondern 
(Kap. 5, 17) ein königliches, ein souveränes, das von dem 
ewig lebendigen Gott als seinem Bundespartner ihm ver¬ 
liehene ewige Leben. 

Das Viele, was davon zu sagen ist, wird im 5. Kapitel mit 
der Feststellung eröffnet, daß wir als Glaubende und also 
als Gerechte mit Gott versöhnte Menschen sind. In diesem 
Versöhntsein ergreift uns gewissermaßen die rettende Hand 
Gottes. Man beachte, daß es sich weder hier noch sonst im 
Neuen Testament um die Versöhnung Gottes mit uns, son¬ 
dern um unsere Versöhnung mit ihm handelt. Gott braucht 
nicht versöhnt zu werden. Gott liebt ja auch, indem er 
zürnt. Gott hat ja auch die Last seines Zornes nicht auf 
uns geworfen, so daß wir nun erst von ihr befreit werden 
müßten, sondern hat sie, indem er seinen Sohn leiden und 
sterben ließ, auf sich selbst genommen, so daß er uns nicht 
treffen und verderben kann. Gottes Gerechtigkeit bedarf 
keiner Milderung, so daß er erst, nachdem er Einiges davon 
abgestrichen, mit uns versöhnt sein könnte, sondern gerade 
indem seine Gerechtigkeit zum Vollzug kam und offenbar 
wurde, sind wir durch ihn in einen neuen Stand versetzt, 
mit ihm versöhnt, aus einer unmöglichen Stellung ihm 


66 


gegenüber herausgeholt und in die allein mögliche Stel¬ 
lung zu ihm gebracht. Daß diese Voraussetzung unserer 
Errettung (oder positiv: unseres Lebens) durch Gottes 
Rechtsentscheidung erfüllt ist, das ist die überaus wunder¬ 
bare Tatsache, mit der Paulus im 5. Kapitel beschäftigt 
ist. Das Kapitel ist für uns aus zwei Gründen gedanklich 
schwierig—gedanklich vielleicht das schwierigste im Römer¬ 
brief: Einmal darum, weil es für uns leider nicht natürlich 
ist, das Unerhörte, das Unbegreifliche, das schlechthin Wun¬ 
derbare dessen, daß es das gibt: mit Gott versöhnte Men¬ 
schen, daß wir soldie sein dürfen, zugleich in seiner Wirk¬ 
lichkeit, aber eben in dem ganzen Wunder seiner Wirklich¬ 
keit zu sehen, weil wir das vielmehr nur zweifelnd oder 
aber mit einer höchst unangebrachten Leichtigkeit und 
Selbstverständlichkeit hinzunehmen gewöhnt sind. Und so¬ 
dann darum, weil wir leider ebensowenig darüber im kla¬ 
ren sind, daß diese Tatsache so ganz und gar nichts mit 
einer allgemeinen Idee von Gott und vom Menschen zu 
tun hat, sondern eben eine bestimmte Tatsache, nämlich 
die Tatsache der Person Jesu Christi und eben in ihr so 
wunderbar und zugleich so wirklich ist. Paulus dagegen 
steht zugleich ohne jeden Vorbehalt und völlig verwundert 
vor dieser Tatsache und er steht ihr eben als dieser be¬ 
stimmten Tatsache , er steht Jesus Christus gegenüber. Bei¬ 
des kommt im Römerbrief vielleicht nirgends so stark zum 
Ausdruck wie in diesem Kapitel. Das ist es, was es für 
uns gedanklich schwierig macht. Wir sind eben an diese 
Gewißheit und an dieses Erstaunen, wir sind aber vor 
allem an diese Sammlung um die Person Jesu Christi in 
unserem christlichen Denken (auch wenn es sehr „positiv“ 
sein sollte) nicht mehr gewöhnt. Der Abstand zwischen 
unserem und dem apostolischen Denken — nicht weil jenes 
ein altertümliches und das unsrige ein modernes ist, son¬ 
dern weil wir mit dem Gegenstand auch die Kategorien 
des apostolischen Denkens erst wieder finden müssen — 


67 


kann uns hier sehr klar werden und vielleicht ist das zu¬ 
nächst das Wichtigste, was man gerade an diesem Kapitel 
zu lernen hat: daß wir noch viel lernen müssen, um ge¬ 
lehrige Schüler der Apostel zu werden. 

Der Inhalt von Vers 1—5 erscheint zunächst verhältnis¬ 
mäßig einfach und übersichtlich. Wir haben zunächst in 
Vers 1 die Verbindung zum Vorangehenden vor uns: 
Als die im Glauben Gerechtgesprochenen haben wir Frie¬ 
den mit Gott, ist also alles das aufgehoben, was nach dem 
scharfen Ausdruck in Vers 10 unsere Feindschaft gegen 
Gott ausmacht: unsere Auflehnung gegen ihn, in der wir 
ihm (Kap. 1, 21) die ihm gebührende Ehre verweigern 
und damit — was das auch für ihn bedeute — jedenfalls 
uns selbst ins Elend stürzen, dem Tode (v. 12 f.) preis¬ 
geben. Indem uns Gott gerecht spricht, sind wir von dieser 
Feindschaft freigesprochen, sind wir in den Stand des Frie¬ 
dens Gott gegenüber, der Übereinstimmung mit ihm ver¬ 
setzt. Wie das? Paulus redet nicht von friedlichen Ge¬ 
sinnungen und Gefühlen, die uns beherrschen könnten, 
sondern von Jesus Christus als dem, in welchem, wie 
(v. 2) unser Zugang zu Gott, wie unsere Gerechtsprechung 
also, so auch dieser unser Friedensschluß mit Gott, sehe 
es in uns aus, wie es wolle, vollzogen ist, so daß wir uns 
— Gesinnungen und Gefühle hin und her, es handelt sich 
um den „Frieden Gottes, welcher höher ist als alle Ver¬ 
nunft“ (Phil. 4, 7) — daran halten dürfen: wir haben 
Frieden geschlossen und haben ihn. Wir sind jene Feinde 
Gottes nicht. In Jesus Christus sicher nicht. Er steht im 
Frieden mit Gott und eben „er ist unser Friede“ (Eph. 2,14). 
Indem wir durch ihn in die Gnade versetzt sind, in der 
wir stehen dürfen, ist er unser Friede. Darum ist die Sache 
so sicher, darum weder durch uns selbst noch durch andere, 
darum (Kap. 8, 38 f.) durch keine Macht im Himmel und 
auf Erden in Frage zu stellen. Indem wir diesen Frieden 


68 


haben, blicken wir in unsere Zukunft und finden, daß, was 
vor uns steht, Gottes Herrlichkeit ist und rühmen uns darum 
auch unserer Gegenwart, weil sie dieser Zukunft entgegen¬ 
eilt. Nicht nur unserer Zukunft, nicht nur der jenseitigen 
Ewigkeit (v. 2), sondern auch der bedrängten Gegenwart, 
weil alle Bedrängnis den, der Frieden mit Gott hat, nur 
noch fester, noch beharrlicher machen kann, weil er sich 
in solcher Beharrlichkeit bewähren und weil diese Bewäh¬ 
rung sich darin lohnen wird, daß er jetzt erst recht, jetzt 
erst ganz ernstlich hoffen wird (v. 4): in der Hoffnung, die 
den Hoffenden nidit beschämen, nicht zu Schanden gehen 
lassen wird. Denn was hält ihn? Ein neues Fühlen, Wollen 
und Erkennen? Nicht das, ob er viel oder wenig davon 
habe, wohl aber die objektive Gewalt der Liebe, die Gott 
ihm damit erwiesen hat (v. 5), daß er ihn in Jesus Chri¬ 
stus ohne und gegen sein ganzes Fühlen, Wollen und Er¬ 
kennen dorthin gestellt hat, wo er mit ihm in Überein¬ 
stimmung sich finden darf. Es ist die Wohltat dieser Liebe 
Gottes durch den Heiligen Geist, der ihn zum Glauben er¬ 
weckt und aufgerufen hat, in sein Herz ausgegossen, so 
daß es nun von dieser Wohltat ganz erfüllt ist, wie schwach 
und böse es immer sein mag, so daß aus diesem seinem 
Herzen heraus nur jener Ruhm nach außen dringen kann: 
quer hindurch durch alles Murren, Seufzen und Klagen, wie 
sie diesem Gefäß eigentümlich sein dürften: der Ruhm der 
Hoffnung, der Ruhm der uns gewissen künftigen Herrlich¬ 
keit Gottes, unseres Verbündeten und dann wirklich auch 
der Ruhm aller Bedrängnis in der Gegenwart, weil sie die 
Hoffnung dessen, der mit Gott Frieden hat, nur größer, 
nie kleiner machen kann. 

Es ist der Zusammenhang Vers 6—11, in welchem 
jenes für uns so außerordentliche Staunen des Apostels 
besonders zum Ausdruck kommt und in Verbindung ge¬ 
rade damit auch die schledithinige Gewißheit, in der er 


69 


der Tatsache gegenübersteht, daß Menschen mit Gott Frie¬ 
den und darum jenes Leben in der Hoffnung haben dür¬ 
fen. Je erstaunlicher die Sache ist, um so gewisser ist sie — 
weil er höher als alle Vernunft ist, darum ist er ein sicherer 
Friede, das ist es in Kürze, was hier gesagt wird. Was ist 
es um jene unser Herz erfüllende Liebe Gottes, in deren 
Kraft wir versöhnt sind und jenen Frieden haben? Paulus 
antwortet in Vers 8 mit der Feststellung: Gott beweist sie 
damit, daß Christus für uns starb, da wir noch Sünder 
waren. „Da wir noch Schwache, zur Zeit, da wir noch 
Gottlose waren“ (v. 6) wie Abraham (Kap. 4, 5)! „Als wir 
seine Feinde waren, wurden wir mit Gott versöhnt durch 
den Tod seines Sohnes“ (v. 10)! Eine solche Liebe ist die, 
die unsere Herzen erfüllt und regiert durch den Heiligen 
Geist. Nicht die erklärliche und verständliche Liebe, die 
einer zu seinem guten Freunde hat, für den er vielleicht 
— vielleicht auch nicht! — zu sterben bereit sein mag 
(v. 7). Nicht eine solche Liebe also, von der wir auch 
sonst einige Kenntnis und Erfahrung haben mögen. Nicht 
unsere menschliche Liebe m. e. W., in der wir lieben, die 
uns wiederlieben. Sondern — wir verstehen jetzt, daß man 
bei jenem Frieden an friedliche Gesinnungen und Gefühle 
nicht denken darf — Gottes Liebe, welche Feindesliebe 
ist. Darum ist sie und darum ist der Friede mit Gott, den 
sie in uns begründet, unbegreiflich, wunderbar. Daß der 
Akt Gottes, in welchem er seinen Sohn dahingibt für uns, 
um uns anzunehmen an seines Sohnes Stelle, dieser Akt, 
der unseren Frieden mit ihm begründet, der Akt solcher 
Liebe ist — Gott für uns, die wir gegen ihn sind —, daß 
das in Jesus Christus wahr und durch den Heiligen Geist 
in unser Herz gegeben ist, so daß unser Herz davon voll 
ist, so voll, daß es in lauter Ruhm unserer ewigen Herr¬ 
lichkeit und in lauter Ruhm auch unserer bedrängten 
Gegenwart ausbrechen muß — darüber staunt Paulus. 
Aber nun gerade nicht, um daran zu zweifeln! Zweifeln 


70 


könnte man an seinen christlichen Gesinnungen und Ge¬ 
fühlen und an den Konsequenzen, die man ihnen ent¬ 
nehmen möchte. Zweifeln könnte man an all dem, was 
unser menschliches Lieben an Erhebung und Trost mit 
sich bringen mag. Was Gott ist und tut: die Rechtsent¬ 
scheidung, die doch gerade als solche der Beweis seiner 
Liebe — der Beweis seiner Liebe, der doch gerade als 
solcher seine Rechtsentscheidung ist, das ist so groß, das 
spricht in seiner Größe so für sich selber, daß es nicht nur 
unzweifelhaft ist, sondern die Gewißheit nötig macht: „Wir 
werden in seinem Blut vor dem uns drohenden Zorn 
Gottes durch ihn gerettet sein“ (v. 9). Das ist unsere 
Zukunft: unser Gerettetsein durch ihn in seinem Blute! 
Und dementsprechend sieht unsere Gegenwart aus: Gott 
in seiner Feindesliebe, das Blut seines Sohnes, vergossen 
für uns, die Sünder, das ist unsere Zukunft, unsere Hoff¬ 
nung. Dieser Gott, Gott in der Gestalt dieses Menschen 
kommt: er, der in seinem Tode allen gerechten Zorn schon 
erlitten, schon getragen und hinweggetragen hat. Er, in 
welchem alles, was gegen uns spricht, schon widerlegt ist. Er, 
in welchem unsere eigene böse Feindschaft gegen Gott schon 
hinter uns geworfen ist! Er, der das ganze Elend, der die 
Finsternis des Todes, die diese Feindschaft mit sich bringt, 
schon durchgemacht und durchschritten hat! Und eben: er, 
der das ganz ohne und gegen uns getan hat, so daß wir 
nun gar nicht fragen können und müssen, wie es von uns 
aus möglich sein möchte, daß wir Frieden mit Gott haben, 
mit Gott versöhnt sein können trotz alledem, was wir sind 
und tun! Er, in welchem es trotz uns wirklich wurde: 
wir sind versöhnt! Dieser Beweis für das, was wir zu er¬ 
warten haben und damit nun doch auch für den Sinn 
unserer Gegenwart ist gerade darum zwingend, weil er so 
schlechterdings erstaunlich ist. „Um wieviel mehr“, so fol¬ 
gert Paulus zweimal (v.9 und 10) —um wieviel mehr, da 
jenes Größere von Gott her Ereignis und Wahrheit ist, 


71 


muß es auch das Kleinere sein für uns. Das Größere: das 
Wunder der göttlichen Feindesliebe, unveranlaßt, unbe¬ 
gründet, unableitbar aus irgend welchen menschlichen 
Gründen, ungleich aller Liebe und allen Wundern, die 
uns sonst begegnen mögen. Das Kleinere: unser Friede, 
unser Versöhntsein, unsere künftige Errettung und dar¬ 
um der Ruhm und Preis unseres von der Liebe Gottes er¬ 
füllten Herzens, wohlbegründet — göttlich begründet, aber 
gerade so schlechterdings wohlbegründet durch das Größere, 
was Gott von sich aus getan hat, wohlbegründet in Gottes 
Göttlichkeit. 

In Vers 12—21 *) tritt dies in den Mittelpunkt, daß der 
eine Jesus Christus es ist, in welchem die in Vers 1—11 
beschriebene Entscheidung über den Menschen: daß er 
Frieden mit Gott haben soll, gefallen und offenbar ge¬ 
worden ist: Jesus Christus als der, der die andere, durch 
den Menschen selbst vollzogene Entsdieidung, seinen Ein¬ 
tritt in die Feindschaft gegen Gott und in das Todeselend, 
das diese Feindschaft mit sich gebracht hat, umgekehrt 
und zunichte gemacht hat — Jesus Christus, der gut machte, 
was Adam übel gemacht hat. Man versteht den Abschnitt 
dann, wenn man nach Vers 12 zunächst bei Vers 18 und 
dann bei Vers 21 weiter liest. Der erste Satz in Vers 12 ist 
nämlich entweder unvollendet oder, was wahrscheinlicher 
ist: er stellt eine Art Überschrift dar: Wie mit dem einen 
Menschen, durch den die Sünde in die Welt kam und durch 
die Sünde der Tod und so das Übergehen des Todes auf 
alle Menschen — so steht es! so mit dem einen Jesus Chri¬ 
stus nämlich! Die Meinung ist: die ganze durch Adam in 
seinem Sündenfall bestimmte Geschichte der Menschheit, 


*) Vgl. zu dieser Stelle die Schrift „Christus und Adam“ (Theol 
Stud. Heft 35, 1952). V 


72 


die ganze Wiederholung seiner Sünde und seines Elends in 
der Gesamtheit und in jedem Einzelnen derer, die seinen 
Namen, den Namen „Mensch“ tragen, ist ein einziges 
Gleichnis dessen, was kraft der Gerechtigkeit und Liebe 
Gottes in Jesus Christus geschehen ist. Ein Gleichnis, ein 
Vorbild (v. 14) — gerade so viel und nicht mehr! — gerade 
darauf und nur darauf von uns anzusehen! So also auch 
unsere eigene Beteiligung daran, so alles das, was wir an 
Feindschaft gegen Gott und an dem entsprechenden Elend 
bei uns selber — an sich wahrlich nicht mit Unrecht! — 
wahrzunehmen meinen. So das Ganze unserer Existenz, 
wenn wir davon absehen wollen, daß wir ja glauben und im 
Glauben unseren Freispruch entgegennehmen und aus und 
mit diesem Freispruch leben dürfen. Es soll und darf uns 
das Alles gerade nur noch an Jesus Christus erinnern: an 
die Entscheidung Gottes, die der Entscheidung Adams 
siegreich gegenübersteht, durch die sie umgekehrt, aufge¬ 
hoben und zunichte gemacht ist. Vers 18—19 und Vers 21 
enthalten den Kern dessen, was Paulus jener Überschrift 
in Vers 12 entsprechend hier sagen will. Durch des einen 
Menschen Übertretung kam es zum Gericht über alle Men¬ 
schen und so durch des einen Menschen Rechtstat zum 
Freispruch Aller. Im Ungehorsam des einen Menschen wur¬ 
den die Vielen als Sünder vor Gott hingestellt und im Ge¬ 
horsam wieder des einen Menschen die Vielen als Gerechte. 
Hier und dort der Eine, hier und dort Alle, die Vielen. 
Hier der Eine, der mit seinem Sein, Tun und Erleiden der 
Zeuge dessen ist, was Alle, was die Vielen sind und tun 
und zu erleiden haben — hier Alle, die Vielen, die sich in 
dem Sein, Tun und Erleiden jenes Einen nur zu genau 
wiedererkennen müssen. Und dort wieder der Eine, der 
wieder für Alle, die Vielen, steht — und dort wieder Alle, 
die Vielen, die nun auch in diesem Einen sich selbst wieder¬ 
erkennen dürfen. Hier als Ergebnis der Existenz des Einen 
für Alle, für die Vielen die Herrschaft der Sünde und des 


73 


Todes; dort wieder als Ergebnis der Existenz des Einen 
für Alle, für die Vielen, die Herrschaft der Gnade durch 
Gerechtigkeit zum ewigen Leben (v. 21). Man merke, daß 
Paulus Adam und Christus, Alle hier und Alle dort, nicht 
einfach nebeneinanderstellt als Figuren und Faktoren von 
gleicher Würde und gleichem Gewicht und als Träger einer 
gleich mächtigen Bestimmung. Nun als Gleichnis soll ja 
Adam und sollen seine Vielen neben Christus und seinen 
Vielen stehen. Nur als Schatten und Vorbild läuft er vor 
Christus her. Nur scheinbar ist er der Erste. Der Erste, der 
Inhaber der Wirklichkeit, die jener nur abbilden kann 
und in seiner ganzen Andersartigkeit abbilden muß, ist 
Christus. Hier steht also nicht Macht gegen Macht, nicht 
Recht gegen Recht, geschweige denn Gott gegen Gott. Hier 
steht Gott gegen den Menschen, weil für den Menschen. 
Hier steht also Recht gegen Unrecht, Wahrheit gegen Lüge, 
Macht gegen Ohnmacht — aber eben so, daß nun gerade 
das Unrecht für das Recht, die Lüge für die Wahrheit, die 
Ohnmacht für die Macht, der sündige Mensch für den 
gnädigen Gott Zeugnis ablegen muß, daß Gott und 
sein Tun für den Menschen sich auch in dem spiegelt, ja 
offenbart, was der Mensch gegen Gott gewollt und getan 
hat. Hier triumphiert Gottes Gerechtigkeit und Liebe dar¬ 
in, daß sie in dem Bild und Gleichnis der menschlichen 
Ungerechtigkeit und Feindschaft sichtbar und herrlich wird. 
Daß Paulus es so meint, wird klar in Vers 15—17, wo er 
immer wieder darauf hinweist, wie gänzlich ungleich die 
beiden Partner und ihr Werk für Alle, für die Vielen, sich 
in Wahrheit gegenüberstehen, wie die Gnade Gottes und 
des Menschen Sünde und Bestrafung (v. 15), Gottes Gnade 
und Gottes Gericht (v. 16), die Herrschaft des Lebens und 
die Herrschaft des Todes (v. 17) sich eben nicht die Waage 
halten, nicht paritätisch den Charakter von Wirklichkeit 
haben, sondern wie das Erste durch das Zweite faktisch 
aufgewogen und aufgehoben, überwunden, übertroffen, 


74 


besiegt und aus dem Wege geräumt ist. So also, gerade in 
dieser Ungleichheit, wollen diese Partner und will ihrer 
beider Werk für Alle, für die Vielen, gesehen und ver¬ 
standen werden. Und es zeigt sich dieselbe Absicht des 
Paulus noch schärfer in den Stellen über das Gesetz in 
Vers 13—14 und Vers 20, welche sagen, daß auch die Offen¬ 
barung und Geltung des Gesetzes — scheinbar die schreck¬ 
liche Verschärfung des Gegensatzes, scheinbar die Verewi¬ 
gung der Sünde Adams und des über ihn gesprochenen 
Urteils — in Wirklichkeit — wie es uns in Kap. 1,18 — 3, 20 
in anderer Weise gezeigt wurde — der Offenbarung der 
gnädigen Entscheidung Gottes nur dienen konnte und fak¬ 
tisch gedient hat, wie die Gnade gerade da überströmte, 
wo die Übertretung des Menschen durch seine Begegnung 
mit dem heiligen Willen Gottes als Übertretung, in ihrer 
Gestalt als Feindschaft gegen Gott, in ihrer Todeswürdig¬ 
keit sichtbar und aufgedeckt wurde. So also, und nur so 
steht es mit dem, was gegen uns spricht laut unserer gan¬ 
zen menschlichen Wirklichkeit, die eben „Adam“ heißt und 
also Sündenherrschaft und Todesgebundenheit. Gerade das 
Bild dessen, der für uns spricht, vermag diese Wirklichkeit 
uns zu zeigen! Gerade der göttliche Sieger spiegelt sich in 
unserer menschlichen Niederlage! Gerade von Gottes Gna¬ 
de zeugt auch die menschliche Sünde, gerade dann, wenn 
sie in ihrer schärfsten Beleuchtung, nämlich in der durch 
Gottes Willen und Gesetz sichtbar wird, wie sie uns sicht¬ 
bar werden muß. Und gerade vom ewigen Leben zeugt 
der Tod, der ihre notwendige Folge ist. Dann nämlich, wenn 
diese ganze Adamswirklichkeit mit Jesus Christus kon¬ 
frontiert, wenn sie an ihm gemessen und von ihm her ge¬ 
sehen wird. Daß sie mit ihm konfrontiert ist und daß sie 
darum unsere Versöhnung mit Gott, den Frieden mit Gott, 
den wir haben , nicht in Frage stellen, sondern vielmehr 
nur bestätigen kann, daß ist die Voraussetzung, von der 
aus er hier geredet hat. Wenn es bei der in Jesus Christus 


75 


gefallenen Entscheidung, wenn es beim Glauben an ihn sein 
Bewenden hat, dann gibt es keine andere Voraussetzung 
und dann auch hinsichtlich Adams und der ganzen Adams¬ 
wirklichkeit keine andere Folge. 


76 


6, 1—23 


Das Evangelium als des Menschen 
Heiligung 


Das 6. Kapitel bringt eine zweite Erklärung des Sat¬ 
zes in Kap. 1, 16, daß das Evangelium Gottes allmäch¬ 
tiges Rettungswerk für jeden Glaubenden ist. Man kann 
auch sagen: eine zweite Erklärung des Satzes in Kap. 1,17, 
daß der durch seinen Glauben vor Gott Gerechte in diesem 
seinem Glauben leben wird. Des Menschen Errettung durch 
Gottes Gnade, d. h. durch die im Evangelium geschehene 
und ausgesprochene göttliche Rechtsentscheidung, besteht ja 
darin, daß der Mensch leben und zwar ewig, unbedingt, 
jenseits aller Furcht und Macht des Todes leben darf 
(Kap. 5,21; 6,23). Das 5. Kapitel hatte dies dahin erläutert, 
daß es den durch seinen Glauben vor Gott Gerechten als 
den mit Gott versöhnten Menschen beschrieben hat: er ist 
der Feind Gottes, der kraft der unbegreiflichen Liebe Got¬ 
tes in Jesus Christus zu Gottes Freund gemacht ist (Kap. 
5, 1—11) so radikal und tatsächlich, daß er auf das ganze 
Reich der Feindschaft gegen Gott, auf die ganze Welt des 
ersten Adam, in der die Sünde und der Tod regieren, nur 
noch zurückblicken kann als auf ein Vorbild und Gleich¬ 
nis der unendlich viel wahreren und wirklicheren Herr¬ 
schaft der Gnade und des Lebens, und der er, laut der 
Offenbarung der göttlichen Rechtsentscheidung, nun stehen 
darf (Kap. 5,12—21). Die Erläuterung des 6. Kapitels lau¬ 
tet dahin, daß der durch seinen Glauben vor Gott Gerechte, 
der durch Gott geheiligte Mensch ist (v. 19 und 22). Wir 
können den Begriff gleich vorweg so bestimmen: er ist als 


77 


mit Gott versöhnter Mensch wirklich in einen anderen neuen 
Stand versetzt, nicht durch sich selbst, sondern durch Got¬ 
tes Entscheidung, die ihn dahin gestellt hat, aber in Wahr¬ 
heit und Wirklichkeit er selbst. Ihn hat das Licht, das von 
Jesus Christus ihn von außen traf, nicht bloß äußer¬ 
lich getroffen, sondern es ist, indem es ihn von außen 
traf, in ihn hineingegangen. Ihm ist nicht zum Schein, 
sondern in vollem Ernst, mit der ganzen Kraft eines 
göttlichen Schöpferwortes gesagt, daß er ein Gerechter 
ist. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen“ 
(Kap. 5, 5), nicht in Form von besonderen Gesinnungen 
und Gefühlen, wohl aber in Form eines tatsächlichen 
anderen Dranseins, einer anderen neuen Verfassung, 
unter die er selbst — das „Herz“ heißt in der Bibel: 
der Mensch selbst — und weil er selbst, darum allerdings 
auch sein ganzes inneres und äußeres Leben, gestellt ist. 
Der durch seinen Glauben Gerechte „wandelt in einem 
neuen Leben“ (Kap. 6, 4): nicht aus seinem eigenen Ent¬ 
schluß (wie sollte er dazu kommen?), aber allerdings in 
seinem eigenen Entschluß, der dadurch unausweichlich not¬ 
wendig gemacht ist, daß er laut der göttlichen Entschei¬ 
dung Gottes Freund und nicht mehr Gottes Feind ist — in 
dem eigenen Entschluß, der damit selbstverständlich ge¬ 
macht ist, daß er selbst, sein Herz, jene neue Bestimmung: 
die Bestimmung, durch die es erfüllende Liebe Gottes er¬ 
halten hat. Diese Bestimmung ist des Menschen Heiligung. 
Die Heiligung ist ganz und gar Gottes Gnade: sie ist nicht 
des Menschen, sondern Gottes — des in Jesus Christus für 
den Menschen handelnden Gottes — Sache. Niemand kann 
sie sich nehmen. Niemand kann sie von sich aus wollen, 
so oder so gestalten und durchführen. Das 6. Kapitel sagt 
das ganz unmißverständlich. Es sagt aber, daß eben Gottes 
Gnade, eben das Werk des in Jesus Christus für uns han¬ 
delnden Gottes darin besteht, daß wir, wir selbst, tatsäch¬ 
lich in einem neuen Leben wandeln, andere Menschen 


78 


schon sind und daß eben dieses Sein nun auch die Ordnung 
ist, unter der wir stehen und in deren Respektierung wir 
allein existieren können, der Anspruch und Befehl, durch 
den wir in Beschlag genommen sind, dem zu gehorchen 
wir also nicht vermeiden können. Nicht daß wir unsere 
Heiligung erst wahrzumachen hätten durch unseren Ge¬ 
horsam, sagtRöm. 6. Wie wollten wir sie wahrmachen? Sie 
ist als unsere Heiligung — genau so wie unsere Versöh¬ 
nung mit Gott — in Jesus Christus ein für allemal (Kap. 
6, 10) und also keiner Wiederholung und Bestätigung be¬ 
dürftig, wahr gemacht. Aber eben daß dem so ist: „Er ist 
uns gemacht zur Heiligung“ (l.Kor. 1, 30) — er ist uns 
zur Ordnung gemacht, die wir als schon feststehende 
Wahrheit unserer Existenz zu respektieren, der wir also 
zu gehordien haben, das ist es, was in Röm. 6 entwickelt 
wird: von derselben Mitte aus und im gleichen Sinn wie 
das, was wir in Röm. 5 darüber hörten, daß wir mit Gott 
Frieden haben. 

Das Kapitel gliedert sich deutlich in zwei Abschnitte: 
Vers 1—14 und Vers 15—23. Das Thema ist in beiden Ab¬ 
schnitten dasselbe: der durch das Evangelium geheiligte 
Mensch. Aber der Akzent liegt verschieden: Vers 1—14 
(wo der Nerv, wo die eigentliche Aussage des Kapitels zu 
finden ist) steht dies im Vordergrund, daß der veränderte 
Stand des durch seinen Glauben vor Gott Gerechten in 
einem neuen Sein besteht, Vers 15—23 dies, daß dieser 
Stand eine neue im Gehorsam zu respektierende Ordnung 
ist. Es hängt aber alles daran, daß man sieht: es handelt 
sich um eine Akzentverschiebung und wieder nicht etwa 
um ein Erstes, dem ein Zweites erst folgen müßte, nicht 
um eine Ergänzung des guten Willens Gottes durch unsere 
menschliche Bereitwilligkeit und auch nicht um jene Tei¬ 
lung: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ Denn 
das neue Sein ist, wie schon in Vers 1—14 ganz deutlich 
wird, selbst und als solches die im Gehorsam zu respek- 


79 


tierende neue Ordnung des menschlichen Lebens. Und das 
eine Motiv zur Respektierung der neuen Ordnung besteht 
gerade auch in Vers 15—23 darin, daß diese neue Ordnung 
unser neues Sein ist, dessen Gesetz wir auch bei schlech¬ 
testem Willen so wenig ausweichen können als man sich 
in die Luft statt auf den uns tragenden Boden stellen 
kann. Es geht hier wie dort (v. 14 und 23) um Gottes 
Gnade , darum, daß eben sie unsere Heiligung ist und als 
solche an Ernst und Gründlichkeit, an tiefster Beruhigung 
und Beunruhigung des Menschen nichts zu wünschen 
übrig läßt, nicht zu überbieten ist. Es geht hier wie dort 
um die Bestätigung und Entfaltung des Satzes in Kap. 3,31: 
Wir richten das Gesetz auf durch den Glauben. 

Die Gliederung des Kapitels in diese zwei Abschnitte 
ist äußerlich angezeigt durch die zweimalige Erwähnung 
der Frage in Vers 1 und Vers 15 — sie ist inhaltlich hier 
wie dort dieselbe: Darf man, soll man vielleicht gar in 
der Sünde verharren, die Sünde wollen, da man doch unter 
der Gnade steht, damit die Gnade als Triumph über die 
Sünde um so mächtiger, um so herrlicher werde? Die Frage 
ist uns schon in Kap. 3, 7—8 begegnet und wir erinnern 
uns, wie sie dort als Narrenfrage nicht beantwortet, son¬ 
dern, wie es sich gehört, niedergeschlagen wurde. Es ist 
nicht wohl anzunehmen — obwohl es auf den ersten Blick 
so scheinen könnte —, daß wir Röm. 6 nun doch als eine 
Beantwortung dieser Narrenfrage zu verstehen haben. Die 
Antwort, die sie auch hier bekommt, besteht in Vers 1 und 
Vers 15 schlicht in dem einen Wort: „Unmöglich!“ „Das 
sei ferne!“ Unmöglich ist hier schon jede Auseinander¬ 
setzung. Denn wie soll man sich auseinandersetzen, wenn 
man schon auseinander ist? Und was auf dieses „Unmög¬ 
lich!“ in Vers 2 f. und Vers 16 f. folgt, das ist tatsächlich 
eine Erklärung, die nicht von dem Gegensatz zu jener 
Frage bzw. von der in dieser Frage verborgenen Behaup¬ 
tung lebt, die vielmehr um ihrer selbst willen, als positive 


80 


Erklärung einer wichtigen Bestimmung des Evangeliums 
geboten und notwendig ist. Gerade nur als das, was „ferne“ 
ist, kann die närrische Behauptung, die in dieser Frage 
steckt, hier noch und noch einmal auftauchen. Sie signali¬ 
siert gewissermaßen die Existenz des ungeheiligten Men¬ 
schen, der nun auch das Evangelium mit ungeheiligten 
Ohren hören und mit ungeheiligten Lippen aufnehmen 
und wiederholen möchte, wo doch das Evangelium des 
Menschen Heiligung ist, wo doch gerade das Evangelium 
unter keinen Umständen so gehört und wiedergegeben wer¬ 
den, wo also unter keinen Umständen auch nur so gefragt 
werden kann. Redet doch diese Frage von einer Sünde, in 
der der Mensch verharren wollen und von einer Gnade, die 
er, der Mensch, durch sein Tun, nämlich durch sein Ver¬ 
harren in der Sünde, noch größer werden lassen könnte. 
Das ist aber weder die Sünde, die durch das Evangelium 
gerichtet und abgetan, noch die Gnade, die durch das Evan¬ 
gelium geschenkt wird. Es ist bewußt oder unbewußt 
Lästerung des Evangeliums, so zu fragen. Die Frage kann 
gerade nur darum erwähnenswert und interessant sein, 
weil sie in ihrer völligen Narrheit anzeigt, daß das echte 
Evangelium verkündigt worden und mit dem ungeheilig¬ 
ten Menschen zusammengestoßen ist. Immer wenn das ge¬ 
schieht, dann taucht diese Frage auf, dann offenbart sich 
die Unheiligkeit des das Evangelium hörenden Menschen 
darin, daß er es sich mit dieser Frage vom Leibe zu halten 
versucht. Man kann das Auftauchen dieser Frage geradezu 
als Kriterium der Echtheit aller Evangeliumsverkündigung 
bezeichnen. Wo es zu solcher kommt, da stellen die Narren 
sicher diese Frage. Wo sie sie nicht stellen, da besteht 
mindestens der schwere Verdacht, es könnte das Verkün¬ 
digte etwas sehr Anderes als das Evangelium gewesen 
sein. Das nicht mit dieser Frage gelästerte Evangelium ist 
schwerlich das echte Evangelium. Und so steht diese Frage 
zweimal hier, wie sie schon im 3. Kapitel stand, gewisser- 


81 


maßen als Anzeige: das echte Evangelium ist auf dem 
Plan, und zugleich als Warnung: so wie es im Hohlspiegel 
dieser Frage aussieht, sieht das Evangelium in Wirklich¬ 
keit nicht aus. Um die Heiligung gerade des ungeheiligten 
Menschen, der so fragen kann, der wohl so fragen muß, 
geht es im Evangelium. 

Der erste Abschnitt (v. 1—14) beginnt nach der Erwäh¬ 
nung jener Frage (v. 1) mit der abrupten, in Form einer 
Gegenfrage vorgetragenen Feststellung: Wir, die wir der 
Sünde gestorben sind, werden nicht mehr in ihr leben 
(v. 2). Also: Hinter uns ein Tod, unser eigener Tod, so¬ 
fern nämlich unser Leben unser Leben in der Sünde, unter 
der Sünde, für die Sünde gewesen war: das Leben der 
Feindschaft gegen Gott. Vor uns ein Leben, das dieses 
durch Tod erledigte Leben jedenfalls nicht mehr sein wird. 
Daß der Mensch in der Gegenwart lebt, hinter der diese 
Vergangenheit, vor der diese Zukunft steht, das ist seine 
Heiligung. Aber was ist das für eine Gegenwart? Paulus 
antwortet (v. 3): Sie ist die Gegenwart des Menschen, der 
die Taufe auf den Christus Jesus hinter sich hat, dessen 
Vergangenheit, dessen Herkunft schlechterdings diese ist, 
daß er (durch seine Taufe bezeugt) in die Gemeinschaft mit 
Jesus Christus aufgenommen wurde, vermöge derer alles 
das, was in Jesus Christus für die ganze Menschheit ein für 
allemal (v. 10) geschehen ist, nun auch für ihn gilt, nun 
auch ihm zugute kommt. Was in Jesus Christus für die 
Menschheit geschehen ist, ist aber in seinem Tod geschehen. 
Und so ist der, der auf ihn getauft ist, auf seinen Tod 
getauft, will sagen: durch Jesu Christi Tod ist geschehen, 
was auch für ihn geschehen ist, was auch ihm gilt und 
zugute kommt. Es bezeugte also (v. 4) seine Taufe, 
sein eigenes Begräbnis: vollzogen in und mit dem Be¬ 
gräbnis des getöteten Christus im Grabe des Joseph von 
Arimathia. Was kann also seine, des getauften Menschen, 


82 


Zukunft sein? Offenbar nur ein der Erweckung Jesu 
Christi von den Toten Entsprechendes, Vergleichbares, Ähn¬ 
liches, ein Leben, das in der Auferstehung Christi ebenso 
begründet ist, wie zuvor sein Tod und Begräbnis in Chri¬ 
sti Tod und Begräbnis begründet war: der Wandel in 
einem anderen, das vergangene nicht fortsetzenden, son¬ 
dern schlechterdings überbietenden neuen Leben. Waren 
wir (v. 5) in unserer Taufe „verwachsen“ mit einer Ent¬ 
sprechung seines Todes, zugehörig zu einem ganzen großen 
Gegenbild seines Sterbens und Begrabenwerdens, in dem 
Maß, daß von uns in allem Ernst zu sagen ist: dort, auf 
Golgatha, sind wir selbst gestorben, dort, in jenem Garten, 
sind wir selbst begraben worden, so muß ja dasselbe auch 
im Blick auf seine Auferstehung gelten. Das Gegenbild 
seiner Auferstehung, dem wir zugehören, in das wir kraft 
unserer Taufe „verwachsen“ sind, ist aber eben das neue 
Leben, in dem wir jetzt, von unserer Taufe her, nicht erst 
wandeln sollen, sondern tatsächlich schon wandeln, in die 
Zukunft gehen. Was bedeutet das Alles? Nun, wir er¬ 
kennen (v. 6) — und das ist unsere Erkenntnis Jesu 
Christi, in der unser Glaube seinen Grund hat—, daß „un¬ 
ser alter Mensch“, d. h. wir selbst als Feinde Gottes, in und 
mit dem auf Golgatha gekreuzigten Menschen Jesus ans 
Kreuz geschlagen und also getötet worden sind, so daß 
der „Leib“ (gemeint ist: das Subjekt, die zum Vollzug 
nötige Person) der Sünde, der Mensch, der sündigen kann 
und will und wird, aufgehoben ist: beseitigt, nicht mehr 
vorhanden (also nicht nur: „kraftlos gemacht“!), aus der 
Welt geschafft ist. Wir können der Sünde darum nicht 
mehr dienen, weil der Mensch, der das konnte — der 
überhaupt nichts Anderes konnte als dies: der Sünde die¬ 
nen — gar nicht mehr lebt, gar nicht mehr da ist. Fernerer 
Sündendienst wäre das in sich unmögliche Unternehmen, 
unsere Vergangenheit rückgängig machen zu wollen, den 
laut unserer Taufe schon getöteten und begrabenen alten 


83 


Menschen noch einmal aufleben zu lassen. An den Men¬ 
schen, der jenen Tod — den laut seiner Taufe auch für 
ihn geschehenen Tod Jesu Christi — hinter sich hat, 
hat die Sünde kein Recht, keinen Anspruch mehr (v. 7). 
Er ist aus ihrem Dienst entlassen und kann ihn, wenn er 
schon wollte — es handelt sich um eine entschiedene Rechts¬ 
frage — nicht wieder aufnehmen. Was er vor sich hat, das 
kann auf alle Fälle (v. 8) nur noch ein Leben mit Christus, 
ein seiner Auferstehung entsprechendes, ein von jenem 
Dienst befreites Leben sein: so gewiß Christus — der von 
den Toten auferweckte Christus (v. 9) — keinen neuen 
weiteren Tod vor sich hat, so gewiß der Tod auf ihn keinen 
Anspruch und über ihn keine Gewalt mehr hat, so gewiß 
er (v. 10) der Sünde — als der mit unserer Sünde Be¬ 
ladene, als der für unsere Sünde Büßende, als der die 
Strafe unserer Sünde Erleidende — ein für allemal ge¬ 
storben ist, so gewiß er jetzt Gott: Gott allein und in kei¬ 
ner Weise einem künftigen Tod entgegenlebt: das reine, 
das unbedingte, das ewige Leben des zur Rechten des Va¬ 
ters erhöhten Menschen. Was bleibt dem auf ihn getauften 
Menschen schon übrig, als jene Gegenwart, von der aus er 
seine Vergangenheit und seine Zukunft so ansehen muß, 
wie sie in dem erstaunlichen Satz in Vers 2 beschrieben 
wurde? Welche andere Selbstbetrachtung und Selbstbeur¬ 
teilung (v. 11) soll ihm erlaubt und möglich sein als die: 
Ich bin für die Sünde tot, abwesend, nicht mehr vorhan¬ 
den, idi bin von der Sünde abgeschnitten und getrennt — 
ich lebe, weil nicht mehr für sie, darum für Gott, der diesen 
Schnitt zwisdien ihr und mir vollzogen hat: in Christus 
Jesus nämlich, auf Grund dessen und in Wahrheit dessen, 
daß ich zu jenem Gegenbild seines Sterbens und seines 
Lebens gehöre — auf Grund dessen und in Wahrheit 
dessen, daß, was ihm geschah, für mich geschah, mit sol¬ 
cher Autorität und Legitimität für mich geschah, daß, 
was immer aus mir und durch mich geschehen möge, durch 


84 


jenes für mich Geschehene nicht nur zugedeckt, sondern 
ausgewischt ist, daß ich nicht mehr unter meiner eigenen, 
sondern unter seiner Verantwortlichkeit stehe, nicht mehr 
mir selbst, sondern eben ihm gehöre. Das ist die Selbst¬ 
betrachtung und Selbstbeurteilung des Glaubens (v. 8), 
in der wir unsere Heiligung erkennen und ihr werden 
wir hinsichtlich unserer Existenz, hinsichtlich alles dessen, 
was aus uns und durch uns geschieht, nichts Anderes ent¬ 
nehmen können als dies (v. 12), daß die Sünde nicht mehr 
herrschen darf „in unserem sterblichen Leibe“, d. h. in 
dem Sterblichen, was jetzt und hier noch unsere Gestalt 
ist als Subjekte, die von dem Subjekt Jesus Christus 
verschieden sind. Sie darf es nicht, weil sie es nicht mehr 
kann, weil wir ja gerade in dieser Gestalt getauft, mit 
dem Gegenbilde seines Todes und seiner Auferstehung „ver¬ 
wachsen“ und damit der Sünde gestorben, von der Sünde 
abgeschnitten, der Herrschaft der Sünde entrückt sind. Die 
Begierden, die dieser unserer sterblichen Gestalt als solcher 
eigentümlich sind, haben darum keinen legitimen Anspruch 
auf unseren Gehorsam, weil wir schon in dieser unserer 
sterbenden Gestalt nicht uns selbst, sondern Jesus Chri¬ 
stus gehören, weil das Subjekt, das der Sünde untertan 
und gehorsam sein müßte und könnte, schon jetzt und hier 
nicht mehr lebt, weil wir auch in dieser sterbenden Gestalt 
eine andere Zukunft als die in der Zugehörigkeit zu Jesus 
Christus nicht vor uns haben. Aus jener Selbstbetrachtung 
und Selbstbeurteilung folgt also das Verbot: „Gebt eure 
Glieder (eure Lebensmöglichkeiten und Lebensäußerungen 
in jeder Hinsicht!) nicht her zu Werkzeugen der Unge¬ 
rechtigkeit!“ und folgt das Gebot: „Stellt euch Gott (als 
das, was ihr seid) als solche, die aus Toten zu Lebenden 
geworden sind, zur Verfügung und eure Glieder zu Werk¬ 
zeugen der Gerechtigkeit für Gott!“ (v. 13). Tut jenes 
nicht, weil ihr es nicht tun könnt! Tut dieses, weil dieses 
das allein Mögliche ist: weil (v. 14) die Sünde nicht über 


85 


euch herrschen wird. Man beachte die Erklärung des Im¬ 
perativs von Vers 12 durch diesen Indikativ. Die Sünde 
wird nie und unter keinen Umständen ein Herrschafts¬ 
recht, eine wirkliche Macht, über euch haben: auch wenn 
ihr jenes tun und dieses nicht tun würdet. Es kann von 
irgend einer Begründung der Sünde bei euch, den getauf¬ 
ten Menschen, keine Rede sein. Gerade bei euch nicht! 
Weil ihr ja nicht unter dem Gesetz steht, das euch noch 
einmal der Sünde anklagen, das bestätigen könnte, daß 
ihr Sünder seid, sondern unter der Gnade, durch die ihr 
von der Sünde freigesprochen seid, weil ja eben der Richter 
selbst nicht gegen, sondern für euch gesprochen und gerade 
damit Gottes Rechtsentscheidung über euch ausgesprochen 
und schon an euch vollzogen hat. Weil es mit eurer Heili¬ 
gung steht, daß sie unabhängig von eurem guten oder 
bösen Willen Ereignis ist, weil das Nein der Sünde und das 
Ja zu einem neuen, der Sünde abgewandten, Gott zuge¬ 
wandten Leben für euch endgültig und darum schon jetzt 
und hier gültig feststeht, darum müßt ihr, darum sollt 
ihr nicht mehr das Leben des alten Menschen leben, dar¬ 
um in dem neuen Leben wandeln. Ihr habt gar kein ande¬ 
res! Ihr habt nur das Leben in der Gemeinschaft mit 
dem, der die Sünde, gerade eure Sünde, auf sich genom¬ 
men und hinweggetragen und der nun ganz allein das 
Leben mit Gott vor sich hat. Das ist die Kraft des Impe¬ 
rativs eurer Heiligung. 

Der zweite Abschnitt (v. 15—23) rückt nach nochmaliger 
Erwähnung jener Narrenfrage (v. 15) dies in den Vorder¬ 
grund, daß die, die laut Vers 14 unter der Gnade stehen, 
eben damit unter einer bestimmten Ordnung, in ein Dienst¬ 
verhältnis versetzt sind. Man beachte, daß Paulus in Vers 19 
sagt, daß es sich bei dieser Betrachtungsweise um eine 
„menschliche Weise“ handelt, angebracht „um der Schwach¬ 
heit eures Fleisches willen“, von ihm dazu eingeführt, um 


86 


sich ganz und sicher und jedenfalls praktisch verständlich 
zu madien, wenn etwa das Vers 1—14 Gesagte nicht greif¬ 
bar genug geworden sein sollte — aber auch unter der War¬ 
nung, daß das Greifbare, das Praktische, was nun kommt, 
doch ja nicht abstrakt, ja nicht anders als im Lichte, nicht 
anders denn als Anwendung dessen gehört und verstanden 
werden möchte, was er dort gesagt hat. 

Der Mensch steht so oder so unter einer Herrschaft, 
hören wir in Vers 16. Er ist entweder ein Knecht der 
Sünde oder ein Knecht des Gehorsams. Sünde und Ge¬ 
horsam sind also nicht zuerst unsere Taten, sondern be¬ 
vor sie das sind, die uns so oder so beherrschenden 
Mächte. Das ist aber die nicht genug zu preisende Gnade 
Gottes (v. 17), daß wir Knechte der Sünde wohl waren, 
aber nun nicht mehr sind; sind wir doch dem Evange¬ 
lium, indem es uns gesagt und von uns vernommen 
wurde, von Herzen und also mit unserer ganzen Existenz 
gehorsam und so zu Untertanen jenes. zweiten Bereichs, 
zu Knechten des Gehorsams geworden: von der Sünde 
befreit und zu Knechten der Gerechtigkeit gemacht. Zu 
Knechten? Hier schaltet Paulus (v. 19) jene Bemerkung 
ein: es geht ja, eigentlich geredet, nicht um Knechtschaft 
in diesem neuen Stand, sondern gerade um Freiheit. 
Aber sei es denn: es kann jedenfalls das, daß wir nicht 
mehr Knechte der Sünde sind, daran klar gemacht wer¬ 
den, daß wir jetzt tatsächlich unter einer anderen Herr¬ 
schaft, in einem neuen Reich leben, „Knechte der Freiheit“ 
sind — so würde wohl das Eigentliche lauten, was Pau¬ 
lus hier nur uneigentlich „menschlicher Weise“ gesagt 
haben will. Wieder wird jetzt das alte vergangene Leben 
der Sündenknechtschaft (Kap. 5, 12 f.) zum Gleichnis des 
Lebens, das vor uns liegt: wie damals so jetzt! So jetzt: 
diese bessere Entsprechung der Herrschaft, unter der wir 
damals standen, ist unsere Heiligung, das Leben unter 
dem göttlichen Ja, durch das unser Leben unter dem 


87 


göttlichen Nein überholt, überboten und erledigt ist. Und 
dem folgt in Vers 20—22 die Gegenüberstellung: „Wie 
ihr damals unter einer Herrschaft standet und jetzt wie¬ 
der unter einer Herrschaft steht, so wart ihr damals frei: 
von der Gerechtigketi nämlich, in einer furchtbaren Frei¬ 
heit, deren notwendige, schändliche Folge, als Frucht der 
Sünde der Tod ist. Und so seid ihr jetzt wieder frei, 
frei nämlich eben von der Sünde, indem ihr Gottes 
Knechte geworden seid mit der Folge, daß ihr durch seine 
Entsdieidung und die damit aufgerichtete Ordnung ge¬ 
heiligte Menschen seid, die als solche dem ewigen Leben 
entgegeneilen. Also Tod ist dort der Lohn, der Sold, 
(v. 23), ewiges Leben ist hier die Gnadengabe. Ihr seid 
nicht Söldlinge, ihr seid nicht Lohndiener, ihr empfangt 
und habt die Gabe der Gnade. Dieses Empfangen und 
Haben ist euer Sein und dieses als solches ist die Ord¬ 
nung, unter der ihr lebt, der Imperativ, dem ihr zu ge¬ 
horchen habt, weil ihr außerhalb dieser Ordnung über¬ 
haupt nicht da seid. Weil dem so ist, darum ist das Evan¬ 
gelium auch unter diesem Gesichtspunkt notwendig und 
als solches: eure Heiligung. 


88 


7, 1—25 


Das Evangelium als des Menschen 
Befreiung 


Das 7. Kapitel *) bringt eine weitere, dritte Erklärung 
des Satzes in Kap. 1, 16, daß das Evangelium Gottes all¬ 
mächtiges Rettungswerk für jeden Glaubenden ist, eine 
dritte Erklärung des Satzes in Kap. 1, 17, daß der durch 
seinen Glauben vor Gott Gerechte kraft dieses seines 
Glaubens leben wird. Wir hören jetzt: das Evangelium 
ist des Menschen Befreiung — seine Befreiung vom Ge¬ 
setz nämlich. So lesen wir es an der entscheidenden Stelle 
des Gleichnisses am Anfang dieses Kapitels (v. 3) und 
so dann auch in dem Rückblick am Anfang des folgenden 
(Kap. 8, 2). Aber gerade die Stelle in Kap. 8, 2 mahnt 
uns sofort zur Genauigkeit. Daß wir von dem „Gesetz 
der Sünde und des Todes“ befreit sind, heißt es dort, und 
es darf, wenn man Römer 7 verstehen will, an keiner 
Stelle übersehen werden, daß von diesem und nur von 
diesem Gesetz die Rede ist. Daß wir von diesem Gesetz 
befreit sind: für dieses Gesetz erledigt, ihm enthoben, ja 
getötet, das ist die in dem ersten Abschnitt (v. 1—6) 
enthaltene und durch den Schluß (v. 24—25) bestätigte 
eigentliche Aussage unseres Kapitels. Alles übrige ist 
nämlich nicht eine Fortsetzung dieser Hauptaussage, son¬ 
dern eine in zwei weiteren Abschnitten (v. 7—12 und 
v. 13—23) verlaufende Erläuterung des besonderen 
Sinnes, in welchem in Vers 1—6 vom Gesetz die Rede 


*) Vgl. dazu KD IV, i, S. 648 f. 


89 


ist, des besonderen Sinnes also, in welchem dort von ihm 
gesagt wird, daß wir, die an das Evangelium Glauben¬ 
den, von ihm befreit sind. Man vergleiche Kap. 8, 2 mit 
Kap. 7, 7 und Kap. 7, 13, so.bemerkt man sofort, daß 
in jenem zweiten und dritten Abschnitt des 7. Kapitels 
erläutert wird, wieso und inwiefern das Gesetz 1. ein 
Gesetz der Sünde und 2. ein Gesetz des Todes sein kann, 
von dem wir durch das Evangelium befreit sind. 

Das 7. Kapitel ist von jeher eine der am meisten be¬ 
achteten und hervorgehobenen Stellen des Römerbriefes 
gewesen. Dagegen wäre nichts, sondern dafür wäre sehr 
vieles zu sagen, wenn man dabei an die allerdings außer¬ 
ordentliche Tragweite der in Vers 1—6 und Vers 24—25 
ausgesprochenen Erkenntnis von unserer Befreiung vom 
Gesetz der Sünde und des Todes gedacht hätte. Es ist 
aber kein gutes Zeugnis für das Verständnis unseres 
Briefes, daß das besondere Interesse so vieler Leser sich 
gerade nicht auf diese Hauptaussage, sondern auf ihre 
nachträglichen Erläuterungen und vor allem auf die 
zweite in Vers 13—23 gerichtet hat, wo das Gesetz, von 
dem wir befreit sind, im besonderen als das Gesetz des 
Todes, d. h. als das uns zum Tod verurteilende Gesetz 
beschrieben wird. Eine höchst interessante, höchst auf¬ 
regende Psychologie der Sünde in ihrem Verhältnis zu 
Gottes Gesetz meinte man dort zu finden und übersah 
dabei, daß es sich in Vers 13—23 wie Vers 7—12 sozu¬ 
sagen um kleingcdruckte Anmerkungen handelt, in denen 
Paulus die Bedeutung und Wirksamkeit des Gesetzes 
beschreibt, von dem wir im Glauben gerade befreit bzw. 
für das wir selbst im Glauben gerade nicht mehr vor¬ 
handen sind, in denen also eine Situation dargestellt wird, 
die uns nur noch als die im Glauben überholte Situation 
unserer eigenen Vergangenheit interessieren kann, in 
welcher wir uns weder zur Sünde noch zum Gesetz in 
der richtigen Stellung befinden, in der nachträglich zu 


90 


verweilen oder die für sich ernst zu nehmen wir durch 
das, was Paulus über sie sagt, bestimmt nicht eingeladen 
sind. Nicht auf das will er unsere Aufmerksamkeit len¬ 
ken, was da gilt und passiert , von wo wir im Glauben 
weggerufen sind, sondern darauf, daß wir von da, wo 
das gilt und passiert, im Glauben weggerufen sind: also 
darauf, daß der Bereich der Psychologie der Bereich ist, 
in welchem wir — glaubend an das Evangelium — nichts 
zu suchen und nichts zu finden haben — Gnade und Leben 
schon gar nicht, aber nicht einmal die Erkenntnis unserer 
wirklichen Sünde. Inwiefern ist er ernstlich wichtig? Ge¬ 
nau nur insofern, als er der Bereich ist, den wir im 
Glauben an das Evangelium hinter uns, in unserem 
Rücken haben. Von dem Dahintenliegen dieses Bereichs 
redet Röm. 7 auch in den Abschnitten Vers 7—12 und 
Vers 13—23. 

Die Hauptaussage in Vers 1—6 beginnt in Vers 1 mit 
einer rückwärts blickenden Frage: „Oder wißt ihr nicht, 
Brüder...“ — die entscheidende Fortsetzung lautet nach 
Vers 6: daß wir dem Gesetz enthoben und entrückt, für 
das Gesetz erledigt sind? Indem Paulus offenbar an¬ 
nimmt, daß die Leser das nicht oder nicht gut und genau 
genug wissen, setzt er zu dieser weiteren Erklärung an: 
das Evangelium ist auch in dem Sinn Gottes allmächtiges 
Rettungswerk, daß es des Menschen Befreiung ist, seine 
Befreiung vom Gesetze. Die Frage blickt offenbar zurück 
auf eine bestimmte Stelle im 6. Kapitel, nämlich auf 
Kap. 6, 14 (vergl. Kap. 6, 15), wo Paulus den Satz: die 
Sünde wird nicht über euch herrschen, mit dem anderen 
Satz begründet hatte: „Ihr seid nicht unter dem Gesetz, 
sondern unter der Gnade“. Im Zusammenhang der Er¬ 
kenntnis des 6. Kapitels: daß wir darum nicht mehr 
sündigen dürfen, weil wir es nicht mehr können und 
darum nicht mehr können, weil wir als die, die das konn¬ 
ten, im Tode Jesu Christi gestorben und also nicht mehr 


91 


vorhanden, weil wir durch die Auferstehung Jesu Christi 
unter eine Ordnung versetzt sind, die die Sünde aus¬ 
schließt — in diesem Zusammenhang war jener Satz zu¬ 
nächst nur aufgetaucht, um dann wieder zu verschwin¬ 
den. Er hatte vorweggenommen, was jetzt besonders zur 
Aussprache kommen soll: ihr dürft, ihr könnt darum 
nicht mehr sündigen, weil mit euch selbst, nämlidi mit 
eurem im Tode Jesu Christi mitgestorbenen alten Men¬ 
schen auch die eigentliche „Kraft“ der Sünde (so sagt 
Paulus in 1. Kor. 15, 56) nämlich das Gesetz, nicht mehr 
über euch ist, weil ihr als die mit Jesus Christus Gestor¬ 
benen und Auferstandenen unter der Gnade und nicht 
mehr unter dem Gesetz steht. Paulus hatte dasselbe 
schon früher beiläufig angedeutet: „Wo das Gesetz nicht 
ist, da ist keine Übertretung" (Kap. 4, 15). Aber er ver¬ 
mutet offenbar, daß gerade diese Erkenntnis, in Form sol¬ 
cher bloß beiläufigen und andeutenden Sätze vorgetragen, 
die Leuchtkraft nicht haben möchte, die gerade sie haben 
muß. Er vermutet offenbar, daß Anderes, was er bis da¬ 
hin vom Gesetz in ähnlicher Beiläufigkeit gesagt, den 
Lesern viel eindrücklicher gewesen sein oder jenen An¬ 
deutungen doch in rätselhaftem Widerspruch gegenüber¬ 
stehen möchte: „Das Gesetz richtet Zorn an“ (Kap. 4, 15) 
oder „Das Gesetz ist zwischenhineingekommen und so ist 
die Übertretung erst groß geworden“ (Kap. 5, 20). Er 
vermutet offenbar, daß Alles, was er im 6. Kapitel über 
das Evangelium als des Menschen Heiligung gesagt hatte, 
beschattet und bedroht sein könnte durch die Frage: ob 
denn das Gesetz nicht nach wie vor, d. h. trotz des Todes 
und der Auferstehung Jesu Christi, trotz unseres Glau¬ 
bens an ihn und trotz unserer Taufe auf seinen Namen, 
die Sünde immer wieder ins Leben rufe und im Leben 
erhalte, um uns dann als Sünder anzuklagen und somit 
unsere Heiligung, damit aber auch unsere Versöhnung 
mit Gott und also das ganze Rettungswerk des Evange- 


92 


liums zunichte zu machen und Gottes Rechtsentscheidung, 
daß wir im Glauben an Jesus Christus vor ihm Gerechte 
seien, Lügen zu strafen. Ob das Gesetz in dieser Funktion 
und als diese Gefahr für die Glaubenden immer noch 
vorhanden sei? das ist die in Röm. 7 von Paulus ver¬ 
neinte Frage: verneint durch die Erklärung, daß wir vom 
Gesetz, d. h. von diesem Gesetz der Sünde und des Todes 
befreit sind. Es ist eine Erklärung, die allerdings der Er¬ 
läuterung bedarf. Ihrer Erläuterung hinsichtlich der hier 
gemachten Voraussetzung des Gesetzes, das uns zur Sün¬ 
de verführt und andererseits wegen der Sünde anklagt 
und zum Tode verurteilt, dienen die Abschnitte Vers 
7—12 und Vers 13—23. Sie muß aber vor aller Erläute¬ 
rung ausdrücklich ausgesprochen werden. Das geschieht 
in Vers 1—6 und in den Schlußversen in Vers 24—25. 

Vers 1 beginnt mit dem allgemeinen, jedem, der weiß, 
was ein Gesetz ist, bekannten und einleuchtenden Satz, daß 
das Gesetz den lebenden Menschen meint und beherrscht. 
Daß also der Tod dieses Menschen wie seine Verpflichtun¬ 
gen Anderen, so auch alle Verpflichtungen Anderer ihm 
gegenüber hinfällig macht. Der lebende und also dem Ge¬ 
setz unterworfene Mensch, von dem Paulus redet, ist der 
(nach Vers 5) „im Fleisch“, also als jener „alte Mensch“ 
(Kap. 6, 6) lebende Mensch. Ihn betrifft, ihn bindet zwei¬ 
fellos das Gesetz: das „Gesetz der Sünde und des Todes“ 
(Kap. 8, 2) nämlich, welches Paulus entsprechend der 
Frage, die er zu beantworten hat, zum vorherein allein 
im Auge hat: das Gesetz, durch das (nach v. 5) einerseits 
die Sündenleidenschaften in unsern Gliedern, in unserm 
ganzen Leben erregt, andererseits Todesfurcht (Kap. 6, 21) 
durch das Urteil, das es über uns spricht, notwendig ge¬ 
macht wird. Das Leben dieses Menschen wird immer und 
unter allen Umständen sein Leben unter diesem Gesetz 
sein. Und nun setzt in Vers 2 eine Gleichnisrede ein. So- 


93 


lange dieser Mensch, dieser Mann, heißt es jetzt — lebt, 
ist seine Frau durch das ihn — und solange er lebt, 
auch sie — verpflichtende Gesetz an ihn gebunden. Mit 
anderen Worten: Solange wir (der Mann!) im Fleische 
als jener alte Mensch leben, sind wir (die Frau!) durch 
das jenen alten Menschen und mit ihm uns selbst bin¬ 
dende Gesetz bestimmt, stehen wir in der Tat unter der 
Notwendigkeit, durch das Gesetz erst recht zu Sündern und 
dann als solche angeklagt zu werden. Das Gesetz des 
lebenden Mannes ist, solange er lebt, auch unser Gesetz. 
Stirbt der Mann (d. h. wir selbst als die im Fleisch Leben¬ 
den), dann ist die Frau wie ihm, so audi dem sie und 
ihn bindenden Gesetz entrückt, d. h. dann sind wir selbst 
als die durch den Tod des alten Menschen in einen neuen 
Stand Versetzten nicht mehr unter jener Notwendigkeit; 
das Gesetz als Erreger und Ankläger unserer Sünde hat 
dann uns gegenüber seine Kraft verloren. Es bedarf frei¬ 
lich (v. 3) des Todes jenes Mannes, damit seine Frau 
rechtmäßig frei werde. Würde sie sich diese Freiheit neh¬ 
men und zu Lebzeiten ihres Mannes einem anderen ge¬ 
hören, dann würde sie durch das Gesetz, das sie an ihn 
bindet, als Ehebrecherin verklagt und gerichtet sein. Mit 
anderen Worten: ohne den Tod des alten Menschen 
könnte jeder Versuch, uns dem Gesetz der Sünde und des 
Todes zu entziehen, jeder Versuch, der Sünde und dem 
Tod zu entlaufen, nur die Folge haben, daß wir durch 
dasselbe Gesetz erst recht der Sünde überführt und des 
Todes schuldig gesprochen würden. Was bringen wir, so¬ 
lange und sofern wir im Fleische leben, in dieser Riditung 
schon fertig, als das, was das Alte Testament als quali¬ 
fizierten Ehebruch Israels seinem Gott gegenüber bezeich¬ 
net: allerlei Götzendienst und allerlei Werkgerechtigkeit, 
Sünde, die die Sünde nicht austreibt, sondern erst zu ihrer 
Blüte bringt und die unser Todesurteil nur unwiderruf¬ 
lich machen kann? Die Frau kann aber von dem Gesetz, 


94 


das sie an den Mann bindet, dadurch faktisch frei wer¬ 
den, daß jener stirbt. Sie kann dann laut desselben Ge¬ 
setzes, das sie an jenen band, ohne Anklage einem ande¬ 
ren gehören. Mit anderen Worten: wir können von dem 
Gesetz der Sünde und des Todes dadurch faktisch und 
damit auch rechts- und ordnungsmäßig frei werden, daß 
wir als die, die im Fleische lebten, nicht mehr da, nicht 
mehr anzusprechen, weil getötet und gestorben sind, so 
daß uns das diesen alten Menschen angehende Gesetz 
nicht mehr angeht, so daß wir nun — anderswo als 
unter diesem Gesetz — andere, von seinem Erregen 
und Verurteilen der Sünde nicht mehr betroffene, son¬ 
dern befreite Menschen sein können. Vers 3—6 bringen 
die Deutung des Gleichnisses. Sie setzt bei dessen letztem 
Gliede ein. Für den Glaubenden ist eben das Ereignis, 
was die Frau vom Manne und damit von ihrer eigenen 
Bindung durch das Gesetz frei macht. Sie sind (laut Kap. 
6, 2 f.) dem Gesetz der Sünde und des Todes dadurch 
entrückt, daß ihr alter Mensch getötet, nämlich mitgetötet 
wurde in der leiblichen Tötung Jesu Christi. Aber hier 
sprengt nun die Sache das Gleichnis. Denn mit dieser 
ihrer in Jesus Christus geschehenen Tötung sind sie ja 
nicht nur wie jene Frau in die Freiheit gesetzt, irgend 
einem anderen angehören zu dürfen, sondern dazu ge¬ 
schah jene Tötung, damit sie dem ganz bestimmten ande¬ 
ren: demselben, mit dem sie gestorben, der ja auch der 
von den Toten Auferweckte ist, angchören sollten, um in 
dieser legitimen und notwendigen neuen Verbindung und 
Zugehörigkeit Gott und nicht mehr dem Tode Frucht 
bringen zu dürfen. Es ist die die Sünde erregende und 
verurteilende Wirkung des Gesetzes — der sie nicht ent¬ 
fliehen können, der sie nur entfliehen wollen, die sie mit 
allem Entfliehenwollen nur schlimmer machen könnten — 
für sie damit Vergangenheit geworden, daß sie selbst 
(nämlich hinsichtlich ihres Lebens im Fleische) Vergangen- 


95 


heit wurde (v. 5). So zur Vergangenheit, wie eben der Tod 
Vergangenheit schafft (v. 6) — nicht irgendein Tod freilich 
(der Tod als solcher könnte ja nur ein Vakuum schaffen), 
sondern der Tod Jesu Christi, der nicht nur das Fest¬ 
haltende, die Klammer auflöst: die Existenz, in der sie 
jenem Gesetz verhaftet waren, sondern der mit dieser 
Auflösung, so gewiß er von den Toten auferstanden ist, 
den dieses Todes Gestorbenen frei macht für die ganz 
andere Bindung: für den Dienst in dem neuen Wesen 
des Geistes, das genau dort anfängt, wo das alte Wesen 
des Buchstabens, d. h. eben das Regiment, die Gültigkeit 
und Wirkung jenes Gesetzes aufhört. „Gott sei Dank 
durch unsern Herrn Jesus Christus!“, so wird Paulus 
am Ende des Kapitels (v. 25) ausrufen — Gott sei Dank, 
der mich elenden Menschen dem „Leib dieses Todes“, d. h. 
der durch das Gesetz unvermeidlich zur Todesverfallen- 
heit bestimmten Menschenexistenz entrissen hat — der 
Existenz, der ich mich selbst nicht entreißen konnte noch 
kann, angesichts derer ich nur seufzen konnte, und indem 
ich sie erledigt hinter mir sehe, auch jetzt nur seufzen 
kann: Wer wird mich ihr entreißen? — der ich aber in 
Jesus Christus durch den Tod, den er diesem meinem 
Todesleib bereitet hat, der meiner Existenz in ihm zuteil 
geworden ist, schon entrissen bin (v. 24)! Mag sie als ge¬ 
tötete, als meine eigene Vergangenheit immer noch meine 
Existenz, immer noch vor Gottes und meinen eigenen 
Augen sein, mag es also sein, daß ich im Fleische — in 
meinem in Jesus Christus in den Tod gegebenen Fleische! 
— noch immer, täglich und bis an mein Ende, jenem „Ge¬ 
setz der Sünde“ diene — ich selbst, ich in meinem Innern, 
ich als der sich selbst lebend findet im Leben Jesu Christi, 
ich diene heute schon dem Gesetz Gottes (v. 25). Ich bin 
wirklich frei von dem Gesetz, das das Gesetz der Sünde 
und des Todes ist, mag es immer das Gesetz sein, dem ich 
mein in Jesus Christus getötetes Fleisch noch heute unter- 


96 


worfen sehe. Was es mit dem Leben in diesem anderen 
Dienst, in dem neuen Wesen des Geistes auf sich hat, da¬ 
von wird Paulus im 8. Kapitel reden und sich dort unter 
einem neuen, vierten Aspekt erklären, wie das Evange¬ 
lium Gottes allmächtiges Rettungswerk ist. 

Er gibt uns vorher in dem übrigen größeren Teil des 
7. Kapitels noch zwei Erläuterungen hinsichtlich der 
wichtigsten Voraussetzung, die er in Vers 1—6 hinsicht¬ 
lich des Gesetzes gemacht hat: daß das Gesetz, von dem 
wir befreit sind, das „Gesetz der Sünde und des Todes“ 
ist. Nur unter dieser Voraussetzung und nur in diesem 
Sinn kann es offenbar eine Befreiung vom Gesetz geben. 
Nur von diesem Gesetz kann der Glaubende frei sein. 
Wir wissen ja, daß Paulus das Gesetz nicht aufzuheben, 
sondern aufzurichten gedenkt durch den Glauben (Kap. 
3, 31), durch die Verkündigung des Evangeliums. Er hat 
es wahrhaftig im vorangehenden 6. Kapitel deutlich ge¬ 
nug aufgerichtet! Er sagt ja auch in unserem Kapitel, 
daß es sich in der gewonnenen Freiheit gegenüber jenem 
Gesetz um das Dienen in einem neuen Wesen und also 
sicher nicht um Gesetzlosigkeit handelt (v. 6) und am 
Ende des Kapitels ausdrücklich: daß er in seinem Innern, 
er selbst (im Gegensatz zu seinem getöteten Leben im 
Fleische) dem Gesetz Gottes dienen dürfe und tatsächlich 
diene (v. 25). Und er wird nachher (Kap. 8, 2) sogar noch 
stärker sagen: daß es gerade dieses Gesetz Gottes („Das 
Gesetz des Geistes und Lebens“) ist, das den Menschen 
frei macht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. 
Was aber hat es mit diesem Gesetz der Sünde und des 
Todes auf sich? Wie kommt es zur Existenz, und welches 
sind die Funktionen dieses Gesetzes, von dem letztlich 
und entscheidend nur dies zu sagen ist, daß das Evan¬ 
gelium uns von ihm befreit, daß wir als Glaubende nicht 
unter ihm stehen? 


97 


„Ist das Gesetz Sünde?“ läßt sich Paulus (v. 7) fragen 
und antwortet entsetzt (mit demselben Entsetzen wie in 
Kap. 6, 2 und Kap. 6, 15): „Das sei ferne!“ Das Gesetz 
ist (Kap. 3, 21) die Bezeugung des Evangeliums, die 
Form, die Schale, in der das Evangelium zu uns Men¬ 
schen kommt. Wie sollte das Evangelium anders zu uns 
kommen als in Gestalt von Mahnung, Warnung, Wei¬ 
sung, Befehl, Gebot und Verbot? In dieser Gestalt — in 
der Gestalt des Gesetzes also — hat Paulus selber es in 
Kap. 1, 18 — 3, 20 geltend gemacht zur Verkündigung 
des durch das Evangelium vollzogenen Gerichtes über 
alle Menschen. Eben als diese Gestalt des Evangeliums 
hat Paulus selbst das Gesetz in allen seinen Briefen und 
so auch im Römerbrief verkündigt. Als Gestalt des Evan¬ 
geliums ist das Gesetz, weit entfernt davon, Sünde zu 
sein, vielmehr die Offenbarungsgestalt der Gnade Gottes. 
Eben als solche ist es heilig, ist sein Gebot — jedes seiner 
Gebote — heilig und gerecht und gut (v. 12). Aber das 
Gesetz (und in seiner Gestalt das Evangelium) wird ja 
offenbar im Bereich der Sünde. Dem sündigen Menschen 
ist es gegeben, und in seinen Augen, Ohren und Händen 
wird es, vermöge der ihn beherrschenden Sünde, dieses 
andere Gesetz, von dem er durch das, was es als Gottes 
Gesetz in sich schließt, nämlich durch das Evangelium, 
durch den Glauben, der im Gesetz das Evangelium emp¬ 
fängt und ergreift, befreit werden muß und tatsächlich 
befreit wird. Es gehört zu der Herablassung Gottes, daß 
er sich selbst im Gesetz als der Gestalt des Evangeliums 
der Sünde preisgibt, dem menschlichen Mißverständnis 
und Mißbrauch aussetzt. Es gehört zu seiner Heiligkeit, 
daß eben die von sündigen Menschen mißbrauchte Gestalt 
seiner Gnade zum Instrument seines Zornes und Ge¬ 
richtes über den Menschen werden muß, daß der Mensch, 
der sich dieses Mißbrauchs schuldig macht, es auch in 
dieser mißbrauchten Gestalt mit Gott selber zu tun hat, 


98 


nur daß ihm nun eben durch sie die Erfahrung zuteil 
werden muß, daß Gott seiner nicht spotten läßt. Und es 
gehört zu Gottes Barmherzigkeit und zu seiner Allmacht 
zugleich, daß er sich diesen Mißbrauch der Gestalt seiner 
Gnade schließlich nicht gefallen, daß er es dabei, daß sie 
vom Menschen mißbraucht wird, nicht sein Bewenden ha¬ 
ben, sondern das im Gesetz verborgene Evangelium in 
Jesus Christus auch aus seiner verunreinigten Schale 
hervorbrechen und eben damit auch diese, auch das Ge¬ 
setz als sein Gesetz, als das heilige Gesetz des Geistes 
des Lebens, wieder erstehen und neu offenbar werden 
läßt. Verse 7—11 beschreiben diesen Mißbrauch des Ge¬ 
setzes und erläutern damit, inwiefern es — indem es 
in sich etwas ganz anderes als Sünde ist — nun doch 
das „Gesetz der Sünde“, d. h. das die menschliche Sünde 
erregende, mehrende und offenbarende Gesetz werden 
kann, von dem wir durch das Evangelium befreit sind. 
Wir hören, daß die Sünde am Gesetz entsteht: in der 
Begegnung des Menschen mit dem Gesetz. Der Mensch 
kannte sie nicht; sie war und ist ihm fremd, solange er 
nicht der Gnade Gottes in der Form des an ihn gerich¬ 
teten Anspruchs, in der Gestalt des Gesetzes begegnet. 
Sie ist wohl auch ohne das Gesetz da, aber sie lauert vor 
der Türe, sie hat keinen Anlaß (kein Sprungbrett!), um 
zu der Tat zu werden, die uns zu Feinden Gottes macht 
und damit dem Tod überliefert. Sie ist noch tot (v. 8)! 
Sie erwacht aber zum Leben, sie findet Anlaß und 
Sprungbrett, indem ich dem Gesetz begegne. In dieser 
Begegnung erhebt sie sich, wird sie aktiv, betrügt sie 
mich, wird sie meine eigene Sünde und so der Grund 
meiner eigenen Verdammnis. Denn indem das Gesetz mich 
fordert für Gott und gegen meine eigene Begierde, flü¬ 
stert die Sünde mir ein, daß ich dieser Forderung selbst 
Genüge tun, daß ich mich selbst reinigen, rechtfertigen 
und heiligen solle. Sie flüstert mir ein, daß ich für die 


99 


mir im Gesetz angebotene Gnade zu gut sei, daß ich sie 
zurückstoßen und statt des mir durch Gottes Gesetz be¬ 
fohlenen Glaubens mein eigenes Werk, meine eigene 
Frömmigkeit und meine eigene moralische Leistung vor 
Gott hinstellen und mich dadurch Gottes würdig machen 
solle. Sie flüstert mir ein, daß Gott doch gewiß nicht ge¬ 
sagt haben könne, daß ich ihm nicht gleich sein, daß ich 
mir an seiner Gnade genügen lassen solle, daß er viel¬ 
mehr bestimmt gemeint habe, ich selber, ein anderer Gott 
neben ihm, solle tun, was er für mich tun will. Mit dieser 
Einflüsterung und indem ich dieser Einflüsterung Gehör 
gebe, erwacht die Sünde; damit wird sie zur Tat und 
zum Ereignis. Eben jetzt, in diesem Mißverständnis und 
Mißbrauch des Gesetzes, durch die mir inne wohnende 
Sünde, deren ich mich jetzt schuldig mache, werde ich der 
verbotenen Begierde schuldig: der Begierde, zu sein wie 
Gott. Und eben damit, als der so Begierige — begierig 
eigenen Ruhmes vor Gott, wo mir sein Ruhm genügen, 
wo ich seinem Ruhme dienen sollte, um darin meinen 
Ruhm zu haben — werde ich des Todes schuldig, hat 
mich die Sünde, die mich verführte und betrog, habe ich 
mich selbst, indem ich mich von ihr verführen und be¬ 
trügen ließ, dem Tode ausgeliefert. Die Sünde? Ich sel¬ 
ber? Jawohl, die Sünde, jawohl, ich selber, aber die Sünde 
und vermöge der Sünde ich selber gerade durch das Ge¬ 
setz: die durch das Gesetz lebendig, kräftig gewordene 
Sünde, ich selber als der in meiner Begegnung mit dem 
Gesetz zum aktiven Sünder gewordene sündige Mensch. 
Was mich zum Leben, weil zum Gehorsam führen sollte: 
Gottes heiliges Gebot, eben das wurde mir zur Anleitung 
zum Ungehorsam und so zum Tode. Denn das ist der Un¬ 
gehorsam, das die lebendige, kräftige Sünde, neben der 
alle anderen nur Puppensünden sind: die Verachtung der 
Gnade Gottes, der menschliche Griff nach dem, was er für 
uns sein und tun will, der Versuch, uns selber zu retten, 


100 


zu sichern, zu erheben, wo er unsere Errettung, Siche¬ 
rung und Erhöhung allein sein will. Alles was Gott ver¬ 
boten hat, ist darum verboten, weil es in seiner Wurzel 
und in seinem Wesen dieses eine Verbotene: der Akt 
unseres Hasses gegen Gottes Gnade ist. Weil und indem 
wir dieses Verbotene tun, darum und damit alles andere. 
Und daß uns dieses verbotene Tun vergeben werde — da¬ 
mit wirksam vergeben, daß wir andere Menschen wer¬ 
den, die eben das nicht mehr tun können und wollen —, 
darum und also (mit der Befreiung von uns selbst) um 
die Befreiung von dem mißbrauchten Verbot und Gebot, 
um die Wiederherstellung des Gesetzes, wie Gott selbst 
es uns gegeben und wie er es gemeint hat, geht es bei 
dem Durchbruch und der Offenbarung des Evangeliums 
im Gesetz, um derentwillen Paulus am Schluß unseres 
Kapitels Gott danksagt durch unseren Herrn Jesus Chri¬ 
stus. 

„So ist das Gute (das nach Vers 12 heilige, gerechte, 
gute Gebot des Gesetzes Gottes) mir zumTode geworden?“ 
(v. 13). Das ist die zweite Frage, die Paulus sich stellen 
läßt und die er wieder mit seinem „Unmöglich“ beant¬ 
wortet. Wohl bin ich durch das Gesetz zum Tode verur¬ 
teilt, wie ich nach Vers 7—12 durch das Gesetz zur 
Sünde veranlaßt bin. Aber es besteht hier wie dort kein 
Grund, das Gesetz, wohl aber aller Grund, die Sünde anzu¬ 
klagen, die darin als Sünde offenbar wird (die mich darin 
zum unentschuldbaren Sünder macht und mich dem ver¬ 
dienten Tode überliefert), daß sie sich gerade des Gesetzes 
bemächtigt und bedient. Nicht das Gute also, aber aller¬ 
dings die Sünde durch das verkehrte Gute hat mir den 
Tod bereitet. Indem das Gesetz mir das Gute sein, mir 
zum Leben verhelfen wollte, verführte mich die Sünde 
zu dem Irrglauben, daß ich doch auch noch etwas Anderes 
und Besseres sei als ein Sünder, leitete sie mich an, mich 
selbst für im Grunde gut zu halten und also für fähig, 


101 


mir selbst zu helfen — verlockte sie mich, in scheinbarem 
Gehorsam gegen das Gesetz gerade das zu tun, was durch 
das Gesetz verboten ist: mich selbst durch meine eigene 
Güte sündlos machen zu wollen. Eben in diesem Mi߬ 
brauch des mir gegebenen Gebotes ist die Sünde „über 
die Maßen sündhaft“ geworden und hat sie mich tödlich 
getroffen. Hat sie mich doch damit des mir, dem Sünder, 
durch den Rechtsspruch des gnädigen Gottes zugesagten 
Lebens beraubt. Sie erzog mich zu einem vermeintlichen 
und angeblichen Heiligen , und eben damit verursachte sie 
meinen hoffnungslosen Fall. Denn eben damit setzte sie 
mich in Widerspruch zu dem Gott, der sich der Elenden 
erbarmt und der die Toten auferweckt, vor dem darum 
alle menschliche Heiligkeit aus eigener Kunst und Kraft 
nur Greuel sein kann, für den wir als solche Heilige ver¬ 
loren sind. Von diesem Verlorensein des durch die 
triumphierende Sünde zu einem solchen wunderlichen 
Heiligen gemachten Menschen reden die Verse 14—23. Der 
auf diesem Weg befindliche Mensch weiß (v. 14), daß das 
Gesetz geistlich ist und er weiß (v. 18), daß das Gute 
nicht in ihm, nämlich nicht in seinem Fleische wohnt. 
Weiß er das? Wie kann er dann noch ein solcher Heiliger 
sein wollen? Paulus will in der Tat sagen, daß man das 
unmöglich sein wollen kann, sofern man weiß, was das 
Gesetz — auch das von der Sünde mißbrauchte Gesetz, 
weil es Gottes Gesetz und also die Offenbarung der 
Wahrheit ist und bleibt — solchen, die solche Heilige sein 
wollen, zu sagen hat. Es offenbart ihnen nämlich schlicht 
ihren Tod, sofern es ihnen nichts anderes zu zeigen hat 
als dies: daß sie als solche, die das sein wollen, gewisser¬ 
maßen mitten entzwei gerissen werden. Mit dem Gesetz 
Gottes ist nicht zu scherzen! 

1. Wer sich, von der Sünde verführt, herausnimmt, das 
Gesetz selber erfüllen und sich damit der Gnade Gottes 
selber und von sich aus versichern zu wollen, dem hat 


102 


es, eben weil es geistlich ist, weil es zweifellos den unbe¬ 
dingten Gehorsam des ganzen Menschen fordert, nichts 
zu sagen als dies (v. 14), daß er fleischlich ist, daß er als 
Mensch vor Gott nicht bestehen, seinen Plan, ihm gerecht 
zu werden und sich selbst zu rechtfertigen, nicht aus¬ 
führen kann, weil er — dieser sein Plan verrät es deut¬ 
licher als alles Andere — in einem nicht rückgängig zu 
machenden Handel an die Sünde verkauft ist. Er wird 
(v. 15) in dem, was er auf der Linie jenes Planes tat¬ 
sächlich fertig bringt, das, was er damit will, nicht wieder¬ 
erkennen. Das Gesetz Gottes wird ihn vielmehr dessen 
überführen, daß er tut, was er nicht will, was er selbst 
nur verabscheuen kann. Aber wer ist er nun: der Mann, 
der etwas will? Oder der Mann, der gerade das tut, was 
er nicht will? Oder (v. 16) der Mann, der mit seinem 
Abscheu, vor dem, was er tut, nun doch wieder dem Ge¬ 
setze Gottes Recht zu geben scheint? Er hat wohl Grund, 
das zu tun, aber was folgt daraus? Dies (v. 17), daß ge¬ 
rade sein von ihm selbst mißbilligtes Tun und Vollbringen 
gar nicht das seinige, sondern das der in ihm hausenden 
Sünde ist! In ihm! Wird er sich der Solidarität mit diesem 
Gast in seinem Hause ganz entschlagen, wird er sich etwa 
mit seinem Protest gegen dessen Werk rechtfertigen kön¬ 
nen? Sein Protest käme offenbar als Rechtfertigung auch 
dann zu spät, wenn er sich jener Solidarität entschlagen, 
wenn er leugnen könnte, daß die Sünde seine Sünde ist. 
Mag er das versuchen: sicher ist dies, daß er sich mit 
seinem Werk rechtfertigen und heiligen wollte und daß 
er eben dieses sein Werk nun selbst als Werk der Sünde 
verurteilen muß. 

2. Und wer sich, von der Sünde verführt, herausnimmt, 
das Gesetz Gottes selber erfüllen zu wollen, dem hat es 
— indem es sich, seinem eigenen törichten Verlangen ent¬ 
sprechend, ganz und gar an ihn hält — nichts Anderes 
zu sagen, als dies (v. 18), daß das Gute , dessen er zum 


103 


Tun des Guten bedürfte, nicht in ihm wohnt: nicht in 
ihm, der Fleisch, der in seinem Innersten und Tiefsten 
Gottes Feind und Gegenstand des Zornes Gottes ist. Der 
ylrcwesenheit jenes ersten entspricht die ^Wesenheit die¬ 
ses zweiten Gastes. Denn damit, daß diese Beiden unter 
einem Dach Platz hätten, kann nicht gerechnet werden. 
Man bemerke, daß Paulus unserem wunderlichen Heili¬ 
gen das Wollen des Rechten nicht abspricht: ein ehrlich 
und eifrig Wollender, Suchender, Strebender mag er im¬ 
merhin sein. Aber nicht von einem bloßen Wollen, son¬ 
dern von einem rechtfertigenden und heiligenden Voll¬ 
bringen des Menschen war doch in seinem ursprünglichen 
Plan die Rede. So kann nun aus dem Wollen des Rech¬ 
ten so wenig eine Ausrede gemacht werden wie vorher 
aus dem Nichtwollen des Bösen, wenn es zu dem ent¬ 
sprechenden Vollbringen nicht kommt. Und es kommt 
(v. 19) nicht dazu. Was das Gesetz bei ihm und was er 
selbst im Lichte des Gesetzes, das er erfüllen wollte, bei 
sich findet, ist trotz des guten Willens das Tun des Bösen. 
Es kann alle Berufung auf seinen guten Willen (v. 20) 
nur bestätigen, daß die Sünde in ihm wohnt und ihm 
zum Trotz das Böse tut. Nochmals: Wer ist er nun? Der 
Wollende? Der das Gewollte leider nicht Vollbringende? 
Der mit seinem Wollen seinem Vollbringen oder der mit 
seinem Vollbringen seinem Wollen Widersprechende? 
Daß er bloß der Hausherr der Sünde ist, wird ihn jeden¬ 
falls nicht retten: sie, die Sünde ist es jedenfalls, die da 
geschieht, wo es planmäßig zu seiner Rechtfertigung und 
Heiligung durch sein eigenes Tun kommen sollte. 

Die Verse 21—23 fassen zusammen: Der wunderliche 
Heilige, der, von der Sünde verführt, die Gnade Gottes sich 
nehmen will, ist tatsächlich ein mitten entzwei gerissener 
Mensch. Indem er das Gesetz Gottes selber erfüllen will, 
ist das Böse da (v. 21). Indem er sich am Gesetz Gottes 
erfreut, (v. 22) — würde er es doch recht tun! würde er 


104 


sich doch nicht durch die Sünde verführen lassen zum 
Mißbrauch des Gesetzes! —, kann er bei sich selbst nichts 
entdedten und wahrnehmen als den gänzlich ungleichen 
und hoffnungslosen Streit (v. 23) zwischen dem Gesetz, 
dem gerecht zu werden er sich vorgenommen, und dem 
Gesetz in seinen Gliedern, d. h. der inneren Notwendig¬ 
keit seiner ganzen menschlichen Existenz als solcher, wel¬ 
che jenem Unternehmen, wie gründlich und ernstlich er 
es auch betreibe, entgegensteht, welche ihn als Gesetz der 
Sünde gefangen hält, er drehe und wende sich, wie er 
wolle. Diesem anderen Gesetz und immer wieder ihm 
wird er faktisch gerecht werden. Als der, der er ist und 
nicht als der, der er sein und zu dem er sich machen 
möchte, wird er am Ende aller seiner Anstrengungen 
und Versuche immer wieder dastehen. Aber ist er nicht 
gleichzeitig doch auch der, der etwas Anderes sein und 
mittels dieser Anstrengungen und Versuche etwas Ande¬ 
res aus sich machten möchte? Welcher von beiden ist er 
nun? Sicher ist, daß er als keiner von diesen Beiden der 
Mann ist, dem das gelingt, was er sich allzu kühn vor¬ 
genommen hat! Und sicher ist er in der Aufgespaltenheit 
dieser Doppelexistenz zwischen Wollen und Vollbringen 
ein dem Tode verfallener Mann! Denn was heißt Ster¬ 
ben, wenn es nicht das Leben in dieser Aufspaltung ist? 
Diesem Leben, das ein Sterben bei lebendigem Leibe ist, 
gilt der Seufzer in Vers 24: „Ich elender Mensch! Wer 
wird mich herausreißen aus diesem Leibe des Todes?“ 
Herausreißen aus dieser Zerrissenheit? Herausreißen aus 
dieser Existenz, die in einer dauernden Auflösung meiner 
selbst besteht? 

Der Mensch wird sich selbst aus dieser Existenz unter 
dem Gesetz der Sünde und des Todes nicht herausreißen. 
Man bemerke, wie die beiden Abschnitte in Vers 7—12 
und Vers 13—23, aber auch der Rückblick auf das Ganze 
in Vers 24—25 von dem Worte „Ich“ beherrscht sind. Es 


105 


gibt keinen mit diesem Wort beginnenden Satz, in wel¬ 
chem die Befreiung des Menschen darzustellen wäre. 
Auch und gerade das christliche „Ich“ muß und wird sich, 
wie der merkwürdige Vers 25 zeigt, indem es sich dort 
zu Jesus Christus als dem Befreier bekennt, zu seiner 
eigenen Gefangenschaft, zu jener Zerrissenheit in aller 
Form bekennen. Gerade wer sich zu Christus bekennt, 
wird das wissen: Ich werde die Sünde, ich werde die Ver¬ 
fälschung des Gesetzes durch die Sünde, ich werde die 
Existenz des wunderlichen Heiligen, der sein möchte wie 
Gott und der eben daran bei lebendigem Leibe sterben 
muß, von mir aus nie hinter mir lassen. Ich bin und lebe 
im Fleische und bin und bleibe in diesem Sein und Leben 
(v. 11) dem Gesetz der Sünde und des Todes unterwor¬ 
fen. Es gibt keine Linie, die mit Ich anfängt, um dann 
irgendwo mit Erlösung und Freiheit zu endigen. Es gibt 
aber, wie in Vers 1—6 gezeigt wurde, die andere Linie, 
die mit Jesus anfängt, auf der eben der Mensch, der 
jenem Gesetz verpflichtet ist, getötet, nicht in seinem eige¬ 
nen, aber im Tode Jesu Christi getötet wurde. Getötet 
und also befreit von sich selbst, um jetzt dem Anderen 
zu leben, der von den Toten auferstanden ist (v. 4), um 
als dieser Befreite, dem Ich dieses Anderen, dem Sohn 
Gottes schlechterdings untergeordnet, im neuen Wesen des 
Geistes (v. 6), dem Gesetz Gottes (v. 25) zu dienen. 


106 


8, 1—39 


Das Evangelium als die Aufrichtung 
des Gesetzes Gottes 


Verurteilt ist der Mensch, der als Adams Kind tut, was 
Adam tut. Verurteilt ist alles Fleisch als die Menschen¬ 
natur, in der die Sünde wohnt. Verurteilt ist vor allem 
das fromme, das moralische Fleisch: der Mensch, der das 
Gesetz Gottes damit beugt und bricht, daß er ihm ent¬ 
nimmt, er habe sich selbst vor Gott zu rechtfertigen 
und für Gott zu heiligen. Gerade ihn verurteilt das von 
ihm gebeugte und gebrochene Gesetz Gottes, das ja auch 
als solches nicht aufhört, wahr und wirksam zu sein. 
Indem er die Gnade verstößt, an die sich zu halten ihm 
durch das Gesetz geboten wird, um sich an Stelle dessen 
durch Erfüllung des gebietenden Buchstabens (Kap. 7, 6) 
seine Seligkeit selbst verschaffen zu wollen, ist er schon 
verurteilt, kann er nur noch lebend sterben. 

Für die aber, die „in Christus Jesus sind“, gibt es keine 
Verurteilung, heißt es nun in Kap. 8, 1, und das ganze 
8. Kapitel wird uns darüber belehren, daß jene Verurtei¬ 
lung des Menschen damit hinfällig ist, daß Gott im Evan¬ 
gelium jenem Beugen und Brechen seines Gesetzes durch 
den Menschen damit begegnet, daß er es in Jesus Chri¬ 
stus als sein Gesetz neu und erst recht damit auf richtet, 
daß er ihm durch Jesus Christus den Respekt und die 
Nachachtung verschafft, die ihm gebühren, daß er also 
seine verstoßene Gnade triumphieren läßt bei Jedem und 
für Jeden, der an Jesus Christus glaubt und also diese 
an Jesus Christus Glaubenden nicht nur frei macht von 


107 


dem Gesetz der Sünde und des Todes, sondern — so 
werden wir nachher hören — positiv frei für ein Leben 
im Gehorsam (v. 12—16), in der Hoffnung (v. 17—27), 
in der Unschuld (v. 28—39), mit einem Wort: für das 
Leben im Geiste, in der Unterordnung unter seinen 
Gtttfdeswillen. Das ist die vierte Erklärung des Satzes in 
Kapitel 1,16 von Gottes allmächtigem Rettungswerk für 
jeden Glauben oder die vierte Erklärung des Satzes in 
Kap. 1, 17: daß der durch seinen Glauben Gerechte kraft 
dieses seines Glaubens leben wird. Diese vierte und letzte 
Erklärung sagt eben dies: Gott richtet mit der Offen¬ 
barung des Evangeliums von Jesus Christus sein Gesetz 
auf, indem er den an Jesus Christus Glaubenden seinen 
Geist und mit dem Geist jetzt und hier schon das gerechte, 
unschuldige und selige Leben gibt, das als solches die 
Verheißung hat, ewiges Leben zu sein. Darin bewahr¬ 
heitet sich die Gerechtsprechung des Glaubenden: dar¬ 
in vollendet sich die Versöhnung, die Heiligung, die Be¬ 
freiung des Menschen: in der Aufrichtung des Gesetzes 
Gottes, in der Herrschaft seines Geistes. 

Das Grundsätzliche darüber hören wir in Vers 1—11. 
Wir lesen in Vers 1—2 zunächst in Bestätigung von Kap. 
7, 1—6, daß die Verurteilung des Menschen durch das 
Gesetz der Sünde und des Todes die, die in Christus Jesus 
sind, darum nicht trifft, weil sie als solche von diesem 
Gesetz entbunden, befreit sind. Sie haben sich nicht selbst 
davon befreit. Alle eigenen Befreiungsversuche würden 
nur darauf hinauslaufen, was in Kap. 7, 3 schroff genug 
als Ehebruch bezeichnet wurde. In der Gefangenschaft 
jenes Gesetzes gibt es zuletzt immer nur den hoffnungs¬ 
losen Seufzer in Kap. 7, 24: „Ich elender Mensch!“ Was 
mit „Ich“ anfängt, führt nicht zur Befreiung und wird 
niemals wirkliches, ewiges Leben sein. Wohl aber hat 
„das Gesetz des Geistes des Lebens“ die frei gemacht, die 
in Christus Jesus sind. Offenbar ist das Eines und Das- 


108 


selbe: „In Christus Jesus sein“ und: unter diesem ganz 
anderen Gesetz stehen. Und offenbar bezeichnet beides 
miteinander jenen ganz neuen Aspekt, ja jene ganz neue 
Wirklichkeit des menschlichen Lebens, auf die schon in 
Kap. 7, 1—6 hingewiesen wurde und von der nun aus¬ 
führlich die Rede sein soll. Sie ist damit gegeben, daß 
der Mensch nicht mehr mit „Ich“ anfangen muß, sondern 
mit Jesus Christus anfangen darf: daraufhin, daß Jesus 
Christus mit ihm einen neuen Anfang gemacht hat. Daß 
er ein solcher ist, dem das widerfahren ist, das heißt: „in 
Christus Jesus sein“. Und es besteht diese Wirklichkeit 
darin, daß eben da, wo ein Mensch mit Jesus Christus 
statt mit „Ich“ anfangen darf — daraufhin, daß Jesus 
Christus mit ihm einen neuen Anfang gemacht hat — das 
Gesetz Gottes sich zuerst selber befreit von jenem Mi߬ 
brauch durch die Sünde, zuerst selber hindurchbricht 
durch jene verkehrte Gestalt eines Gesetzes der Sünde 
und des Todes und sich selbst darstellt in seiner wahren 
Gestalt: als den Geist, der diesen Menschen dazu treibt, 
Gottes Gnade zu suchen, um eben damit nun auch diesen 
Menschen zu befreien von der verkehrten Gestalt des Ge¬ 
setzes und von der Not, die es ihm in dieser verkehrten 
Gestalt bereiten muß, um eben damit nun auch diesen 
Menschen hindurchbrechen zu lassen auf den Weg des Le¬ 
bens, der Hoffnung und der Unschuld. 

Wir lesen in Vers 3, daß es zu dieser befreienden Auf¬ 
richtung des Gesetzes ein für allemal gekommen ist durch 
das, was Gott in Jesus Christus geschehen ließ. Was dem 
Gesetz in jener verkehrten Gestalt, in seiner Entkräftung 
durch die in unserem Fleisch wohnende Sünde unmöglich 
war, das hat Gott damit nicht nur möglich, sondern 
wirklich gemacht, daß er seinen Sohn sandte: wirklich 
seinen ewigen Sohn wirklich zu uns sandte, ihn also 
wirklich uns , unserem von der Sünde bewohnten und 
beherrschten Fleisch nicht nur ähnlich, sondern gleich 


109 


machte: „um der Sünde willen“, d. h. um der Sünde an 
diesem ihrem Wohn- und Herrschaftsorte zu begegnen 
und um sie daselbst zu verurteilen, zu richten, zu erledi¬ 
gen, ihre Herrschaft zu brechen, ihren Betrug aufzudek- 
ken und ihre Konsequenzen aufzuheben. Das ist es, was 
Jesus Christus getan hat, indem er, der Sündlose, sich an 
unserer Stelle als Sünder vor Gott demütigte, die uns zu¬ 
kommende Todesstrafe erlitt und eben darin Gott den 
Gehorsam darbrachte, den wir ihm verweigern, eben da¬ 
mit an unserer Stelle die Gnade Gottes annahm, deren 
Annahme wir immer wieder verweigern möchten. In ihm 
(v. 4) sind wir als die Sünder, die wir waren und sind, 
getötet und eben damit auch getötet dem Gesetz der Sün¬ 
de und des Todes, dem wir als Sünder unterworfen waren 
und noch unterworfen sind. Und eben mit ihm leben wir 
nun ein anderes, neues Leben. In ihm steht das Gesetz 
Gottes vor uns und mächtig über uns in seiner reinen, 
wahren Gestalt: ein einziges unwiderstehliches Angebot 
und Gebot der Gnade Gottes für uns, die in ihm Getöte¬ 
ten und mit ihm Lebenden. Mit ihm anfangen — darauf¬ 
hin, daß er mit uns angefangen hat —, „in Christus Jesus 
sein heißt schlicht: durch das in ihm auf gerichtete und 
mächtig gewordene reine und wahre Gesetz Gottes ge¬ 
bunden sein, das Angebot der Gnade Gottes ergreifen 
müssen und dürfen , dem Gebot der in ihm erschienenen 
Gnade Gottes gehorsam sein: als die Getöteten, die mit 
ihm lebendig gemacht sind. Und eben das heißt: „nach 
dem Geist und nicht nach dem Fleisch wandeln“. In 
denen, die nach dem Geist wandeln, kommt es also zur 
Erfüllung dessen, was das Gesetz fordert. Heißt doch 
„nach dem Geist wandeln“ nichts Anderes als: der in 
Jesus Christus zwingend mächtig erschienenen Gnade Got¬ 
tes gehorsam werden. Man muß bei allem Folgenden und 
in diesem ganzen Kapitel wohl beachten: „Geist“ heißt 
bei Paulus nichts Anderes als die Gültigkeit und Macht 


110 


des durch die Sendung des Sohnes Gottes aufgerichteten 
Gesetzes der Gnade bei denen, die an ihn glauben dar¬ 
aufhin, daß er für sie gestorben und auferstanden ist. 
Noch ist ihr Fleisch da, ihre Menschennatur, in welcher 
als solcher die Sünde wohnt und nicht das Gute. Noch 
sind und haben sie auch ein „Ich“, jenes Ich, von dem aus 
es keinen Weg zur Befreiung und zum Leben gibt. Noch 
existiert auch in ihnen der wunderliche Heilige, der sich 
von der Sünde betrügen läßt mittels des Gesetzes, und dem 
dann das Sündengesetz nur immer wieder zum Todes¬ 
gesetz werden kann. Noch wissen sie also nur zu gut, was 
es ist um jenes Leben in der Zerrissenheit. Aber sie 
„ wandeln “ nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem 
Geist (v. 4). Sie „sind“ nicht im Fleisch, sondern im Geiste 
(v. 5 u. 9). Sie haben nicht die Gesinnung, die Ausrich¬ 
tung, die Tendenz des Fleisches, sondern die des Geistes. 
Das bedeutet aber: sie stehen nicht etwa noch einmal 
zerrissen zwischen Geist und Fleisch, sondern sie stehen, 
ihrerseits schon dem Geiste gehörig, in der Entscheidung 
für den Geist und gegen das Fleisdi. Sie haben dem Geist, 
als der Macht des Gesetzes der Gnade, ihr Gesicht, dem 
Fleisch, als ihrer sündenbeherrschten und entsprechend 
zerrissenen Existenz, ihren Rücken zugekehrt. Man kann 
vom Fleisch nur das sagen, daß es noch da ist, eine als 
solche noch nicht beseitigte Möglichkeit, eine ständige Ein¬ 
ladung und Gefahr, nach ihm zu wandeln, in ihm zu sein, 
zu tun, was seiner Gesinnung, Ausrichtung und Ten¬ 
denz entspricht, was denn nach dem 7. Kapitel bedeuten 
würde, die Gnade aufs neue zu hassen und von sich zu 
stoßen, aufs neue sich selber rechtfertigen und heiligen 
zu wollen. Das Fleisdi will immer das. Es wird dem Ge¬ 
setz Gottes nie untertan sein, es kann das gar nicht, es 
wäre sonst nicht das Fleisch, unsere durch die Sünde 
Adams bestimmte und charakterisierte Menschennatur 
(v. 7). Die Erfüllung seiner Absichten könnte nur mit 


111 


dem Tode endigen, und was wir in Erfüllung seiner Ab¬ 
sichten sind und tun, das wird in der Tat immer dem 
Tode verfallen sein (v. 6). Denn „die im Fleische Seien¬ 
den können Gott nicht gefallen“ (v. 8): „Ich“ — als der 
ich jetzt und hier bin und mich selbst kenne — kann 
Gott nicht gefallen! Aber eben „Ich“ — als dieser „Ich“ — 
habe keine aktuelle Bedeutung mehr, indem ich „in Chri¬ 
sto Jesu bin“, indem das durch ihn aufgerichtete und 
kräftig gemachte Gesetz Gottes über mich Macht hat. Ich 
würde diesem Gesetz nicht unterstehen, ich würde Jesus 
Christus nicht angehören, wenn ich nicht seinen Geist 
hätte, wenn sein Geist, der der Geist Gottes selber ist, 
nicht in mir wohnte (v. 9), wenn Christus selbst nicht in 
mir wäre (v. 10) und das Regiment über mich, die Ver¬ 
antwortung für mich an meiner Stelle übernommen hätte. 

Die Frage nach dem, was für mich gültig und über 
mich mächtig ist, eben damit aber auch die Frage: wer 
ich bin, ist damit entschieden zu Ungunsten des hinter mir 
existierenden und sein Wesen treibenden Fleisches. Sie ist 
nicht durch mich entschieden, wohl aber dadurch, daß in 
Jesus Christus Gottes Gesetz über und für mich aufge¬ 
richtet ist und sich nicht mehr umstoßen läßt. Indem 
dieses Gesetz mich an Gottes Gnade bindet, bin ich dem 
Fleisch und seinem Willen, wie sehr er mir nahe liegen 
mag, entfremdet, und ich bin dem Tod, dem es notwendig 
entgegentreibt, entrückt, dem Frieden und damit dem Le¬ 
ben zugewendet (v. 6). Ich? Also nun doch ich? Ja, hören 
wir in Vers 10 und 11: das ist das letzte und größte 
Wunder, dem wir kraft der Aufrichtung des Gesetzes 
Gottes, dem wir in der Entscheidung für den Geist und 
gegen das Fleisch, wie sie über und für uns gefallen ist, 
entgegengehen: 1. daß der „Leib“, das „Ich“, diese 
menschliche Persönlichkeit, die ich bin, allerdings sterben 
muß um der Sünde willen, wie es mir im Tode Jesu 
Christi auf Golgatha schon widerfahren ist, lange vor der 


112 


Todesstunde, der ich jetzt noch entgegengehe — 2. daß 
der Geist Gottes und Jesu Christi, der mich diesem Leibe 
entrissen hat (Kap. 7, 24) und hineingerissen in die 
Gerechtigkeit eines solchen, der nur nodi von Gnade le¬ 
ben will, allein mein Leben ist — und 3. daß nun gerade 
dieser Geist, der Geist des Gottes, der Jesus von den Toten 
erweckte, indem er mir geschenkt ist, indem er in mir 
wohnt, auch meinen „Leib“, auch mich als „Ich“, auch 
diese menschliche Persönlichkeit: das ganze vom Tode ge¬ 
zeichnete und dem Tode verfallene Wesen, das ich jetzt 
bin und habe, dem Tode nicht überlassen, sondern — von 
seiner Fleischesnatur gereinigt, als das Ich, als das We¬ 
sen und die Person des von Ewigkeit her von Gott ge¬ 
liebten Menschen — mit Jesus lebendig, mich dem We¬ 
sen des auferstandenen und erhöhten Jesus gleichförmig 
machen wird. Gott nimmt uns nichts, was er uns nicht 
in erlöster und das heißt in unendlich viel besserer Ge¬ 
stalt wiedergeben würde. Er nimmt uns auch das „Ich“ 
nicht, ohne es uns in Jesus Christus wiederzugeben. Er 
muß es uns aber nehmen, um es uns erlöst wiederzu¬ 
geben. Wir müssen und dürfen es uns darum jetzt und 
hier gefallen lassen, im Geiste Gottes und Jesu Christi 
zu leben, unseren Leib aber, uns selbst dem Tode ent¬ 
gegeneilen zu sehen, im voraus dadurch getröstet, daß 
dessen Bitterkeit am Kreuz von Golgatha schon erlitten 
und überwunden worden ist. Und über allen Gräbern 
steht die Verheißung, daß durch denselben Geist wir 
selbst, unsere Leiber, ewig leben werden. 

Es ist sicher sinnvoll und berechtigt, jedenfalls in Vers 
12—16, die erste und kürzeste der nun folgenden Einzel¬ 
darlegungen des 8. Kapitels, als Beschreibung des Gehor¬ 
sams zu verstehen, der für das Leben derer, die „in Christo 
Jesu sind“ bezeichnend ist. Was sollte der ihnen zuteil ge¬ 
wordenen Aufrichtung des Gesetzes Gottes ursprünglicher 
entsprechen als eben ihr Gehorsam? Wozu sind sie mit 


113 


Gott versöhnt (5. Kap.), geheiligt (6. Kap.) und vom mi߬ 
brauchten Gesetz befreit (7. Kap.), als eben dazu, daß sie 
gehorsam seien? In weiterem Sinn verstanden könnte man 
sehr wohl das ganze 8. Kapitel als eine einzige Beschrei¬ 
bung eben des Gehorsams derer verstehen, deren Gesetz 
der Geist Gottes ist. Aber wenn nun in Vers 12—16 sicher 
im besonderen von dieser Sache die Rede ist, werden wir 
gleich im Blick auf Vers 12 bemerken müssen: Es handelt 
sich jetzt in keinem Wort mehr um einen solchen Ge¬ 
horsam, den zu leisten die, die in Jesus Christus sind, 
schuldig wären, den sie leisten sollten und müßten. Wohl 
war in Kap. 6, 16. 17. 22; 7, 6 von ihrem Leben als von 
einem „Dienst“ die Rede gewesen, schon dort freilich in 
wohl zu beachtender Beziehung dieses Begriffs zu dem 
der „Freiheit“ und des „Geistes“. Der Begriff des Dien¬ 
stes wird uns im Römerbrief auch noch an späteren Stel¬ 
len (z. B. in Kap. 12, 11 und 14,18) begegnen, wie er denn 
überhaupt bei Paulus in Ehren steht, so gewiß er sich ja 
selbst seinen Lesern gegenüber dauernd als Diener, 
Knecht, Sklave Jesu Christi bezeichnet und eingeführt 
hat. Aber wie das christliche Dienen zu verstehen und 
nicht zu verstehen ist, darüber gibt uns unsere Stelle 
unzweideutigen Bescheid. Ein Sklavengeist, ein Lohn¬ 
dienergeist, ein Debitorengeist, in welchem wir uns wie¬ 
der fürchten müßten — wie wir uns vor Gott zu fürch¬ 
ten hatten, da wir uns in Beugung und Brechung seines 
Gebotes selbst rechtfertigen wollten — ist der Geist des 
Gehorsams gegen Gottes Gesetz auf keinen Fall (v. 15). 
Wir sind keine Schuldner Gottes, die ihm gegenüber in 
Angst und Verlegenheit ihre Zinsen aufzubringen oder 
wohl gar das geliehene Kapital abzutragen hätten in der 
Absicht, ihm schließlich triumphierend gegenüber zu ste¬ 
hen. Eben diese Haltung war unser Leben nach dem 
Fleische; eben diese Absicht war der verbotene, der un¬ 
ausführbare, der verderbliche Plan der in unserm Fleisch 


114 


wohnenden und regierenden Sünde, und eben dem 
Fleisch und nicht Gott (oder nur dem Gottesbild des 
Fleisches!) wären wir in dieser Haltung in Wahrheit 
schuldig und verpflichtet. Eben von dieser Schuld und 
Verpflichtung sind (v. 12) die, die in Christus Jesus sind, 
frei: nicht um nun Gott gegenüber in dasselbe betrübte 
und unfruchtbare Verhältnis zu treten — gerade Gott 
gegenüber ist dieses Verhältnis schlechterdings unmöglich 

— sondern um in der Kraft dessen, was in Jesus Christus 
für sie geschehen ist, in der Kraft des Geistes die Unter¬ 
nehmungen, jene „Praktiken“ (v. 13), zu denen der „Leib“, 
zu dem „Ich“ freilich immer wieder Lust hätte, immer 
wieder zu töten, zu negieren und fallen zu lassen, um 
in dem wirklichen Gehorsam dem Gesetz Gottes gegenüber 
gerade dieses Verhältnis immer wieder zu verleugnen. Die 
von Gottes Geist getrieben, bewegt, gezogen werden (v. 14) 

— und das ist das Wesen derer, die in Christo Jesu sind—, 
die dienen ihm nicht, weil sie sich als seine Schuldner dazu 
gezwungen sehen und erst recht nicht darum, weil sie das 
Schuldnerideal haben, sich ihm gegenüber frei zu machen. 
Sie sind vielmehr — und das ist ihr Leben in Jesus Chri¬ 
stus, dem Sohne Gottes — Gottes Söhne, die seinen Wil¬ 
len darum erfüllen, weil Gott ihr Vater ist, weil sie seine 
Söhne sind, weil sie kraft des Geistes Gottes, der ja als 
der Geist Jesu Christi der Geist der Sohnschaft ist, von 
sich aus, in ihrer eigensten Freiheit, gar keine andere Wahl 
und Möglichkeit haben als die, seinen Willen zu voll¬ 
ziehen (v. 15). Sie vollziehen ihn aber damit, daß sie zu 
ihm schreien — aus und in der Tiefe der Not ihrer 
menschlichen Existenz, aber nun nicht: „Ich elender 
Mensch!“ sondern: „Abba, Vater!“ — als verlorene Kin¬ 
der, aber als solche, die in ihrer Verlorenheit von Gott ge¬ 
funden und gehalten, die eben in ihrer Verlorenheit an¬ 
geleitet sind, ihn Vater zu nennen, sich an ihn zu halten 
als an den „Vater der Bermherzigkeit“ und „Gott alles 


115 


Trostes“ (2. Kor. 1, 3) — wie Jesus ja die Seinen eben 
dazu tatsächlich angeleitet hat! —, die eben in ihrer Ver¬ 
lorenheit das eine gute Werk solchen Schreiens und damit 
die eine durch Gottes Gesetz geforderte Tat des Gehor¬ 
sams nicht unterlassen können. Könnten sie es wohl unter¬ 
lassen, der Gnade gehorsam zu sein durch solches Schreien, 
könnte ihr Geist müde werden, könnten sie Neigung 
haben, zurückzufallen in jene „Praktiken“ eines Gottes¬ 
verhältnisses, das ohne Furcht nie sein kann, das an¬ 
derswo als im Tode nie endigen, das den Namen Gottes 
nur lästern könnte? Wie sollte es anders möglich sein, daß 
das jederzeit geschehen könnte? Aber eben unter dieser 
ständigen Drohung und Gefahr, der sie selbst nie ge¬ 
wachsen wären, wird der Geist Gottes ihrem schwachen, 
ihrem sich immer ohnmächtig wissenden Geist zur Seite 
stehen mit seinem Zeugnis. Sie werden dann von dem 
aufgerichteten Gesetz Gottes, vom Kreuz von Golgatha 
her, wo über sie verfügt worden ist, immer wieder hören: 
wir sind Söhne Gottes (v. 16)1 Wir, die zum eigenmächti¬ 
gen Tun alles Guten wirklich Ohnmächtigen! Wir, deren 
Fleisch von der Sünde bewohnt und beherrscht ist! Wir, 
die selbstsüchtigen, aufrührerischen und unnützen Knechte: 
wir sind Gottes Kinder! Es bedarf schon des von dorther 
kommenden Zeugnisses, des Zeugnisses des Heiligen Gei¬ 
stes, damit auch unser unheiliger Geist, von jenem bewegt 
und getrieben, uns dieses Zeugnis gebe. Es muß uns 
schon gesagt werden, damit wir es uns selbst sagen kön¬ 
nen: Wir sind Gottes Kinder! Es kann und wird aber 
nicht fehlen, daß uns von dorther eben das und immer 
wieder das gesagt werden wird, und daß wir es daraufhin 
in kühner Freiheit auch zu uns selber sagen dürfen, etwas 
anderes zu uns selber zu sagen gar nicht mehr die Wahl 
haben: Wir sind Gottes Kinder! Und es kann und wird 
dann wiederum nicht fehlen, daß wir neu eintreten dürfen 
und müssen in jenes gute Werk des Gehorsams, welches 


116 


darin besteht, zu schreien: Abba! Vater! Man wird schon 
beachten müssen, daß von einem anderen Gehorsamswerk 
der Kinder Gottes gerade auf diesem Höhepunkt des Rö¬ 
merbriefs nicht die Rede ist. Dazu sind wir mit Gott ver¬ 
söhnt, dazu für Gott geheiligt, dazu frei gemadit vom Ge¬ 
setz der Sünde und des Todes, damit dieses Werk ge¬ 
schehe. Damit, daß wir dieses Werk tun, folgen wir dem 
Treiben und Ziehen des Geistes und beweisen wir, daß 
wir nicht des Fleisches Schuldner sind. Es kann und soll 
offenbar ein anderes Gehorsamswerk zu diesem einen 
nicht hinzukommen. Es sollen offenbar alle Gehorsams¬ 
werke in diesem einen beschlossen sein, aus ihm und nur 
aus ihm hervorgehen, unter allen Umständen in ihm ihre 
Wurzel und Urgestalt, ihre erste und letzte Bedingung 
haben. Es ist denen, die in Christus Jesus sind, offenbar 
nichts erlaubt, was mit diesem Schreien der Kinder Gottes 
zu ihrem Vater nicht in Einklang wäre. Es ist ihnen offen¬ 
bar alles das geboten, was ihnen als diesen zu ihrem 
Vater schreienden Kindern Gottes nötig ist. Es kann und 
wird beides, das Verbotene und das Gebotene sehr Vieles 
umfassen — die letzten Kapitel unseres Briefes werden 
uns davon eine gewisse Vorstellung geben —, es wird 
aber die Erfüllung des Gesetzes Gottes (v. 4), weil es das 
Gesetz seiner Gnade ist, zuerst und zuletzt immer in dem 
bestehen, was uns in diesen Versen als die Frucht des 
Geistes bezeichnet wird. So wie in Vers 15 besdirieben, 
antwortet der Christ auf das Zeugnis des Heiligen Geistes 
oder er tut es gar nicht — was dann wohl bedeuten 
würde, daß er ein Christ noch nicht oder nicht mehr wäre. 

Der Gesichtspunkt des Gehorsams als der bezeichnen¬ 
den Eigenschaft des Lebens unter Gottes Gesetz wird nun 
auch in dem größeren mittleren Abschnitt in Vers 17—27*) 

*) Vgl. dazu KD IV, 2 , S. 367 f. 


117 


nicht preisgegeben und auch sachlich nicht verändert. Wir 
brauchen dazu bloß auf die Verse 23 und 26 zu blicken. 
Aber ein anderer Gesichtspunkt wird jetzt beherrschend: 
der nämlich, daß das Leben unter Gottes Gesetz als Leben 
in jenem Gehorsam das Leben in der Hoffnung ist. Will 
sagen: in der gewissen, kräftigen und also schon die Ge¬ 
genwart erfüllenden und beherrschenden Erwartung der 
künftigen Offenbarung des durch die Macht des Geistes 
schon geschaffenen und begründeten Lebens derer, die in 
Christus Jesus sind. Daß dieses Leben einer Vollendung 
in solcher Offenbarung entgegengeht, der Lebendig- 
machung unseres jetzt und hier dem Tode verfallenen 
Leibes, der Wiederherstellung dessen, was als unser „Ich“ 
jetzt nur vergehen kann, damit der Geist lebe — das hör¬ 
ten wir schon in Vers 10—11. Eben dieser Ausblick wird 
nun in Vers 17 neu aufgenommen. Und eben darum be¬ 
kommen wir es nun mit dem eigentlichen Gegenstück zu 
der in Kap. 7, 7—23 so eindrucksvoll gegebenen Schilde¬ 
rung des dem Gesetz der Sünde und des Todes unter¬ 
worfenen Menschen zu tun. Der von diesem Gesetz be¬ 
freite, auch der durch den Geist dem Gesetz Gottes unter¬ 
tan gemachte Mensch lebt — in der siegreichen Entschei¬ 
dung für den Geist und gegen das Fleisch (v. 1—11), im 
Gehorsam der Kinder Gottes (v. 12—16) — aber noch 
lebt er jetzt und hier, wo das Fleisch jedenfalls immer 
noch hinter ihm steht, wo die im Fleische wohnende und 
herrschende Sünde ihm immer noch eine Einladung, eine 
Versuchung, eine Gefahr bedeutet. Daß wir jetzt und hier 
leben, heißt: wir befinden uns da, wo das Kreuz Christi 
neben dem Licht , das von ihm ausgeht als von dem Kreuz 
dessen, der auch auferstanden ist, auch immer noch den 
Schatten des Todes verbreitet über das ganze menschliche 
Wesen, das dort, am Kreuz des Sohnes Gottes, gerichtet 
und getötet worden ist und das nun nachträglich nur 
noch dies erfahren kann und eben dies tatsächlich er- 


118 


fahren muß, daß es dort gerichtet und getötet, daß sein 
weiterer Bestand nur noch eine Zeitfrage, daß es vergäng¬ 
lich ist und in seinem Vergehen jenen Tod zu bestätigen 
hat und unfehlbar bestätigen wird. In diesem Todes¬ 
schatten, unter seiner Verheißung, aber auch unter seiner 
unerbittlichen Notwendigkeit leben auch die, die in Chri¬ 
stus Jesus sind, sofern sie jetzt und hier leben. So wahr 
sie Kinder Gottes sind (v. 17), so wahr sind sie auch 
Gottes Erben, d. h. Anwärter der Teilnahme an dem, was 
Gott gehört und eigentümlich ist: der Teilnahme an sei¬ 
ner Lebensherrlichkeit, die in Christus schon aufgenom¬ 
men ist und in die mit ihm aufgenommen zu werden sie 
so bestimmt erwarten, wie sie eben in ihm, welcher für 
sie gestorben, und in welchem sie schon mitgestorben 
sind, allein ihre Zukunft haben. Ihre dieser Zukunft mit 
ihm vorangehende Gegenwart kann aber offenbar keine 
andere sein, als eine solche, die bestimmt ist durch sein 
Leiden. „Noch leben“ nach seinem Tode heißt einerseits ge¬ 
wiß: den eigenen Tod nicht mehr fürchten müssen, weil er 
in ihm schon geschehen, weil seine ganze Bitterkeit von 
ihm schon durchkostet und erlitten, von uns also nicht 
mehr durchzumachen ist. „Noch leben“ nach seinem Tode 
heißt aber andererseits ebenso gewiß: noch in der An¬ 
fechtung stehen, die vor seinem Tode, die in Gethsemane 
sein Teil war — nicht ohne ihn, sondern mit ihm, aber mit 
ihm in der Anfechtung stehen, mit ihm dort stehen, wo 
er als der erniedrigte Gottessohn gestanden hat. Man kann 
schon der Stelle 5, 3—4, man muß aber vor allem 
dem ganzen noch folgenden Inhalt dieses 8. Kapitels ent¬ 
nehmen, daß Paulus diesen Ort als einen ausgezeichneten 
Ort, als einen Ort voller Verheißung angesehen hat, wo 
uns nur vorläufig Schlimmes, nur ein sehr geringfügig 
Schlimmes widerfahren kann. Man rühme sich dessen, an 
diesem Ort stehen zu dürfen! hieß es schon dort. Wie sollte 
es anders sein, da wir ja nicht allein, sondern eben mit 


119 


Christus an diesem Ort stehen: mit ihm, der von diesem 
Ort aus der Herrlichkeit Gottes entgegenging? Eben dar¬ 
um erfolgt nun auch kein Wort der Klage darüber, daß 
es mit unserem Leben nach dem Tode Jesu Christi so steht, 
daß es nur noch im Schatten dieses seines Todes sich aus¬ 
breiten kann, daß es entscheidend darin besteht, daß wir 
mit ihm zu leiden haben. Wie sollte es anders sein, da 
wir unter dem Gesetz Gottes stehen dürfen? Eben das be¬ 
deutet nun aber (v. 18), daß zwischen dem, was wir an 
diesem unserem jetzigen Ort zu leiden haben und der 
künftig an uns zu offenbarenden Herrlichkeit ein solches 
Verhältnis besteht, daß zur Klage unsererseits kein Raum 
bleibt, daß von jenem Leiden als von einem harten Müs¬ 
sen in keinem Wort die Rede sein kann, sondern eben 
nur von der Hoffnung , in der es in seiner ganzen Schärfe 
und Herbheit von denen, die in Christus Jesus sind, tat¬ 
sächlich ertragen wird: daraufhin, daß es als der vom 
Kreuz von Golgatha her auf sie fallende Schatten etwas 
Anderes als der Vorbote der sie erwartenden Herrlichkeit 
nicht sein kann. Man muß sich wohl merken, daß das mit 
Idealismus und Optimismus nichts zu tun hat. Eben weil 
Paulus das, was zu erleiden ist, als notwendige Auswir¬ 
kung des Todes Christi versteht (in welchem allem Idea¬ 
lismus und Optimismus wahrlich ein Ende gemacht ist!), 
eben darum und nur darum sieht er die Waage zwischen 
den Leiden dieser Zeit und der kommenden Herrlichkeit 
so ungleich beladen. Er sieht dabei alles — aber eben 
wirklich Alles — wie es ist und nicht, wie er es sich den¬ 
ken möchte. Und unter Allem steht für ihn die dem Tod 
auf Golgatha folgende Auferstehung Jesu Christi an der 
ersten nicht nur, sondern an der alles Übrige beherrschen¬ 
den Stelle, von der aus er die seinem Tod vorangehende 
Anfechtung Jesu Christi und unsere eigene nur als einen 
Auftakt verstehen kann, bei dem es kein Verweilen geben, 
der nur anklingen kann, um in dem, was folgt, alsbald 


120 


zu verklingen. Daß Paulus auch alles Übrige in der Welt 
sowohl wie bei den Christen sieht, wie es ist, wird im 
Folgenden deutlich genug ersichtlich. Er sagt in Vers 
19—22: daß die, die in Christus Jesus sind, nicht allein 
sind in ihrer Erwartung der künftigen, alles verändern¬ 
den Herrlichkeit Gottes, sondern umgeben von der gan¬ 
zen Schöpfung, die als solche derselben Erneuerung ent¬ 
gegengeht. Er sagt aber wiederum in Vers 23: daß das 
Seufzen nach Erlösung nicht nur eine Sache der unerlös- 
ten Welt da draußen, sondern auch und zuerst die Sache 
gerade der Christen ist. Der in Vers 19—22 viermal ge¬ 
brauchte Ausdruck „Kreatur“ bezeichnet nach dem neu- 
testamentlichen Sprachgebrauch zuerst und vor allem den 
Menschen in seiner Allgemeinheit, die Menschheit , die das 
Evangelium noch nicht gehört hat, sondern erst hören soll. 
In einem weiteren Sinn gehört dann aber dazu: alles Ge¬ 
schaffene überhaupt, die lebende und leblose Natur, die 
den Menschen und seine Geschichte umgibt und die nach 
der biblischen Auffassung von der Welt um des Menschen 
willen und um vom Menschen beherrscht zu werden, ge¬ 
schaffen ist. Man wird freilich gerade darum bei dem, was 
Paulus sagt, doch zuerst an den Menschen als den Mittel¬ 
punkt der Schöpfung Gottes zu denken haben. Dort wird 
es greifbar, was er von dem Ganzen der Schöpfung sagt: 
daß sie sich — einerlei, ob sie es weiß oder nicht — in 
einem Zustand sehnsüchtiger Erwartung befindet, weil sie 
der Nichtigkeit unterworfen ist, weil sie im „Dienst des 
Vergehens“ steht, will sagen: weil alle ihre Werke und 
Unternehmungen, ihr ganzes Leben in allen seinen Regun¬ 
gen und Bewegungen immer wieder auf Staub und Ver¬ 
gessenheit hinauslaufen, weil alle Erhaltung der Kraft 
und des Stoffes, weil alle Kontinuität ihrer Entwicklung 
nichts daran ändert, daß alles ihr Werden zu keinem Sein 
und Bleiben, sondern nur immer aufs neue zum Ver¬ 
gehen und Nichtsein führen kann. Sehr gegen ihren Wil- 


121 


len: sie möchte ja offenkundig leben und nicht sterben 
und muß nun doch mit ihrem ganzen Leben nur immer 
aufs neue sterben. In diesem ihrem Widerwillen gegen 
die ihr auferlegte Notwendigkeit des Vergehens ist die 
Kreatur — nochmals: ob sie es weiß oder nicht — die 
sehnsüchtige, die seufzende , nach dem Ausdruck in Vers 
22: die in Geburtsschmerzen sich windende Kreatur. Was 
ist es mit dieser ihr auferlegten Notwendigkeit des Ver¬ 
gehens? Wer ist der, der den Menschen und mit ihm die 
ganze Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen hat (v. 20)? 
Es scheint mir kein Zweifel daran möglich, daß Paulus 
auch hier sehr einfach an Jesus Christus gedacht hat, der 
in seinem Tod, wie wir immer wieder hörten, dem Men¬ 
schen ein Ende gemacht, das Urteil über ihn gesprochen 
und vollzogen hat. Daran leidet mit dem Menschen die 
ganze Welt des Menschen, daß das geschehen ist. Darum, 
weil auf Golgatha das Schlußwort gesprochen ist über den 
Menschen und seine ganze Welt, darum kann und wird 
es für ihn und in seiner Welt zu keinem Sein und Blei¬ 
ben mehr kommen. Darum entsteht und besteht jetzt und 
hier alles nur bis auf weiteres, nur auf Abbruch. Darum 
gibt es, soweit das Auge reicht, nur sterbendes Leben. 
Darum kann die Kreatur in ihrer ganzen Herrlichkeit jetzt 
und hier nichts anderes sein als eben seufzende Kreatur: 
„in dem Dienst der Eitelkeiten, der uns noch so hart be¬ 
drückt, wenn auch unser Geist zu Zeiten sich zu etwas 
Bess’rem schickt“. Aber eben weil Jesus Christus der Un¬ 
terwerfende ist, handelt es sich (v. 20) um eine Unter¬ 
werfung „auf Hoffnung“. In der Verheißung, derer die 
teilhaftig sind, die in Christus Jesus Gottes Kinder sind, 
wird sichtbar, nach was der Mensch und mit ihm die 
ganze Schöpfung seufzt, was ihr fehlt, welches die ihrer 
Unterwerfung unter die Nichtigkeit entsprechende Freiheit 
ist. Es gibt ja keine andere Unterwerfung als die unter 
das Gericht Gottes im Tode Jesu Christi, so auch keine 


122 


andere Freiheit als die Stoer Herrlichkeit, deren Anwär¬ 
ter als Miterben die Kinder w'ttes sind. Wo und wie im¬ 
mer nach Freiheit geseufzt wird, da wird nicht vergeblich 
geseufzt. Indem jenes Gericht über die ganze Welt ergeht, 
ist auch der ganzen Welt diese Zukunft gegeben, ist ihr 
diese Erfüllung ihres Seufzens, diese Geburt als Frucht ih¬ 
rer Schmerzen zugesagt: „Sie wird befreit werden vom 
Dienst des Vergehens zur Freiheit der Herrlichkeit der 
Kinder Gottes <c (v. 21). Sie wartet also mit den Kindern 
Gottes darauf, daß die Herrlichkeit offenbar werde: es 
sind die Kinder Gottes mit ihrer Zukunft die Gewähr für 
die Zukunft, der alle Menschen und alle Dinge entgegen- 
gchen (v. 19). Aber wie die Welt an ihrer Hoffnung, so 
haben auch sie Anteil an dem durch die ganze Welt gehen¬ 
den Seufzen (v. 23): nicht obwohl, sondern gerade weil 
sie „die Erstlingsgabe des Geistes“, gerade weil sie im 
Geist den gegenwärtigen Anfang der künftigen Herrlich¬ 
keit schon haben, der Segnung des Gesetzes Gottes als des 
„Geistes des Lebens“ (v. 2) schon teilhaftig sind. Indem 
sie Kinder Gottes schon sind laut dessen, was der Geist 
ihrem Geist bezeugt (v. 16), steht doch die Offenbarung, 
die Enthüllung dessen, was sie sind, steht das Inkraft¬ 
treten des Rechtes und Besitzes ihrer Sohnschaft noch vor 
ihnen. 1. Joh. 3, 1 f. ist hier zu vergleichen: „Sehet, 
welch eine Liebe hat uns der Vater damit erwiesen, daß 
wir Kinder Gottes genannt werden und sind... Geliebte, 
wir sind jetzt schon Gottes Kinder und es ist doch noch 
nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, 
daß wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein 
werden.“ Ihm gleich: nämlich in der „Erlösung unseres 
Leibes“, in der Wiederherstellung des „Ich“, das jetzt und 
hier nur vergehen, dem das Leben des Geistes, der ja 
der Geist Gottes und nicht unser eigener Geist ist, jetzt 
und hier nur als ein Anderes, Fremdes gegenüberstehen 
kann. Angesichts dieses Vergehens nehmen auch die Kin- 


123 


der Gottes teil an der sehnsüchtigen Erwartung der gan¬ 
zen Kreatur, seufzen auch sie. Sie seufzen nicht unge- 
tröstet. Wie sollten sie ungetröstet sein, da sie ja den Geist 
jetzt und hier schon haben? Aber sie seufzen. Sie kennen 
die Vollendung, aber sie haben sie noch nicht. „In Hoff¬ 
nung sind wir getröstet“ (v. 24). Man muß beide Worte 
gleich stark betonen. Zu unserer in Jesus Christus gesche¬ 
henen Errettung braucht nichts hinzuzukommen. „Es ist 
vollbracht“ (Joh. 19, 30). Nur daß das Vollbrachte, sofern 
es auch unsere Herrlichkeit in sich schließt, noch ver¬ 
borgen , noch nicht sichtbar ist. Nur in seiner Offen¬ 
barung (v. 18 und 19) besteht die erwartete Vollendung. 
Eben dieser Offenbarung gilt nun die Hoffnung — gilt 
der Glaube, sofern er wie der Glaube Abrahams (Kap. 
4, 18 ff.) Hoffnung ist. Hoffnung ist auf die Erfüllung der 
göttlichen Verheißung, in deren Besitz wir jetzt und hier 
schon leben dürfen. Der Glaube ist Hoffnung, sofern er 
die Verheißung kennt und festhält, obwohl er ihre Er¬ 
füllung noch nicht sehen kann: die von Gott verheißene 
Zukunft der Erlösung unseres Leibes, unseres Seins in 
der Herrlichkeit des auferstandenen Christus. Der Glaube 
ist Hoffnung, sofern wir die Schwachheit, das Leiden, die 
Anfechtung des erniedrigten Gottessohnes gerade darum 
mit ihm teilen dürfen, weil auch seine Zukunft in der 
Herrlichkeit die unsre ist. Der Glaube ist Hoffnung, so¬ 
fern er (v. 25) in der Geduld besteht, in der Ausdauer 
und Beharrlichkeit, mit der wir, seufzend und doch ge¬ 
tröstet, auf die Erfüllung der Verheißung warten dürfen. 
Diese Geduld ist damit notwendig, damit aber auch leicht 
gemacht, daß er selbst, Jesus Christus, unsere Hoffnung 
ist, daß wir auf etwas Anderes als auf die Offenbarung 
des von ihm schon Vollbrachten nicht mehr zu warten 
brauchen, daß schon unser Warten als solches erfüllt ist 
von der Gegenwart des Erwarteten. Kraft des aufgerichte¬ 
ten Gesetzes Gottes ist uns das wirklich leicht gemacht. 


124 


Paulus erklärt sich jetzt (v. 26—27) ganz ähnlich wie 
vorher in Vers 16: Auf ihre eigene Kraft, geduldig zu 
sein, auf den Schwung und Enthusiasmus ihres Höffens 
sind gerade die, die in Christus Jesus sind, nicht ange¬ 
wiesen. Sondern indem sie inmitten und gleich der ganzen 
übrigen Welt im Dienst des Vergehens stehen und darum 
mit der ganzen Kreatur zu seufzen nicht unterlassen kön¬ 
nen, kommt der Geist ihrer Schwachheit zu Hilfe. Wie 
das? Es wird beim Bleiben in Hoffnung, bei der Geduld 
des Wartens offenbar entscheidend darum gehen, daß wir 
bleiben und fortfahren in jenem Werk der Anrufung, in 
jenem Schreien: Abba, Vater! (v. 15), in welchem die 
Gnade als Gnade ergriffen und eben damit das Gesetz 
erfüllt wird. Eben zum Tun dieses Werkes kommt der 
Geist uns zu Hilfe, ja tritt der Geist selbst für uns ein. 
Denn wie sollten wir wissen, was rechtes Beten ist, wie 
sollten wir gerade das Abba, Vater! als das eine große 
rettende Gebet recht zu beten in der Lage sein? Wie hätten 
wir verstanden, daß Gnade Gnade ist, wenn wir gerade 
vor diesem Werk nicht erschreckt zurückweichen würden? 
Wer kann gerade so beten? Wer kann so mit Gott reden, 
um mit dieser Rede Gott angenehm zu sein und von ihm 
erhört zu werden? Und nun sagt Paulus, daß eben in 
diesem einen entscheidenden Werk Gott selbst für uns ein- 
tritt, sich selbst zu unserem Fürsprecher bei sich macht, 
daß er den für uns unaussprechlichen Seufzer seufzt, um 
eben darum gewiß auch zu hören, was wir selber ja nicht 
zu ihm sagen könnten, um dann gewiß auch anzuneh¬ 
men, was er selbst darzubringen hat. Das ist es zuhöchst 
und zuletzt, was mit der Aufrichtung des Gesetzes Gottes 
für die, die in Christus Jesus sind, Wirklichkeit wird. Das 
ist es, was sie von der Hoffnung nicht weichen läßt, wenn 
sie es schon wollten. Das ist das Geheimnis ihrer Geduld. 
Daß Gott in ihren freudlosen und kraftlosen Seufzern 
die Stimme seines eigenen Sohnes hört, das macht dieses 


125 


ihr Seufzen zu der Anbetung, die ihm wohlgefällig ist, 
und macht es für sie selbst zu dem getrösteten Seufzen, in 
welchem sie aus der Hoffnung nie herausfallen werden. 


Der letzte Abschnitt von Röm. 8, Vers 28—39*) be¬ 
schreibt das Leben unter dem Gesetz Gottes als das Leben 
in der Unschuld. Wir entnehmen diesen Begriff insbesondere 
den Versen 31—39, in denen in aller Form eben die Frage 
aufgeworfen wird: wer nun etwa gegen die, die in Chri¬ 
stus Jesus sind, auftreten, ihnen etwas Vorhalten, sie an- 
klagen könnte und in denen auf diese Frage in aller 
Form die Antwort gegeben wird: niemand kann das, von 
nirgendswoher kann das geschehen; denn gerade der, der 
gegen sie sein und reden, gerade der Einzige, der sie schul¬ 
dig sprechen könnte, tut das Gegenteil; gerade er ist und 
redet für sie, und indem er das tut — er, der Brunn¬ 
quell und das Maß aller Gerechtigkeit, er, der ewige Rich¬ 
ter — sind sie eben unschuldig. 

Wir hörten schon in Vers 26—27: sie haben inmitten 
der Welt, die im Schatten des Kreuzes Christi nur vergehen 
kann und als deren Angehörige sie auch selbst sterben 
müssen, darin die Kraft zu der Hoffnung, die nach Kap. 
5, 5 nicht zuschanden werden läßt: daß der Geist für 
sie eintritt, für sie redet, so daß Gott in ihrem schwachen 
und gebrechlichen Beten die Stimme seines eigenen Soh¬ 
nes vernimmt, an dem er Wohlgefallen hat, so daß dieses 
Wohlgefallen auch ihnen zugute kommt, so daß er sie hört 
als seine Kinder, wenn sie aus großer Tiefe zu ihm rufen 
(v. 15): Abba, Vater! Der Geist ist die in ihrem Glauben 
über ihre ganze Gefangenschaft unter Sünde und Tod 
triumphierende Gnade Gottes. Dieser Geist ist der An¬ 
walt, der sie freispricht, weil ja eben er auch ihr Gesetz 
und ihr Richter ist. Und wir hörten schon in Vers 1: „So 

*) Vgl. dazu KD IV, 2 , S. 308 f. 


126 


gibt es nun keine Verurteilung für die, die in Christus 
Jesus sind“. — Das ist die Botschaft, die nun, am Schluß 
des Kapitels, ausdrücklich noch einmal aufgenommen wird. 

Wenn es in Vers 28 heißt, daß denen, die Gott lieben, 
alle Dinge zum Guten mitwirken, so ist bei „allen Dingen“ 
an alles das zu denken, was, sei es als irdisdi-geschicht- 
liches Widerfahrnis (v. 35), sei es als geistlich-überwelt- 
licher Einfluß (v. 38), die Macht haben könnte, den Chri¬ 
sten, die da solchen Widerfahrnissen und Einflüssen nicht 
entzogen sind, die Freiheit der Unschuld, in der sie vor 
Gott stehen dürfen, wieder zu nehmen. Warum haben sie 
sie faktisch nicht? Darum nicht, wird es in Vers 35 und 
39 heißen, weil keine von diesen Möglichkeiten auch nur 
von ferne so groß ist, um sie von der nach Kap. 5, 5 in 
ihre Herzen gegossenen Liebe Gottes — sie heißt in Vers 35 
die Liebe Christi, in Vers 39 die Liebe Gottes in Christus 
Jesus, unserm Herrn — zu trennen, ihnen diese Liebe 
aus dem Herzen zu reißen, so daß sie wieder lieblos und 
damit auf sich selbst angewiesen dastehen müßten. Es 
handelt sich um die Liebe, die uns Gott damit erweist, 
daß wir ihn um seines eigenen Sohnes willen als seine 
Kinder wieder lieben dürfen. Wo diese Liebe ist — und 
sie ist in denen, die in Christus Jesus sind, sie bleibt in 
ihnen — da sind alle jene Gefahren keine Gefahren, son¬ 
dern Hilfen (v. 28), da kann alle Anfechtung, die von jenen 
Möglichkeiten her drohen kann, nur dazu dienen, den 
Menschen im Gehorsam und in der Hoffnung und damit 
in jenem Stand der Unschuld und also in der Freiheit 
der Kinder Gottes erst recht zu bestätigen und zu bestär¬ 
ken. Das ist das Gute, zu dem ihnen alle Dinge mitwirken 
müssen. Ihnen, die Gott lieben! Paulus macht jetzt noch 
einmal klar, daß dieses Lieben im Zusammenhang des 
Evangeliums nicht etwa bedeuten kann, daß Menschen es 
sich selbst gewählt, bereitet und verschafft hätten, sich 
Gott zuzuwenden und zu übergeben, daraufhin, daß sie 


127 


mit Gott etwas anzufangen wüßten, für Gott von sich 
aus irgend eine Neigung und Fähigkeit hätten. Von der 
lebendigen Kraft des Geistes, des auf Golgatha aufgerich¬ 
teten Lebensgesetzes ist ja die Rede. Die Gott lieben, sind 
die, die Gott nach seinem freien Willen von Ewigkeit her 
zu solchem Lieben bestimmt und dann in der Zeit dazu 
berufen hat. Er hat für sie und an ihnen gehandelt 
(v. 29—30): Er wußte um sie, er gab ihnen damit, daß er 
um sie wußte und an sie dachte, ihre Bestimmung — bei¬ 
des im voraus, d. h. bei sich selber, in der Kraft der all¬ 
mächtigen Barmherzigkeit, welche war, ehe sie waren, ja 
ehe die Welt war (Eph. 1,4) — und daraufhin, da sie 
noch taub waren, berief er sie durch sein Wort, darauf¬ 
hin, da sie noch Gottlose waren, sprach er zu ihnen vor 
den Ohren der ganzen himmlischen und irdisdien Schöp¬ 
fung: daß sie gerecht seien, daraufhin, da sic noch mit¬ 
ten in der Anfechtung standen, bekleidete er sie mit seiner 
eigenen Herrlichkeit. Man bemerke, wie Paulus das alles 
in der Vergangenheitsform, als ein historisches, ja vor¬ 
historisches ewiges Faktum beschreibt. Mag es mit dieser 
Gefangenschaft unter Sünde und Tod stehen, wie es will! 
Mag die Angst, in der sie, dem Gesetz der Sünde und des 
Todes unterworfen, am Genügen der göttlichen Gnade 
zweifeln, und mag der Hochmut, der an Stelle der Gnade 
immer wieder das eigene Werk setzen möchte, noch so 
groß sein! Von diesem Faktum kommen sie her, von ihm 
her existieren sie als von der neuen, eigentlichen Geburt 
her, die ihnen durch Gottes Wort und Willen widerfahren 
ist. Das ist die Macht des Gesetzes Gottes über sie, daß 
sie von diesem Faktum herkommen, daß sie diese von 
neuem Geborenen sind. Weil es darum, weil es um das Ge¬ 
schehen des Werkes des Heiligen Geistes geht, wenn sie 
Gott lieben, weil dieses Lieben ohne sie und gegen sie, 
und damit für sie und damit dann auch echt und recht 
mit ihnen geschieht und so ihr eigenes, in ihre Herzen 


128 


ausgegossenes Lieben, das Lieben ihres eigenen Herzens 
ist, darum kann es nachher heißen, daß niemand und 
nichts sie davon zu trennen vermag. Es geht um die Über¬ 
macht der Liebe Gottes selbst, wenn Menschen, die ihn lie¬ 
ben und damit solche sind, denen auch alle Anfechtung 
nur helfen kann, erst recht unschuldig vor ihm dazustehen 
und zu wandeln. Das hat Paulus in Vers 29 konkret 
anschaulich gemacht, daß er die ewige Vorherbestimmung, 
die Praedestination, in deren Vollzug es in der Zeit zur 
Berufung, zur Rechtfertigung, zur Verherrlichung des 
Menschen kommt, dahin beschreibt: Gott hat sie von Ewig¬ 
keit her gleichgestaltet seinem eigenen Bilde, d. h. aber 
— denn das ist das Bild Gottes (Kol. 1,15) — der Gestalt 
seines eigenen Sohnes. Er hat ihrer von Ewigkeit her so 
gedacht, wie er von Ewigkeit her seines eigenen Sohnes 
gedachte, und damit hat er ihnen ihre Bestimmung für 
ihre zeitliche Existenz gegeben. Sie sind durch die Liebe, 
in der Gott seinen eigenen Sohn liebt, dazu bestimmt, 
seine Kinder zu sein und also ihn wieder zu lieben. Dar¬ 
um hat diese Liebe Übermacht: ohne sie, gegen sie und so 
für sie, so in ihnen. Darum ist es unmöglich, sie von dieser 
Liebe zu scheiden. Darum kann ihnen alle Anfechtung nur 
Hilfe sein. 

Und eben darum — wir kommen zu der Hauptstelle in 
Vers 31 ff. — stehen sie nun auch unklagbar da vor Gott: 
unklagbar, soviel Klage sich immer gegen sie erheben 
mag. „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ Es wäre 
eigenmächtiger Trotz, wenn die, die in Christus Jesus sind, 
dabei verharren wollten, daß irgend jemand und irgend 
etwas gegen sie sein, daß ihre Unschuld nicht feststehen 
sollte, und daß sie sich darum aufs neue in die Angst 
und in den Hochmut flüchten müßten. Indem sie Gott 
lieben, steht es fest, wo sie herkommen und damit auch, 
wo sie hingehen. Gott ist für sie. Das ist ja nach Vers 29 
und Vers 30 das Geheimnis ihrer Liebe. Gott ist für sie. 


129 


Hat er doch seines eigenen Sohnes — desselben, um des¬ 
willen er ihrer von Ewigkeit her gedachte als seiner lieben 
Kinder — hat er doch in ihm seiner selbst nicht verschont, 
sich selbst nicht für zu kostbar gehalten, sondern in ihm 
— damit ihre ewige Praedestination vollzogen und er¬ 
füllt werde! — sich selbst dahin gegeben. Dahin gegeben — 
der Ausdruck ist derselbe, den Paulus im ersten Kapitel 
(v. 24. 26. 28) für die göttliche Dahingabe der Menschen 
an ihr selbstgewähltes Verderben verwendet — in die 
Schande der menschlichen Sünde und des menschlichen 
Todes hineingegeben: für sie, damit diese Schande von 
ihnen genommen werde und also die ihrige nicht mehr 
sei. Unter dem Gesetz dieses Ereignisses stehen und leben 
sie ja. Wie sollten sie da nicht unschuldig sein? Wie sollte 
ihnen da nicht alles geschenkt sein und immer wieder ge¬ 
schenkt werden, was ihre Unschuld erweisen und beweisen 
kann? Denn (v. 34): Wer will, wer kann, wer wird sie 
anklagen — sie, die von daher kommen, sie die Erwähl¬ 
ten Gottes, sie, deren ewige Erwählung in der Mitte der 
Zeit auf Golgatha zum Vollzug gekommen ist für alle 
Zeiten, sie, die den zum Richer haben, der sie schon ge¬ 
recht gesprochen hat, und als dessen endgültiges Wort sie 
immer wieder diesen Richterspruch hören dürfen? Wer ver¬ 
dammt, wer verurteilt, wer verwirft diese Menschen? 
Paulus bestreitet nicht — wie sollte er? —, daß es solche 
Verdammnis, solche Verurteilung, solche Verwerfung des 
Menschen — auch dieser Menschen — tatsächlich gibt, daß 
sie sie tausendmal verdient haben und daß sie ihr ret¬ 
tungslos verfallen sind. Aber wer vollzieht sie? Antwort: 
Jesus Christus vollzieht sie, hat sie ein für allemal voll¬ 
zogen für uns und damit auch an uns — damit nämlich, 
daß er selber sie getragen und als ihr Träger gestorben 
ist — eben er, der auch auferstanden, der zur Rechten 
Gottes ist, durch den Gott die ganze Welt regiert und 
richtet, der — Paulus braucht denselben Ausdruck, den 


130 


er in Vers 27 vom Geiste brauchte — für uns eintritt, 
in welchem Gott selbst also nicht gegen, sondern für uns 
ist, um deswillen wir unsere gerechte Verdammnis, Ver¬ 
urteilung und Verwerfung hinter uns und nicht mehr 
vor uns haben. Weil dem so ist, darum wäre es eigen¬ 
mächtiger Trotz, wenn die, die in ihm sind, an ihre eigene 
Unschuld, an ihre Freiheit als Kinder Gottes nicht glau¬ 
ben, wenn sie mit diesem Geschenk nicht vollen Ernst 
machen würden. Sie würden nicht an Gott glauben, wenn 
sie nicht an diese ihre Freiheit glauben würden. 

Sie, die Gott lieben! Noch einmal kommt Paulus zum 
Schluß in Vers 35 ff. auf diese ihre Bestimmung zurück, 
um jetzt eben das zu unterstreichen: sie ist unverlierbar. 
Sie gehört nicht zu den Bestimmungen des Menschen, die, 
weil sie geschöpflich sind, mit dem Vergehen des Geschöpfs, 
kraft der Anfeditung, die auch dem Christen von der 
Erde wie vom Himmel her täglich widerfahren kann und 
tatsächlich widerfährt, auch wieder dahinfallen könnten 
und irgend einmal dahinfallen. Es gibt niemand und 
nichts, was sie von der Liebe Christi scheiden könnte. Die 
Verse 35—37 erinnern zunädist — es ist das einzige Mal 
im Römerbrief, daß das geschieht — daran, daß die Chri¬ 
sten, mit denen Paulus es zu tun hat, offenbar auch die 
Christen in Rom, in der Verfolgung leben. Das ist der In¬ 
begriff der irdischen Anfechtung. In der Verfolgung als 
dem handgreiflichen Ausdruck ihres Mißerfolges in der 
Welt und ihrer eigenen Teilnahme an deren Verderblich¬ 
keit (v. 19 f.) laufen sie Gefahr, ihrer Unsdiuld verlustig 
zu gehen, das Gesetz des Lebens, unter dem sie stehen, aus 
den Augen und Ohren zu verlieren, der natürlichen Angst 
und auch dem natürlichen Hochmut einen Raum zu ge¬ 
ben, der ihnen nicht zukommen kann. Die Verfolgung 
könnte sie von Jesus Christus wegtreiben, könnte sie des 
Geistes berauben, könnte ihnen die Liebe zu Gott nehmen 
wollen. Paulus sagt dazu nicht, daß dies nicht geschehen 


131 


darf und daß sie sich davor hüten sollen, sondern er sagt, 
daß das nicht geschehen kann. Ein Beweis dafür ist nun 
nicht mehr nötig, oder wenn man einen sucht, liegt er in 
dem Zitat aus Ps. 44: „Um deinetwillen werden wir ge¬ 
tötet den ganzen Tag, sind wir geachtet wie Schlacht¬ 
schafe“. Um deinetwillen: also gerade in ihrer Verbindung 
und Einheit mit Jesus Christus, gerade weil sie unter 
Gottes Gesetz, wie es auf Golgatha aufgerichtet wurde, 
leben, leiden sie Verfolgung, wie ja heimlich alles Leiden 
der ganzen Schöpfung die Ausstrahlung des Leidens des 
Sohnes Gottes, eben darum aber auch ein Leiden auf 
Hoffnung ist. Anfechtung in der Verbindung und Einheit 
mit der Anfechtung, die Jesus Christus selber erlitten und 
ertragen hat, kann aber von ihm nicht wegführen, kann 
diese Verbindung und Einheit, kann also auch die Liebe 
nur stärker machen. „In diesem allem überwinden wir 
weit“ — nicht kraft unseres Mutes und unserer Aus¬ 
dauer, aber „um deswillen, der uns liebte“, mit jener 
ewigen und in der Mitte derZeit verwirklichten und offen¬ 
barten Liebe, die die Verfolgten im Stande ihrer Unschuld 
unmöglich erschüttern, sondern eben nur bestätigen und 
bestärken kann, durch die alle absteigende Angst und 
aller aufsteigende Hochmut immer schon im voraus in 
ihre Schranken gewiesen sind. Hinter und über der irdi¬ 
schen Anfechtung und in dieser verhüllt droht nun frei¬ 
lich die größere und gefährlichere durch die unsichtbaren, 
die himmlischen Mächte dieser Welt. Von ihnen ist inVers 
38—39 die Rede: Tod, Leben, Engel, Gewalten, Gegen¬ 
wart, Zukunft, Kräfte, Höhe, Tiefe. Man muß damit 
rechnen, daß Paulus hier einen ganzen Aufruhr geistiger 
Wirklichkeiten, einen ganzen bewegten Ozean verborgenen 
und in der, den Christen zuteil werdenden Verfolgung nur 
zu Tage tretenden höheren Widerstandes gar nicht ab¬ 
strakt, sondern in höchst persönlichen Gestalten vor sich 
gesehen hat, jene „viele Götter und viele Herren“ (1. Kor. 


132 


/ 

8, 5), jene „Herrscher dieser Welt“ (1. Kor. 2, 6 ff.), die 
es letztlich und im Grunde waren, die den Herrn der 
Herrlichkeit gekreuzigt haben, weil sie die Weisheit Got¬ 
tes nicht erkannten. Sie werden uns von der Liebe Gottes 
nicht trennen können, sagt Paulus auch von ihnen. Schon 
darum nicht, weil sie — wir hören das in Vers 39 ganz 
beiläufig — allesamt und in ihrer ganzen Macht mit allen 
ihren Möglichkeiten nur Geschöpfe, nur „sogen. Götter“ 
(1. Kor. 8, 5) sind, weil auch ihr Aufruhr die Christen 
nur noch mehr mit dem verbinden kann, dem er eigentlich 
gilt, weil er durch den, dem er eigentlich gilt, längst ge¬ 
stillt und überwunden ist, weil alles, was ihnen von dort 
her widerfahren kann, nur noch die Nachwehen dessen 
sind, was sie ihm gegenüber längst und zwar vergeblich 
auszurichten versucht haben, weil sie gerade in diesem ih¬ 
rem frevelhaftesten Werk gar nicht als Götter und Herren 
eigenen Rechtes, sondern im Ergebnis nur als Diener des¬ 
sen handeln konnten, der an dem von ihnen aufgerichte¬ 
ten Kreuz die Unschuld derer, die an ihn glauben, so an 
den Tag gebracht hat, daß jene zu spät kommen, wenn sie 
sie ihnen heute noch nehmen wollen. Es bleibt also bei 
Vers 1: So gibt es denn keine Verurteilung derer, die in 
Christus Jesus sind! Keine Verurteilung! — das ist das 
endgültig Frohe der frohen Botschaft des Evangeliums. 


133 


9, 1 — 11, 36 


Das Evangelium unter den Juden"’) 


Es ist deutlich, daß wir es in diesen Kapiteln mit einem 
zweiten, verhältnismäßig selbständigen Teil des Briefes 
zu tun bekommen. Um eine weitere Erklärung des Satzes 
1,16 vom Evangelium als dem allmächtigen Rettungswerk 
Gottes für jeden Glaubenden und also um eine einfache 
Fortsetzung des Gedankenganges 1, 18 — 8, 39 kann es 
sich hier nicht mehr handeln. Hier nicht und so auch nicht 
in dem auf diesen Teil in Kapitel 12—16 folgenden 
Schlußteil des Ganzen. Über jenes Rettungswerk, über das 
dem durch seinen Glauben Gerechten im Evangelium zu¬ 
gesagte Leben ist im Bisherigen alles gesagt, was zu sagen 
ist. Was wir jetzt noch vor uns haben, ist die Antwort 
auf die Frage: Was bedeutet es, wenn das so beschriebene 
Evangelium — also das Evangelium als die göttliche Ver¬ 
urteilung des Menschen, als die göttliche Gerechtsprechung 
des Glaubenden, als des Menschen Versöhnung mit Gott, 
als seine Heiligung und Befreiung, als die Aufrichtung des 
göttlichen Gesetzes — auf Ungehorsam und was bedeutet 
es, wenn es auf Gehorsam stößt? 

Wie das ist, wenn das Evangelium auf Gehorsam stößt, 
das wird Paulus Kap. 12—15 nicht in Form einer Theorie, 
sondern bemerkenswerter Weise — wie sollte von Ge¬ 
horsam anders gesprochen werden können? — in Form 
einer Reihe von bestimmten Ermahnungen und Weisungen 
zur Darstellung bringen. Aber nun ist es ebenso bemer- 

*) Vgl. zu diesen drei Kapiteln KD II 2 , S. 222 f, 235 f, 264 f, 294 f. 


134 


kenswert, daß das Problem des Ungehorsams dem Evan¬ 
gelium gegenüber nicht etwa in Form einer entsprechenden 
Reihe von Anklagen und Beschuldigungen, nicht in Form 
einer Büßpredigt, sondern nun gerade — im besten Sinn 
des Wortes — in Form einer Theorie, d. h. in Form einer 
anbetenden und lobpreisenden Betrachtung des auch dem 
Ungehorsam gegenüber sich bewährenden und letztlich 
triumphierenden Werkes und Weges Gottes — eben des 
Gottes, von dem das Evangelium redet — zur Darstel¬ 
lung bringt. Wenn man sich darüber verwundern möchte, 
so mag man sich fragen, ob von dem, der das Evangelium 
selbst und als solches so verstanden und ausgelegt hat, wie 
es gerade zuletzt im achten Kapitel geschehen ist, etwas 
Anderes zu erwarten ist, als daß er gerade angesichts des 
Ungehorsams diesem Evangelium gegenüber das Werk 
und den Weg Gottes sein einziges Thema sein lassen, den 
Ungehorsam selbst und als solchen zum vornherein und 
zuletzt endgültig von diesem Thema her überhöht und in 
den Schatten gestellt sehen und verstehen wird. Daß die, 
die in Christus Jesus sind, von der Liebe Gottes nicht zu 
scheiden sind, das war ja das Letzte, was wir gehört 
haben. Wie sollte Einer, der das von sich selber zu sagen 
gewagt hat, die Wahrheit dieser Aussage nicht damit 
beweisen müssen, daß auch der Blick auf den dem Evan¬ 
gelium begegnenden Ungehorsam ihn in seiner Liebe zu 
Gott nicht irre machen, sondern nur erst recht zur An¬ 
betung und zum Lobpreis Gottes anspornen kann. Er 
wird die Wahrheit jener Aussage damit beweisen, daß 
er auch und gerade die Behandlung dieses Problems nicht 
zu einer Beschwerde über die menschliche Unart, sondern 
zu einer Verherrlichung Gottes und seiner Art gestaltet. 
Das ist es, was Paulus in diesen Kapiteln getan hat. Man 
vergewissere sich angesichts des Schlusses von Kap. 11, 
auf was er in dieser Sache hinaus will. „Gott hat Alle 
verschlossen unter den Ungehorsam, auf daß er sich Aller 


135 


erbarme“ (11,32). „Von ihm und durch ihn und zu ihm 
sind alle Dinge“ (11, 36). Daß er dort das Problem des 
Ungehorsams nicht ernst nehme, wird man angesichts von 
allem, was vorangeht, bestimmt nicht sagen können. Er 
nimmt es aber dort und in diesen ganzen Kapiteln damit 
ernst, daß er Gott — eben den Gott, von dem das 
Evangelium redet — ernst nimmt und ihm und also nicht 
dem ungehorsamen Menschen die Ehre des ersten und 
letzten Wortes gibt. 

Man kann, wenn man genau zusieht, schon der Ein¬ 
leitung zu Kap. 9, 1—5 entnehmen, in welcher Gesinnung 
und mit welchem Ergebnis Paulus sich in diesen Kapiteln 
mit dem Problem des Ungehorsams dem Evangelium ge¬ 
genüber auseinandersetzen wird. Wir lernen aus diesen 
Versen folgendes: 

1) Dieses Problem ist für Paulus ohne weiteres iden¬ 
tisch mit dem Problem des Ungehorsams Israels: der gro¬ 
ßen Mehrheit Israels nämlich, die sich auch nach der Auf¬ 
erstehung Jesu Christi, auch nach der Ausgießung des 
heiligen Geistes dem Evangelium verweigert. Warum ge¬ 
rade Israel? Darum Israel, lesen wir in Vers 4—5, weil 
Israel und das Evangelium gewissermaßen natürlich und 
von Hause aus zusammengehören — weil Israel als sol¬ 
ches von Gott schon angenommen ist an Sohnes Statt, weil 
die Herrlichkeit Gottes in seiner Mitte wohnt, weil der 
Bund Gottes mit ihm geschlossen und immer wieder be¬ 
stätigt wurde, weil es das Gesetz hat, den Opferdienst, 
die Verheißungen und die Väter von seinen Anfängen und 
bis auf diesen Tag und in dem Allem Jesus Christus 
selber, der ja nach dem Fleische eben aus ihm hervor¬ 
gehen sollte und hervorgegangen ist: er, der zugleich 
Gott selber ist, der Gott, der über allem und allen ist 
und herrscht. Darum, weil das Heil zu den Juden und 
von den Juden in die Welt gekommen ist, darum, weil die 


136 


Gnade Gottes, die den Juden, und nur durch die Juden 
audi den Heiden zugewendete Gnade ist — darum entschei¬ 
det es sich hier, was es mit dem Ungehorsam dem Evan¬ 
gelium gegenüber auf sich hat. Es braucht die volle ur¬ 
sprüngliche Gegenwart eben der Gnade Gottes, zu der Wirk¬ 
lichkeit und zu der Offenbarung des menschlichen Unge¬ 
horsams. 

2) Dieser Ungehorsam kann für den, der selber zum 
Gehorsam gegen das Evangelium gekommen ist, für den 
Apostel also und mit ihm für die aus vielen Heiden und 
aus so merkwürdig wenig Juden bestehende Kirche nicht 
ein Gegenstand der Entrüstung und der Anklage sein. Die¬ 
ser Ungehorsam bedeutet ja für die Ungehorsamen Aus¬ 
schluß von der ganzen Wohltat des Evangeliums und 
damit Ausschluß von dem, was Gott durch das Evan¬ 
gelium will mit dem Menschen: Ausschluß von der Teil¬ 
nahme an seiner Verherrlichung in der Welt. Die Un¬ 
gehorsamen sind also geschlagen und bestraft mit ihrem 
Ungehorsam: doppelt gestraft, da er in ihrem schlechthin 
unbegreiflichen Versagen gerade gegenüber der ihnen zu¬ 
gewendeten Gnade Gottes besteht. Nicht anzuklagen, son¬ 
dern zu beklagen sind sie. Daß er — nicht als israeliti¬ 
scher Patriot, sondern als Apostel „große Traurigkeit und 
unablässigen Schmerz“ um sie habe, das ist es, was Paulus 
in Vers 2 in dieser Sache als seine Stellungnahme zu be¬ 
kennen hat. 

3) Paulus hat diesen seinen Schmerz nach Vers 1 in 
der feierlichsten Weise zum Gegenstand seiner Verkündi¬ 
gung gemacht. Er redet in dieser Sache „die Wahrheit in 
Christus“; er beruft sich gerade für das, was er hier zu 
sagen hat, auf das Zeugnis des Heiligen Geistes. Er hält es 
für der Mühe wert und für notwendig, die römische Ge¬ 
meinde, die sich in ihrer Mehrzahl aus Heiden zusammen¬ 
setzte, diese Gläubigen, diese Gehorsamen, drei Kapitel lang 
mit dem Problem des Ungehorsams, dem Problem Israels 


137 


zu beschäftigen und zwar in diesem Sinn zu beschäftigen: 
sie zur Teilnahme an seinem Schmerz aufzurufen. Aber 
er sagt ihnen ja noch mehr als das. Er wagt in Vers 3 
das Wort: daß er zum Besten seiner ungehorsamen Brü¬ 
der aus Israel von Christus weg verflucht zu werden 
wünschte. Wenn das keine verwegene Übertreibung ist, 
dann ist mit diesem Wort gesagt: er, der gehorsam Ge¬ 
wordene, er, der Apostel Jesu Christi, kann sich auf kei¬ 
nen Fall und in keiner Weise mit der Tatsache des Un¬ 
gehorsams und des Ausschlusses Israels abfinden. Er steht 
und fällt gerade als Gehorsamer damit, daß die Unge¬ 
horsamen nicht ungehorsam bleiben. Würden sie es blei¬ 
ben, dann wollte und würde auch er vom Evangelium, 
von seiner Herrlichkeit und von dem Dienst der Verherr¬ 
lichung Gottes ausgeschlossen sein. Nochmals: nicht irgend 
eine menschliche Treue führt hier das Wort. Die Sache 
selbst, das Evangelium verlangt die volle vorbehaltlose 
Solidarität der Gehorsamen mit den Ungehorsamen. Denn 
das ist nicht des Paulus Privatsache, sondern das ver¬ 
kündigt er den römischen Christen als „Wahrheit in Chri¬ 
stus“, die für sie ebenso gilt wie für ihn. 

Und nun sind es drei Gedankenreihen, in denen Paulus 
seine Stellungnahme bzw. die vom Evangelium her ge¬ 
botene Stellungnahme der christlichen Kirche dem in Is¬ 
rael verkörperten Ungehorsam diesem Evangelium gegen¬ 
über sichtbar macht. Sie haben alle drei das Gemeinsame, 
daß sie zeigen, auch dieser Ungehorsam steht in seiner 
ganzen Furchtbarkeit im Licht — wirklich im Licht! — 
des Evangeliums, gegen das er sich richtet. Alle drei Ge¬ 
dankenreihen sagen: nicht daß es eine diesem Ungehor¬ 
sam entsprechende Verdammnis gibt, sondern daß dieser 
Ungehorsam samt der ihm entsprechenden Verdammnis 
umschlossen ist von Gottes Weg und Werk: von dem Weg 
und Werk seiner Barmherzigkeit — derselben göttlichen 


138 


Barmherzigkeit, deren eben die, die in Christus Jesus sind, 
eben die dem Evangelium Gehorsamen, sich jetzt schon 
rühmen dürfen. Wie könnten sie das tun, wenn sie ihr 
nicht auch im Blick auf die Ungehorsamen das erste und 
das letzte Wort geben und lassen würden? 

Paulus sagt 9, 6—29: daß auch das furchtbare Ereignis 
des Ungehorsams sich darin als eingeschlossen in das Werk 
der göttlichen Barmherzigkeit verrät, daß es sichtbar 
macht: die Menschen wählen nicht, was sie für gut halten, 
sondern sie wählen den souveränen Willen Gottes, wenn 
sie dem Evangelium gehorsam werden. Sie sind erwählt, 
indem sie das tun! So können wir keinen letzten Anstoß 
daran nehmen, wenn wir Viele, die Ungehorsamen, sehen, 
die eben das nicht tun. Paulus sagt in Kap. 9, 30 — 10, 
21: Was diese mit ihrem Ungehorsam tun, ist darum un¬ 
entschuldbar, ist aber auch gerade darum nicht hoffnungs¬ 
los, weil ja eben der Gott, an welchem sie sich damit ver¬ 
sündigen, der Gott ist, der mit seiner Gerechtigkeit auch 
für ihre Ungerechtigkeit einzustehen beschlossen hat und 
bereit ist und der den Glauben an ihn auch ihnen so 
nahe gelegt hat, daß es ihnen objektiv unmöglich gemacht 
ist, ihn zu verfehlen. Und Paulus sagt in Kap. 11, 1—36, 
daß Gott auch unter den Ungehorsamen immer wieder Ge¬ 
horsam erweckt, daß umgekehrt die Gehorsamen ange¬ 
sichts der Ungehorsamen nur dazu Anlaß haben, der 
ihnen widerfahrenen Barmherzigkeit um so dankbarer zu 
sein in erneuertem Gehorsam und daß gerade sie die Ver¬ 
heißung, von der sie selber leben, notwendig auch auf die 
Ungehorsamen beziehen werden. — Das ist in Kürze die 
paulinische Anwendung des Evangeliums auf das Pro¬ 
blem des Ungehorsams diesem Evangelium gegenüber. 

Der Zusammenhang in Kap. 9, 6—29 steht unter dem 
Zeichen von Vers 6a: daß Gottes Wort, das auch Israel 


139 


und ursprünglich und zuerst gerade Israel gegebene 
Evangelium durch Israels Ungehorsam ihm gegenüber 
nicht hinfällig, nicht suspendiert, nicht mattgesetzt ist, daß 
es sich vielmehr in seiner Weise auch in der Existenz 
dieser Ungehorsamen seine Bestätigung verschafft. Unge¬ 
horsam bedeutet — das ist die Voraussetzung dieses ersten 
Gedankengangs und daran ist ja Paulus nach Vers 1—5 
vor allem interessiert — den Ausschluß der Ungehorsa¬ 
men wie von Gottes Wohltat im Evangelium so auch von 
der dem Menschen mit dem Evangelium zugewiesenen 
aktiven Teilnahme an Gottes Verherrlichung. Solches Aus¬ 
schließen gehört aber zur Erfüllung des Wortes Gottes, 
zum Werk des Evangeliums. Es schließt den Menschen, 
wie wir in Kap. 1—8 wahrhaftig deutlich genug gehört 
haben, auf der ganzen Linie von Gott aus, d. h. es kenn¬ 
zeichnet ihn auf der ganzen Linie als Ungehorsamen, um 
ihn dann als solchen einzuschließen und zu bejahen, um 
ihm als solchem Gottes Gabe und Aufgabe zuzuweisen. 
Daß er in Jesus Christus getötet und nur in ihm aufer¬ 
weckt ist von den Toten, das ist der Inhalt des Wortes 
Gottes an jeden Menschen. Sehen wir Ausgeschlossene, 
dann sollen wir sie unter allen Umständen nicht als vom 
Evangelium, sondern als durch das Evangelium selbst 
Ausgeschlossene ansehen. Sehen wir die durch ihren Un¬ 
glauben ausgeschlossene Synagoge, dann sollen wir weder 
am Evangelium noch auch an den dort in der Finsternis 
versammelten Menschen verzweifeln, dann sollen wir uns 
vielmehr klar machen, daß eben durch das Evangelium ge¬ 
rade dort, wo es herkommt, gerade dort, wo es zuhause 
war, immer dieses Ausschließen vollzogen wurde: nicht 
um des Ausschließens, sondern um des Einschließens wil¬ 
len: aber dieses Ausschließen. „Nicht alle, die aus Israel 
sind, sind Israel. Und wenn sie Nachkommen Abrahams 
sind, sind sie darum nicht alle seine Kinder“ (v. 6 f.). Es 
geht ja in Israel nicht um Israel, sondern um den Israel 


140 


verheißenen Christus und nur um seinetwillen dann auch 
um Israel. Israel muß mit ihm sterben, um mit ihm zu 
leben. Und Gottes souveräner Wille verfügt über Beides. 
Das ist es, was sich in Israels Geschichte von Anfang an 
ankündigt in jenem Ausschließen: darin, daß dem gött¬ 
lichen Erwählen immer auch ein Nichterwählen, seinem 
Annehmen immer auch ein Verwerfen zur Seite geht. 
Nicht irgend ein Sohn Abrahams, nicht Ismael, sondern 
Isaak wird durch Gottes Verheißung selbst zum Stamm¬ 
vater Christi und damit zum Träger der Hoffnung für 
ganz Israel gemacht (v. 8—9). Und wiederum unter den 
Zwillingssöhnen der Rebekka nicht der Ältere, Esau, son¬ 
dern der Jüngere, Jakob (v. 10—13). Wer schließt jenen 
aus und diesen ein? Nicht der gute oder böse Wille des 
Einen oder des Anderen, sondern das tötende und leben¬ 
digmachende Wort Gottes, das Wort seines Hasses und 
seiner Liebe (v. 13), das Israels Hoffnung, aber eben dar¬ 
um auch Israels Richter ist von Anfang an. Dieses Wort 
verfügt nach beiden Seiten souverän. Dieses Wort ist das 
persönliche Wort der freien Barmherzigkeit Gottes. Und 
darum bestimmt es selbst, wo es wohnen und wo es nicht 
wohnen, wo es seinen Ursprung in der Geschichte nehmen 
und wo es das nicht tun will. Darum das doppelte Zei¬ 
chen des Annehmens und Verwerfens schon in der Väter¬ 
geschichte. Es ist dasselbe Wort und was da geschieht, ist 
die Bestätigung desselben Wortes nach beiden Seiten. 

Die Frage in Vers 14 ist naheliegend: ob diese durch das 
Evangelium selbst vollzogene Ausschließung nicht be¬ 
deute, daß Gott den Ausgeschlossenen, deren guter oder 
böser Wille nach Vers 10—13 gar nicht in Betracht gezogen 
wird, Unrecht tue? Wenn Paulus darauf mit jenem ent¬ 
setzten Unmöglich! antwortet, so ist zu beachten, daß das 
nicht etwa damit begründet wird, daß Gott vermöge seiner 
Souveränität das Recht habe, es in jeder Sache und so 
auch jedem Menschen gegenüber so zu halten, wie es aus 


141 


einem nur ihm bekannten Grunde sein Belieben ist. So hat 
man freilich in der späteren kirchlichen Prädestinations¬ 
lehre auf die Frage nach der Gerechtigkeit der göttlichen 
Erwählung geantwortet. Paulus aber antwortet in Vers 15 
mit der Anführung dessen, was zu Mose gesagt wurde: 
„Wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich und 
wem ich barmherzig bin, dem bin ich barmherzig!“ Das 
bedeutet aber: die Gerechtigkeit der göttlichen Erwäh¬ 
lung, nach der man auf den ersten Blick fragen möchte, 
besteht darin, daß sie die Gerechtigkeit der göttlichen 
Barmherzigkeit ist. Was Gott tut — und gerade das was 
er an den Söhnen Abrahams und dann wieder an den Söh¬ 
nen Isaaks tut mit jenem Annehmen und Verwerfen —, 
das ist das Werk seines Erbarmens, dessen Grund wieder 
nichts anderes als eben sein Erbarmen ist. Eine nackte 
Souveränität würde den erwählenden Gott von einem 
tyrannischen Dämon allerdings nicht unterscheiden. Sein 
Erbarmen aber — und darum handelt es sich in der Ge¬ 
schichte Israels — erweist ihn als Gott, der gerecht ist. 
Denn eben Barmherzigkeit und ihre Ausübung ist Gottes 
Recht. Das ist es, was nun auch in der Aussage in Vers 
16 das Entscheidende ist. Daß es bei dem wählenden 
Willen Gottes aller Willkür des Menschen gegenüber sein 
Bewenden haben müsse, hieß es schon in Vers 11. Und 
das wird nun allerdings wiederholt: Es gibt dem Willen 
Gottes gegenüber kein Recht und keinen Anspruch mensch¬ 
lichen Wollens und Laufens, menschlichen Beschließens 
und Leistens. Dem barmherzigen Gott können Isaak und 
Ismael, können Jakob und Esau mit allem, was sie sind 
und werden, nur zur Verfügung stehen. Wo er offenbar 
wird und handelt, wie es in Israel von Anfang an ge¬ 
schehen ist, da kann kein Mensch ihm zuvorkommen, da 
kann jeder Mensch nur zu seinem Dienst bereit sein: an¬ 
spruchslos der angenommene und anspruchslos auch der 
verworfene Mensch. Beide darum anspruchslos, weil beide 


142 


in ihrer Weise dem guten Willen Gottes dienen dürfen, 
weil er in ihrer Weise beide braucht, beider sich bedienen 
will. Auch der gehaßte Esau! 

Das ist es, was nun — immer im Gedanken an die 
durch ihren Ungehorsam ausgeschlossene Synagoge der 
Gegenwart — an der Gestalt des schlimmsten Verfolgers 
und Feindes Israels, des Pharao des Auszugs, klar ge¬ 
macht wird. Die Nennung dieses Namens — sie ist in 
Parallele zu der widerspenstigen Synagoge der Gegen¬ 
wart vernichtend für diese! — zeigt: die Ausgeschlossenen 
sind die Ungehorsamen. Man beachte aber, daß der 
Satz nicht mit einem „Dagegen“, sondern mit einem 
„Denn“ beginnt und also nicht als Gegensatz zum Voran¬ 
gehenden, sondern als dessen Fortsetzung und Erklärung 
zu verstehen ist. Die Existenz des Pharao bzw. das 
an ihn gerichtete Wort entspricht der Gerechtigkeit des 
göttlidien Erbarmens ebenso wie Gottes Entscheidung dem 
Mose gegenüber. Gott hat auch ihn „erwedtt, damit ich 
durch dich meine Macht erweise und damit mein Name 
verkündigt werde auf der ganzen Erde“. Also: auch der 
Pharao dient der „Macht Gottes“, die in Röm. 1, 16 das 
Evangelium, in 1. Kor. 1, 18 das Kreuz Christi, 1. Kor. 
1, 24 Jesus Christus selber heißt, der Verkündigung des 
Namens, d. h. der in seiner Offenbarung stattfindenden 
Vergegenwärtigung Gottes selber. Er steht gut neben 
Mose. An der Vollstreckung desselben barmherzigen Wil¬ 
lens Gottes wie dieser hat audi er Anteil. Er macht in 
seinem Gegensatz zu Mose und in dieser Gemeinschaft 
mit ihm klar, daß dieser Wille Gottes tatsächlich nicht an 
das Beschließen und Vollbringen irgend eines Menschen, 
daß alles, auch das böse menschliche Beschließen, an ihn 
gebunden ist. Will Gott, indem er sich dem Mose zuwendet, 
sein Erbarmen als solches, als die Macht lebendig zu ma¬ 
chen, offenbaren, so, indem er sich von dem Pharao ab¬ 
wendet, ihn verhärtet, verstockt und verschließt gegen sich 


143 


selber, das Andere, daß es sein Erbarmen ist, das er nie¬ 
mandem schuldig ist — so an ihm das Töten des Men¬ 
schen, ohne welches es nicht sein und darum auch nicht 
wirkliches Erbarmen wäre (V. 18). So wie dort den Pharao 
will Gott heute die ungehorsame Synagoge. So wie Pha¬ 
rao muß und wird auch sie sich als ein Werk der gött¬ 
lichen Barmherzigkeit verraten, das in seiner Weise nicht 
geringer ist als die gehorsame Kirche. 

Sollte sie wirklich Lust haben,darauf zu antworten, wie 
in Vers 19 angegeben: „Was hat Gott uns dann vorzuhalten? 
Wer widersteht dann eigentlich dem Willen Gottes?“ Sollte 
ihr Ungehorsam darum, weil auch er der Barmherzigkeit 
Gottes dienen muß, Gehorsam sein? Die Frage wäre unbe¬ 
antwortbar oder sie müßte geradezu bejaht werden, wenn 
Paulus in Vers 15 f. an die formale Freiheit, an das Recht 
der Gewalt Gottes appelliert hätte. Das hat er aber nicht 
getan. Er hat von dem Recht seiner Barmherzigkeit ge¬ 
sprochen und darum stehen die Dinge nun so, wie mit der 
Gegenfrage in Vers 20 ausgesprochen ist: „Oh, Mensch, 
wer bist du, daß du mit Gott rechten willst?“ Du bist ja 
dodi der Mensch, will Paulus sagen, der als Gegenstand 
der göttlichen Barmherzigkeit gar nicht die Möglichkeit, 
gar keine Stimme und gar kein Wort hat, um an Gott 
auch nur die Frage zu richten: ob er ihm etwas vorzu¬ 
halten habe? Du bist der Mensch, der vor dem Gott steht, 
der (Kap. 8, 32) seines eigenen Sohnes nicht verschont 
hat, sondern hat ihn für uns alle — auch für dich — 
dahingegeben. Du bist der Mensch, dem Gott darum in 
der Tat nichts vorzuhalten hat, weil er alles, was ihm vor¬ 
zuhalten ist, seinem eigenen Sohne vorgehalten hat, dem 
Gott nun nur nodi seine eigene Güte vorhält. Jawohl, du 
kannst ihm nicht widerstehen, wenn er dich und deinen 
Widerstand brauchen will, wie er den Pharao gebraucht. 
Wie aber kannst du damit deinen Widerstand entschuldi¬ 
gen oder gar rechtfertigen? Du vor diesem Gott?! Daß sie 


144 


aus dem Schild, mit welchem Gott uns schützt, einen 
Schild machen will, um uns selbst vor Gott, vor der Güte 
Gottes zu schützen, das ist das zutiefst Unsinnige der Frage 
inVers 19. Das Gleichnis vom Töpfer, das nun (v. 20b—21) 
folgt, wiederholt und bestätigt den Inhalt von Vers 18: 
der Gott, der in Jesus Christus als dem Ursprung und Ziel 
aller seiner Wege dem Menschen nichts als seine Güte 
entgegenzuhalten hat, ist frei und ist berechtigt, auf die¬ 
sen seinen Wegen, wie sie in der Geschichte Israels wirk¬ 
lich und offenbar sind, Gefäße zur Ehre und Gefäße zur 
Unehre zu schaffen und zu gebrauchen, d. h. Zeugen der 
Erfüllung seines göttlichen Vorsatzes und Zeugen der 
menschlichen Ohnmacht diesem Vorsatz gegenüber zu er¬ 
wecken und auf den Plan zu führen. Der Töpfer von 
Jer. 18, auf den Paulus hier anspielt, ist nun einmal nicht 
irgend ein allmächtiger Gott, der als solcher tun kann, 
was ihm beliebt, sondern der Gott Israels, welcher als sol¬ 
cher mit seinem Annehmen und Verwerfen, mit den Ge¬ 
fäßen beider Art, tut, was recht ist, weil es der Verwirk¬ 
lichung und Offenbarung seiner Barmherzigkeit dient, 
und welcher in dieser Absicht nicht aus einer indifferenten 
Mitte heraus dieses und jenes nebeneinander tut, dem es 
nicht dasselbe ist, Zeugen seines Lichtes und Zeugen der 
menschlichen Finsternis auf den Plan zu führen. Weil die¬ 
ser Gott die Einen und die Anderen in so ganz verschie¬ 
dener Weise will und erweckt, weil (Ps. 30, 6) sein Zorn 
einen Augenblick währt, seine Huld aber lebenslang, dar¬ 
um kann das Gebilde den Bildner nicht fragen: Warum 
machtest du mich so? Darum hat Gott als der Töpfer die 
Macht nicht nur, sondern das Recht zum Vollzug seines 
Willens, seinem Handeln hier diese, dort jene Gestalt zu 
geben. Daß Einer wie der Pharao jetzt nur Zeuge der 
Ohnmacht aller Menschen ist, das zwingt ihn nicht, das 
legitimiert ihn nicht, dies zu sein und zu bleiben, das er¬ 
laubt ihm nicht, das göttliche Nein, unter dem er steht, 


145 


gegen das göttliche Ja auszuspielen, das ihm ja gleich¬ 
zeitig in der Existenz der positiven Zeugen der göttlichen 
Güte — das etwa dem Pharao bis zuletzt durch Mose ent¬ 
gegengehalten wird. Nur um des göttlichen Erbarmens 
willen hat ja ein solcher negativer Zeuge die menschliche 
Ohnmacht zu bezeugen. Wie sollte er, gerade als das „Ge¬ 
fäß der Unehre“, das er ist, seine Bestimmung anders er¬ 
füllen, als indem er mit den „Gefäßen zur Ehre“ zusam¬ 
men das göttliche Erbarmen preist, statt es anzuklagen 
und sich selbst zu rechtfertigen. 

Daß diese Erklärung von Vers 19—21 nicht nur 
möglich, sondern die allein mögliche ist, zeigt die in 
Vers 22—24 folgende paulinische Erklärung des Töpfer¬ 
gleichnisses. Die Verse sind folgendermaßen zu um¬ 
schreiben und zu übersetzen: „Wie aber wenn (es sich mit 
dem rechten Verständnis dieses Gleichnisses so verhielte, 
daß) Gott, indem er seinen Zorn erweisen und seine Macht 
offenbaren wollte, die Gefäße des Zornes, bereitet zum 
Untergang, in großer Langmut ertragen hat, zur Offen¬ 
barung nämlich des Reichtums seiner Herrlichkeit an den 
Gefäßen seines Erbarmens, die er zur Herrlichkeit vorbe¬ 
reitete — als welche er auch uns berufen hat: nicht nur 
aus den Juden, sondern auch aus den Heiden?“ Man be¬ 
merke, daß die Reihenfolge von „Erbarmen“ und „Ver- 
stocken“ (v. 18) von „zur Ehre“ und „zur Unehre“ (v. 21 b) 
jetzt umgekehrt und daß beide jetzt ganz ausdrücklich 
miteinander in Beziehung gebracht, daß es jetzt deutlich 
wird: es handelt sich um den einen Weg Gottes, auf dem 
er in Erfüllung seiner einen Absicht jenes Doppelte will. 
Nicht daß es Gefäße des Erbarmens gibt, ist nach Vers 23 
das Ziel des einen göttlichen Weges, sondern dies: daß 
Gott den Reichtum seiner Herrlichkeit an ihnen offenbaren 
will. Um dieser Offenbarung willen bedarf es ihrer, bedarf 
es der Gefäße des Erbarmens! Und so sagt Vers 22 nicht, 
daß es Gefäße des Zornes gibt, daß Gott sie zu solchen 


146 


und damit zum Untergang bereitet habe, und nicht ein¬ 
mal das, daß er das zum Erweis seines Zornes getan habe, 
sondern das sagt er in Vers 22: daß Gott diese Gefäße 
seines Zornes, als solche zubereitet, in großer Langmut 
getragen habe. Und das sagen die Verse 22—23 in ihrem 
Zusammenhang: Gott trug die Einen, um durch die Ande¬ 
ren den Reichtum seiner Herrlichkeit zu offenbaren. Wohl 
hat sein Wille auch den Charakter des Zornes. Wie sollte 
er sich erbarmen über den Menschen, ohne seiner Ver¬ 
kehrtheit zu zürnen? Wie sollte er ihm gnädig sein, ohne 
ihn zu richten? Aber eben mittels des Gerichts, in allen 
jenen Gefäßen des Zornes angekündigt und auf Golgatha 
vollzogen, will und wird Gott den Menschen retten. Die 
Ankündigung dieses rettenden Gerichtes ist die Geschichte 
Israels. Darum die lange Reihe der „Gefäße des Zornes, 
bereitet zum Untergang“ im Lauf dieser Geschichte. Israel 
wäre nicht Gottes, um seines Christus willen erwähltes 
Volk, wenn es in seinem Bereich nicht dauernd zu solcher 
Ausscheidung und Bestimmung zum Verderben käme, 
wenn es nicht immer wieder solche „Gefäße des Zornes“ 
in seiner Mitte hätte und schließlich laut der prophetischen 
Botschaft zu einem einzigen Gefäß des Zornes werden 
müßte. Man darf aber über dem allem das Ziel dieses 
göttlichen Gerichtes nicht aus den Augen verlieren: Gott 
wird an dessen Ziel, verhüllt unter dem furchtbarsten 
Nein zu dessen Opfer er in seinem Sohne sich selbst ma¬ 
chen wird, nicht Nein, sondern Ja sagen zu Israel und in 
Israel zu allen Menschen. Von diesem Ziel her gesehen 
muß die entscheidende Aussage auch über jene „Gefäße 
des Zornes“ eben dahin lauten, daß Gott sie in großer 
Langmut getragen, sie in den Plan seines barmherzigen 
Wollens und Waltens aufgenommen und einbezogen hat. 
Um des Künftigen willen, den Gott hindurchtrug durch 
die Schmerzen der gerade ihn treffenden Verwerfung, trägt 
er alle Verworfenen, trägt er auch den Pharao. Er trägt 


147 


sie ihm, diesem Künftigen, entgegen. In diesem Sinn dul¬ 
det er sie nicht nur, sondern will er sie, so gewiß eben 
Gottes Geduld kein bloßes Zulassen, sondern eine Gestalt 
seines schöpferischen mächtigen Willens ist. Das ist die 
Rechtfertigung seiner Langmut gegenüber den Ungehor¬ 
samen. Jenseits dieses Zieles seiner Langmut steht aber die 
Offenbarung des Reichtums seiner Herrlichkeit an den 
Anderen, an den zur Herrlichkeit zubereiteten „Gefäßen 
des Erbarmens“, welche in Vers 24 ausdrücklich mit der 
aus Juden und Heiden versammelten Gemeinde der dem 
Evangelium Gehorsamen gleichgesetzt werden — der Ge¬ 
meinde, die doch praeexistent schon in allen Erwählten 
des alten Bundes versammelt ist. Der die Kirche berufen 
hat, ist kein Anderer als jener Töpfer, der Gott Israels, 
der auch die Gefäße des Zornes nur dazu schafft, weil 
er Gefäße des Erbarmens schaffen will: damit diese nichts 
anderes seien als eben Gefäße des Erbarmens, damit unter 
ihnen allein die Herrlichkeit Gottes und kein Mensch ge¬ 
rühmt werde. Gerade in der Existenz der Kirche recht¬ 
fertigt also Gott jene Doppeltheit seines Handelns, recht¬ 
fertigt er es, daß er der Gott auch der Gottlosen ist. 

Der Sinn von Vers 24 ist dieser: Wie Gott es in Israel 
immer gehalten hatte, so hält er es auch heute. Er hat 
uns, die Gemeinde Jesu Christi, zum Gehorsam erwählt 
und berufen, wie einst Isaak, wie Jakob, wie Mose: offen¬ 
kundig in seinem Erbarmen und also nicht in seinem Zorn. 
Aber wie ist es, wenn man näher zusieht, gerade bei uns? 
Sind gerade unter uns, die wir heute Gegenstand des gött¬ 
lichen Erbarmens sein dürfen, nur solche, die als Kinder 
Abrahams, als Juden dazu prädestiniert und befähigt 
waren? Oder hat nicht gerade unter uns das Geheimnis 
der göttlichen Prädestination und Befähigung sich wun¬ 
derbar eröffnet, so daß nun Heiden mit uns gehorsam, 
mit uns des Erbarmens Gottes teilhaftig, mit uns zur 
Herrlichkeit bestimmt sind: Heiden, d. h. Menschen aus 


148 


dem großen Bereich der Sünde, des Abfalls und des Un¬ 
gehorsams, aus dem Bereich der Moabiter und Philister, 
der Ägypter und Assyrer, aus eben dem Bereich, in den 
Gott den Ismael, den Esau und so viele andere in Israel 
bis hin zu der ungläubigen Synagoge der Gegenwart 
scheinbar so grausam, so ungerecht zurückgestoßen hat? 
Die Existenz der Kirche, in der Juden und Heiden im 
Gehorsam beieinander sind, zeigt, daß auch jener Bereich 
dort draußen dem Erbarmen Gottes nicht verschlossen ist, 
und so beweist die Kirche Gottes Gerechtigkeit, so beweist 
sie, wie Gott es auch in Israel mit seinem Erwählen der 
Einen und seinem Verwerfen der Anderen immer gemeint 
hatte: er wollte wirklich durch dieses Volk in seiner Ge¬ 
samtheit, mit Inbegriff der Verworfenen, indem es end¬ 
lich und zuletzt in der Hervorbringung Jesu Christi seine 
Bestimmung erfüllt, seine Barmherzigkeit gegen die ganze 
Welt offenbar machen. Durch dieses Volk gegen die ganze 
Welt — und so offenbar auch gegen dieses Volk selber: 
Paulus hat im Blick auf die wunderbar zur Kirche ver¬ 
sammelten Gläubigen aus den Heiden in Vers 25—26 die 
Worte des Hosea von dem Volk Gottes, von den Söhnen des 
lebendigen Gottes angeführt, die einst „Nicht-mein-Volk 
hießen, von der Geliebten, die einst die Nicht-Geliebte 
war. Wem galten diese Worte ursprünglich? Dem von 
Gott verworfenen und nun doch solcher Verheißung teil¬ 
haftigen Israel der Könige von Samarien. Gerade indem 
diese Worte heute in der Berufung der Heiden zur Kirche 
Jesu Christi erfüllt sind, reden sie offenbar mit neuer 
Kraft auch in ihrem ursprünglichen Sinn: auch von dem 
verworfenen, ungehorsamen Israel. Wie sollte Gottes Zu¬ 
sage, nachdem er sie überreichlich an den Verworfenen da 
draußen erfüllt hat, nicht gelten auch für die Verworfe¬ 
nen da drinnen, an die er sie einst gerichtet hat? Und 
Paulus hat in Vers 27—29 im Blick darauf, daß nach Vers 
24 doch auch gläubige Juden zur Kirche versammelt sind, 


149 


zwei Jesaja-Worte angeführt. Sie reden von einem wun¬ 
derbar erretteten „Rest“ des von Gott abgefallenen und 
seinem Gericht verfallenen Israel. Es lag in den Tagen 
des Jesaja an Gottes Erbarmen ganz allein, wenn es einen 
solchen Rest gab, wenn das Schicksal von Sodom und Go¬ 
morrha nicht auch das Schicksal von ganz Israel wurde. 
Aber eben dieses Erbarmen Gottes war auf dem Plan 
und so gab es damals diesen Rest! So ist es zu ver¬ 
stehen, wenn heute auch Juden zur Kirche versammelt 
sind. Gottes Gnade und nicht ihr Verdienst hat das ge¬ 
schafft. Gottes Gnade wird durch ihre Existenz in der 
Kirche den Anderen, den Gläubigen aus den Heiden ver¬ 
kündigt. Wie sollte, was ihnen gilt, daß sie allein durch 
Gottes Gnade errettet sind, nicht noch viel mehr von die¬ 
sen Anderen, den Heiden, gelten? Aus welchem Feuer 
sind erst diese herausgerissen! So ist das Ende und Ziel 
der Wege Gottes wirklich durch ganz Israel: durch die 
Verworfenen wie durch die Erwählten — und darum 
auch für beide gültig! — in der Kirche Jesu Christi als 
Gottes Erbarmen offenbar geworden. Und eben damit als 
die Gerechtigkeit aller seiner Wege mit diesem ganzen 
Volke! Diese offenbare Gerechtigkeit Gottes verbietet es 
uns jedenfalls, gegenüber dem Phänomen des Ungehorsams 
gegen das Evangelium die Trotzfragen von Vers 14, 19 
und 20 fernerhin geltend zu machen. 

In dem zweiten Zusammenhang Kap. 9, 30 —10, 21 
kommt nun dasselbe Phänomen unter dem Gesichtspunkt 
zur Sprache, daß es sich dabei tatsächlich und offenkun¬ 
dig um menschliche Widersetzlichkeit gerade gegen die in 
Jesus Christus erschienene Gnade Gottes handelt, die doch 
schon das Geheimnis der ganzen Geschichte Israels gewesen 
war. Wie furchtbar und wie tröstlich das ist, davon wird 
jetzt die Rede sein. Indem Gott sich offenbart als der 
Herr, der sich des Menschen annimmt in Barmherzigkeit 


150 


um seiner selbst willen aus freier Güte, wird es offenbar, 
wer der Mensch ist, was es ist um die menschliche Schuld, 
Unfähigkeit und Unwürdigkeit Gott gegenüber. Das ist 
das Furchtbare und zugleich das Tröstliche des Phänomens 
des Ungehorsams dem Evangelium gegenüber. Daß des 
Menschen eigenes Wollen und Laufen (v. 16) ihn nur 
verdammen, daß er für seine Errettung nie sich selbst, 
sondern nur Gott preisen kann, nun aber Gott wirklich 
preisen darf, das sollen die Gehorsamen lernen an dem 
Phänomen des Ungehorsams, das lerne die Kirche aus 
dem Anblick der renitenten, Jesus Christus bis auf diesen 
Tag verwerfenden Synagoge. 

In Vers 30 wird offenbar die Frage von Vers 14 
wieder aufgenommen und nun richtig beantwortet. Wir 
sollen Gottes Gerechtigkeit nicht in Zweifel ziehen — 
wir haben nach dem bisher Gesagten keinen Anlaß 
dazu —, sondern wir sollen uns an das halten, was in 
der Kirche Jesu Christi Ereignis geworden ist: Da sind 
Heiden, die diese Gerechtigkeit Gottes, seinen barm¬ 
herzigen Willen faktisch begriffen und ergriffen haben, 
ohne daß ihr Wollen und Laufen sie dahin geführt 
hätte. Es geschah einfach. Es war eine Totenerweckung: 
sie glaubten an sie und damit ist sie ihnen zugute ge¬ 
kommen. Das ist der Gehorsam der Gehorsamen. Dem steht 
(v. 31) gegenüber Israels bis heute fortgesetzter Versuch, 
das Gesetz der Gerechtigkeit, d. h. die Israel als dem Volk 
der Verheißung und des Bundes gegebene Lebensordnung, 
durch sein Wollen und Laufen, kraft seiner Entschlüsse 
und Leistungen zu erfüllen: mit dem Resultat, daß es 
eben damit nicht nur Gottes Gerechtigkeit nicht ergriff und 
begriff, sondern auch das Gesetz, die ihm gegebene Lebens¬ 
ordnung faktisch nicht erfüllte. Ihm fehlt alles das nicht, 
was jenen Heiden fehlte. Ihm fehlt aber nach Vers 32 a 
dieses und damit das Entscheidende, daß es wollte und 
lief, um dem Gesetz durch eigene Erfüllung seiner Werke 


151 


Genüge zu tun, statt im Glauben an die ihm gegebene 
Verheißung, die der Sinn des Gesetzes ist, das Werk aller 
Werke zu leisten, nämlich zu glauben an das, was Gott 
mit ihm wollte. Indem ihm dies fehlte, hat es das Gesetz 
übertreten, gerade indem es das Gesetz erfüllen wollte. 
Es stolperte nach Vers 32 b—33 an dem Stein, es zer¬ 
schellte an dem Felsen, auf dem es stehen sollte, an Gottes 
Erbarmungswillen, der ihm damit, daß es ihm nicht Glau¬ 
ben schenkte und so Gehorsam bewies, zum Verderben 
werden mußte. Es wurde gerade an dem ihm von Gott 
zubereiteten Heil zu Schanden. Das ist es, was das mensch¬ 
liche Wollen und Laufen als solches, auch unter den 
besten von Gott selbst vorgegebenen Bedingungen, ja ge¬ 
rade dann fertig bringt: sein Werk ist das verderbliche 
Werk des Unglaubens. Gottes im Glauben ergriffenes Er¬ 
barmen allein könnte Gott und Menschen Zusammen¬ 
halten und so die Menschen retten. So steht das Erbar¬ 
men Gottes ganz allein den Menschen gegenüber: ihre 
Anklage, aber auch ihre Hoffnung, so gewiß es eben die 
Gerechtigkeit seines Richters ist. 

Wie wenig Paulus daran denkt, das in seinem Un¬ 
glauben ungehorsame Israel fallen zu lassen, zeigt 
Kap. 10, 1, wo er die Erklärung von Kap. 9, 1—5 
wiederholt: daß er auch und gerade als Apostel der 
Kirche der mit seinem ganzen Wünschen und Beten 
diesen Ungehorsamen zugewendete Prophet Israels ist 
und bleiben will. Paulus würde das nicht tun, wenn 
er sich nicht bewußt wäre, eben damit das dem Ratschluß 
und Willen Gottes selbst (v. 22!) Entsprechende zu tun. 
Und nun bemerke man, daß Paulus diesen Ungehorsamen 
(v. 2) durchaus zubilligt, daß sie den „Eifer um Gott“ 
haben, daß er ihren Ungehorsam also nicht etwa als eine 
„falsche Willensrichtung“ und dergleichen, daß er ihren 
Eifer nicht als gegenstandslos und nichtig, sondern als 
Eifer um den wahren Gott ansicht und beurteilt, daß er 


152 


also auch die Ungehorsamen als solche sieht, welche in 
ihrer Weise die ihnen gegebene Verheißung bzw. den in 
Jesus Christus erfüllten Bund Gottes bestätigen müssen. 
Ihr Eifer ist aber darin ungehorsam, daß er eben Gottes 
Verheißung nicht als solche erkennt und nicht dementspre¬ 
chend mit ihr umgeht. Gerade auf Gott gerichtet, gerade 
im Widerspruch zu diesem seinem Gegenstand, ist ihr Wille 
(v. 3) ein verdrehter und verkehrter, ein dummer Wille. 
Sie erkennen nämlich Gottes Gerechtigkeit nicht: nicht als 
die Gerechtigkeit seines Erbarmens. Sie erkennen Gott 
nicht als den für sie Wollenden und Handelnden. Sie sind 
unwillig, sich das Eintreten Gottes für sie gefallen zu las¬ 
sen. Sie suchen statt dessen „ihre eigene Gerechtigkeit 
aufzurichten“, d. h. sich selbst als solche zu betätigen und 
zu bewähren, die der Verheißung würdig sind, die also 
auf deren Erfüllung Anspruch haben. Eben das ist ihre 
Rebellion, ihr Ungehorsam gegen Gottes Gerechtigkeit. 
Denn die ihnen gegebene und bekannte Verheißung des 
Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs wartet auf ihren 
Glauben. Fehlt der Glaube, dann ist auch sein Gesetz ge¬ 
brochen bei allem Eifer um dessen Erfüllung und gerade 
durch diesen Eifer. Indem sie, die die Verheißung haben, 
nicht glauben, wird, was Sünde ist, gerade an ihnen offen¬ 
bar. Es braucht Gottes Erwählung und Berufung, es 
braucht die ganze, gerade Israel zugewendete Gnade Got¬ 
tes, dazu, damit dies geschehe, damit es zu diesem echten, 
rechten, eigentlichen Ungehorsam komme. 

Der Beweis dafür wird in Vers 4—13 zunächst in der 
Weise geführt, daß gezeigt wird: Israel ist das Volk, dessen 
Verheißung von Anfang an Jesus Christus war, so daß die 
Ordnung, das Gesetz, unter der es lebte, von Anfang an nur 
das Gesetz des Glaubens („Das Gesetz des Geistes des Le¬ 
bens“ von Kap. 8, 2!) sein konnte. Indem es statt zu glau¬ 
ben, seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten strebte, mußte 
es Jesus Christus verwerfen. Und indem es Jesus Christus 


153 


verwarf, mußte es offenbar machen, daß es in seinem Stre¬ 
ben nach der Aufrichtung eigener Gerechtigkeit den Glau¬ 
ben verfehlt und damit das ihm gegebene Gesetz ge¬ 
brochen hat, muß gerade es den Menschen als Rebellen 
gegen Gottes Gerechtigkeit und damit seine völlige Be¬ 
dürftigkeit dieser Gerechtigkeit und also dem Erbarmen 
Gottes gegenüber offenbar machen. Es heißt nämlich in 
Vers 4 nicht, daß Christus das „Ende“, sondern daß er das 
Ziel“, Inhalt, die Substanz, die Summe des Gesetzes, sein 
Sinn und zugleich der Weg zu seiner Erfüllung sei. Paulus 
hat sich schon im bisherigen Römerbrief (Kap. 3, 31; 7, 
12) im Einklang mit Matth. 5, 17 deutlich genug darüber 
erklärt, daß er das Gesetz des Alten Testamentes durch 
Jesus Christus wahrhaftig nicht für antiquiert und ab¬ 
geschafft, sondern eben für erfüllt angesehen hat. Er wird 
auch gleich nachher mit keinem Wort gegen das Gesetz — 
als wäre es zu Ende —, sondern aus und mit dem Gesetz 
argumentieren, dessen Inhalt und ewige Gültigkeit in 
Jesus Christus erst recht offenbar geworden ist, nachdem 
er von Anfang an sein Inhalt und seine Kraft gewesen 
war. An Christus glauben, heißt dem Gesetz Gottes ge¬ 
horsam sein. Und hier sagt Paulus nun in der umge¬ 
kehrten Richtung: unter dem Gesetz Gottes stehen, wie 
es Israels besonderer Fall ist, dem Gesetz gehorchen, wie 
es gerade von ihm erwartet ist, heißt an Christus glauben 
als an das Ein und Alles des Gesetzes als an dessen 
Sinn und Erfüllung. Eben darin hat Israel versagt und 
eben daran, an dem gerade ihm von Anfang an gegebenen 
Worte Gottes, an dem in Zion selbst gelegten Eckstein 
(Kap. 9, 32 f.) ist es zuschanden geworden. Eben darum 
ist sein Mangel an Erkenntnis (v. 2—3), ist seine Dumm¬ 
heit Sünde, Ungehorsam. Der Mensch, von dem Mose 
(v. 5) sagt, daß er in Erfüllung des Gesetzes leben wird, 
der Mensch also, den das Gesetz meint und will, ist eben 
Christus: er wird das Gesetz in seinem Tode erfüllen 


154 


und von den Toten auferweckt, leben. Und darum ist Vers 
6 nicht als Protest gegen den Inhalt von Vers 5 oder als 
dessen Widerlegung zu verstehen. Denn die „Gerechtigkeit 
des Glaubens“, die da wie eine Person redend eingeführt 
wird, ist noch einmal Christus: seine Stimme hört der, 
der Mose recht hört; wer ihn aber hört, hört unweiger¬ 
lich den Ruf zum Glauben an ihn, um in diesem Glau¬ 
ben an seiner Erfüllung des Gesetzes und so auch an 
seinem Leben, an seinem Tod und an seiner Auferstehung 
als an dem Werk der göttlichen Barmherzigkeit Anteil zu 
bekommen. Alles, was in Vers 6 f. zu lesen ist, ist eine 
einzige Aufforderung nicht zur Mißachtung, sondern zu 
dieser Teilnahme an der Erfüllung des Gesetzes. Eben 
darum hat Paulus hier in lauter Mose-Worten weiter¬ 
geredet. Es ist Israel durch sein Gesetz, nämlich durch 
den, der seines Gesetzes Sinn und Erfüllung ist, durch die 
unüberhörbare Stimme der Glaubensgerechtigkeit in sei¬ 
nem Gesetz, verboten, die Erfüllung der ihm gegebenen 
Verheißung: seinen Messias und seine Errettung durch 
eigenes Bemühen aus dem Himmel herunter oder aus der 
Unterwelt heraufholen zu wollen. Solches himmel- und 
höllenstürmende Denken und Tun ist durch das Gesetz als 
Sünde verworfen und unmöglich gemacht. Gerade die 
wirkliche Erfüllung der Israel gegebenen Verheißung 
kann durch solches Denken und Tun nur verkannt und 
versäumt werden, wie es Jesus Christus durch das in die¬ 
sem Denken und Tun begriffene Israel tatsächlich wider¬ 
fahren ist. Indem jene Stimme redet, indem Jesus Chri¬ 
stus sich selbst in Israels Gesetz anzeigt, ergibt sich als die 
eine von ihm zu erfüllende Forderung dies: es soll das 
tun, was sich nachträglich daraus ergibt, daß ihm (v. 8a) 
das Wort, indem es sein eigenes Gesetz, das Gesetz des 
Mose, liest, nahe, daß es schon in seinem Mund, schon in 
seinem Herzen ist. Welches Wort? Eben das „Wort des 
Glaubens“ (v. 8b), eben das Evangelium, das wir, die 


155 


Apostel, die ganze Kirche jetzt der Welt und so auch 
Israel verkündigen. Und was ist dieses Nachträgliche, das 
zu tun ist? Wir hören es in Vers 9: es geht darum, daß 
der Mund bekenne, was das Herz glaube. Was bekenne 
und glaube? Eben das, was im Gesetz zu lesen ist, eben 
den, der aus dem Gesetz zu seinen Lesern redet, eben ihn, 
den Inhalt des christlichen Tauf- und Glaubensbekennt¬ 
nisses: eben seine Erfüllung des Gesetzes und eben sein Le¬ 
ben als das Leben dessen, den Gott von den Toten erweckt 
hat. Zur Erfüllung dieser einen Forderung wollen alle 
Gebote des Gesetzes seines Leser anlciten, dazu ihnen 
helfen und dienlich sein. Das wollen die Zehn Gebote 
von ihnen, das das ganze Heiligkeits- und Opfergesetz. 
Daran hängt alles, was es dem Menschen verheißt als seine 
Errettung, als seine Befreiung von der Schande unter der 
Bedingung, daß er ihm gehorsam sei. (v 10—11). Der 
Gehorsam ist der Glaube. Indem Israel nicht glaubt, eben 
an den nicht glaubt, der doch im Gesetz sich selber an¬ 
zeigt, der dem Leser des Gesetzes das Bekenntnis zu ihm 
in den Mund und den Glauben an ihn ins Herz legt — 
indem es das unterläßt, ja empört von sich weist, ist es 
dem Gesetz, ist es seinem Gott ungehorsam, ist es ein 
sündiges Volk. Wenn die Synagoge heute aus dem Munde 
der Kirche jenes Tauf- und Glaubensbekenntnis ver¬ 
nimmt, dann sollte sie sich gerade nicht auf ihr Gesetz 
berufen, das ihr verbiete, in einem Geschöpf den Schöpfer, 
in einem Menschen den Herrn über Alle und Alles an¬ 
zurufen und anzubeten. „Es ist hier kein Unterschied zwi¬ 
schen den Juden und den Hellenen“. Was der Jude jetzt 
aus dem Munde so manches Hellenen vernimmt, das geht 
auch ihn, ja das geht ihn zuerst an, das müßte, wäre 
er gerade dem ihm besonders gegebenen Gesetz wirklich 
gehorsam, gerade sein Glaube und sein Bekenntnis sein: 
Ein Herr ist wirklich über Allem und Allen und eben der 
Mensch Jesus ist dieser Herr — als Vollstrecker der 


156 


Barmherzigkeit und so der Gerechtigkeit Gottes reich über 
Allen und für Alle, die ihn als solchen anrufen. Und ihm 
gegenüber sind Alle arm, auf seinen Reichtum sind Alle 
angewiesen: die Heiden nicht weniger als die Juden, aber 
auch die Juden nicht weniger als die Heiden. Es besteht 
die Ehrung des Schöpfers durch das Geschöpf, es besteht 
aber auch die Errettung des Geschöpfes durch seinen 
Schöpfer für alle Welt darin, daß Jesus als der Herr an¬ 
gerufen wird. Der Jude müßte das nicht nur auch wissen 
daraufhin, daß es ihm wie den Heiden durch das christ¬ 
liche Bekenntnis verkündigt wird. Er müßte es zuerst wis¬ 
sen. Er müßte es als Jude sozusagen von Haus aus und 
von sich aus wissen. So hat sich die Anklage gegen den jü¬ 
dischen Ungehorsam dem Evangelium gegenüber, Vers 
9—13, ohne daß sie besonders wiederholt wird, verschärft. 
„Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden wer¬ 
den“ (v. 11), „Jeder, der den Namen des Herrn anrufen 
wird, wird gerettet werden“ (v. 13). Das sagt die Schrift 
gerade dem Juden, gerade der Synagoge, in der sie so eif¬ 
rig gelesen wird. Sie sagt eben damit, daß Jeder, der nicht 
glaubt, zuschanden wird, daß Jeder, der diese Anrufung 
versäumt, verloren geht. 

Aber noch hat Paulus die Schlußfolgerung nicht aus¬ 
drücklich gezogen. Er antwortet in Vers 14 f. auf eine 
Frage, die man von Kap. 9, 30 ab als in der Luft liegend 
empfinden kann: ob denn die behauptete, notwendige 
Verpflichtung der Juden zum Glauben und zum Be¬ 
kenntnis Jesus Christus gegenüber und damit die Un¬ 
entschuldbarkeit ihres Ungehorsams wirklich feststehe? 
„Wie sollen sie den anrufen (zu dem sich als Herrn 
bekennen), dem gegenüber sie nicht zum Glauben ge¬ 
kommen sind?“ (v. 14a). Daß die Leser des Mose zu 
diesem Glauben und von da zu diesem Bekenntnis kom¬ 
men können, das hängt daran, daß sie den, von dem 
Mose redet, hören können: „Wie sollen sie an den glau- 


157 


ben, den sie nicht gehört haben?“ (v. 14b). Haben sie ihn 
denn gehört, indem sie Mose gelesen haben? War da seine 
Stimme wirklich laut? War da Erklärung, Auslegung, 
Verkündigung? „Wie sollten sie ihn hören ohne Verkün¬ 
diger?“ (v. 14c). Ist ihnen das Geschriebene wirklich zum 
Geredeten, zur Botschaft geworden? So daß sie selbst zu 
Hörern, zu wirklichen Hörern und also, außerstande sich 
dem Gehörten zu entziehen, gehorsam werden mußten? 
Soll es aber gelten, daß das Alles der Fall ist bei den 
Juden, daß sie also nach Vers 4—13 dabei zu behaften 
sind, daß sie glauben und bekennen müßten, dann mußte 
die Verkündigung, die ihnen tatsächlich widerfahren, statt¬ 
gefunden haben im Auftrag, in der Sendung und in der 
Vollmacht dessen, der der Herr der Schrift ist und als 
solcher durch die Schrift verpflichtend mit ihnen reden 
will. „Wie sollte ihn verkündigen, wer dazu nicht gesendet 
wäre?“ (v. 15a). Scheinbar fragt Paulus nur in Vers 
14—15a. Es klingt wie eine Entschuldigung des Synagogen¬ 
juden. Ist dieser wirklich verpflichtet zum Glauben und 
zum Bekenntnis, ist er wirklich unentschuldbar ungehor¬ 
sam, weil alle jene Bedingungen zum Gehorsam erfüllt 
sind? In Wirklichkeit hat Paulus mit jener ganzen Reihe 
von Fragen doch auch schon Antwort gegeben: Ja, ist seine 
Meinung, jene Bedingungen sind erfüllt und so ist der 
Jude verpflichtet, so wirklich unentschuldbar ungehorsam. 
Daß er es so meint, zeigt in Vers 15b das Zitat aus Jesaia 
52: „Wie lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium 
als das Gute verkündigen!“ Eben die Schrift selbst, der 
Prophet Jesaia jetzt, weissagt wie die Notwendigkeit des 
Glaubens (v. 11) und des Bekenntnisses (v. 13) so auch 
die Wirklichkeit vollmächtiger Botschaft, die die Schrift 
erklärt, die sie laut zur Sprache und bindend zu Gehör 
bringt. Die Juden mußten auch von dieser Wirklichkeit 
schon als Juden und insofern von Haus aus wissen. Vers 
15b ist also kein erbauliches Ornament, sondern gerade 


158 


hier hat Paulus das Entscheidende gesagt. Er hat näm¬ 
lich in diesem unentbehrlichen Glied seines in Vers 14 be¬ 
gonnenen Gedankens vom Apostolat der Kirche, und also 
von seinem eigenen Amt geredet. Er beweist das, was er 
von der Verpflichtung und Unentschuldbarkeit der Juden 
sagen will, in diesem letzten Glied seines Beweises mit 
seiner eigenen Existenz als Vertreter der auf Sendung be¬ 
ruhenden, von dem auferstandenen Jesus Christus her¬ 
kommenden, befohlenen, ins Leben gerufenen, autorisier¬ 
ten und legitimierten Verkündigung. Er beweist die Er¬ 
füllung dieses letzten Teiles der alttestamentlichen Weis¬ 
sagung, indem er ihr entsprechend da ist und handelt. 
Er ist in seiner Person oder vielmehr als Träger seines 
Amtes die positive Antwort auf die Frage, ob die Juden 
glauben und bekennen können. Sie können es, sie sind 
also dazu verpflichtet, so gewiß sie nicht leugnen können, 
der Erfüllung jener Verheißung von den Boten, die das 
Evangelium als das Gute verkündigen, ansichtig zu sein. 
Da steht er selber, ein Jude wie sie, die lebendige Er¬ 
füllung jener Verheißung. Und nun können sie nicht mehr 
sagen, daß jene Bedingungen nicht sämtlich erfüllt seien. 
So ist nun der Weg frei zu dem Satz, der gewissermaßen 
die nüchterne Tatsadie ausspricht, um die diese ganzen 
drei Kapitel kreisen: „Aber nicht alle gehorchten dem 
Evangelium“ (v. 16a). Daß sie dem Wort der Schrift und 
damit Gott in unentschuldbarer Weise nicht gehorchen, das 
ist darin furchtbare Wirklichkeit, daß sie — indem sie sich 
ausnehmen von den „Allen“ in Vers 11 und Vers 13 — 
dem Evangelium nidit gehordien. Das Evangelium ist 
auch zu ihnen, gerade zu ihnen gekommen, nicht nur 
gesdirieben in der Schrift, sondern geredet und von ihnen 
gehört, nicht nur in Worten, sondern in Kraft, als Ver¬ 
kündigung, getragen und ausgewiesen durch die Sendung 
seiner Verkündiger. Der Vorwand, daß man nicht glauben 
und bekennen könne, ist unmöglich gemacht. So ist ihre 


159 


Verweigerung des Glaubens und des Bekenntnisses kein 
Mißgeschick, kein Schicksal, sondern eben: Gesetzesüber¬ 
tretung, Ungehorsam. Aber Paulus will auch diese Fest¬ 
stellung nicht anders gemacht haben als so, daß der Syna¬ 
gogenjude sie von seinen eigenen Voraussetzungen aus 
als legitim anerkennen muß. Darum in Vers 16b—17 das 
Jesaiazitat und dessen Erklärung. Auch jene Schlußfolge¬ 
rung in Vers 16a ist von der Schrift selbst schon gezogen. 
Es ist auch das Weissagung, daß eben die Boten, die die 
gute Nachricht von der Erfüllung aller Weissagung brin¬ 
gen, auf Unglauben stoßen werden. Es war schon einmal 
so, daß eben der autorisierte und legitimierte Bringer der 
Botschaft von dem für seine Brüder leidenden Gottes¬ 
knecht sich endlich und zuletzt nur Gott zuwenden 
konnte, der ihn gesandt, um ihn zu fragen: Wozu 
hast du mich eigentlich gesandt? „Herr, wer hat unserer 
Kunde Glauben geschenkt? <c Es war schon einmal so, 
daß der Prophet und nicht nur der Prophet, sondern 
Gott selbst und seine Sache ganz einsam war seinem 
Volk gegenüber. „Der Glaube kommt aus der Kunde, so 
gewiß die Kunde geschieht durch das Evangelium“ (v. 17). 
Was der Prophet und was heute der Apostel verkündigt, 
das hat (wie die Worte des Mose) seine Macht von seinem 
Gegenstände her; sie ist die Macht seines Auftraggebers 
und Ursprungs, des Gottesknechtes selber, und darum ist 
sie notwendig bewegender Grund zum Glauben. Darum 
ist der Unglaube ihm gegenüber unmöglich, darum ist die 
Haltung der ungläubigen Hörer seines Wortes das in sich 
Unmögliche, der Ungehorsam, der sich nicht dem Propheten, 
nicht dem Apostel, sondern der sich Gott selbst widersetzt. 
Zu dem, was in dieser Haltung geschieht, kann also nur 
Gott selbst das lösende Wort sagen. Sein erbarmendes Ein¬ 
greifen hat in dieser Situation schon der Prophet mit jener 
Klage angerufen. Wer glaubt? Vom Menschen her ge¬ 
sehen und gesagt: Niemand! Der wird glauben, den 


160 


Gottes Erbarmen aus dem allgemeinen Unglauben auf- 
rufen und erwecken wird — keiner vorher und keiner 
sonst. Auch das, daß der Apostel jetzt wieder so klagen 
muß wie einst der Prophet, muß so sein, wenn die Schrift 
erfüllt, wenn der Apostolat wirklich als die Erfüllung 
der prophetischen Weissagung sich erweisen soll. Es gehört 
also auch die offenkundige Schuld der in der Synagoge 
gegen die Kirche streitenden Judenschaft in ihrer Weise 
zur Erfüllung der Weissagung, aber damit in ihrer gan¬ 
zen Furchtbarkeit auch zur Bestätigung der Erwählung 
des ganzen Israel. Eben dieses dem Evangelium ungehor¬ 
same Volk ist Gottes erwähltes, zur Hervorbringung Jesu 
Christi, des Herrn über Alle und Alles, bestimmtes Volk. 
„Aber, sage ich, haben sie etwa nicht gehört?“ (v. 18). Das 
ist keine bloße Wiederholung, obwohl diese Frage schon 
in Vers 14—15 gestellt und beantwortet scheint. Die Ant¬ 
wort in Vers 18 zeigt doch, daß unter „Hören“ hier noch 
etwas Anderes verstanden ist als dort. Die Frage lautet 
hier: ob sich eine Entschuldigung des jüdischen Ungehor¬ 
sams vielleicht in letzter Stunde aus dem Umstand er¬ 
geben sollte, daß die lebendige Auslegung des Gesetzes 
durch den, von dem das Gesetz redet, sie rein praktisch 
und äußerlich nicht erreicht habe. Die mit dem Zitat aus 
Ps. 19 gegebene Antwort zeigt zunächst, daß es nicht nur 
möglich, sondern notwendig ist, bei der Erklärung des Be¬ 
griffs der Sendung (v. 15) nicht nur im allgemeinen an 
den Apostolat der Kirche, sondern im besonderen an das 
Apostelamt des Paulus zu denken. Denn die Antwort in 
Vers 18 redet ja nicht etwa davon, daß es, wie Gal. 2 es 
ausdrückt, einen besonderen „Apostolat der Beschneidung“, 
die dem Petrus und den anderen Uraposteln übertragene 
„Judenmission“ gab, durch welche den Juden das Evan¬ 
gelium nahegebracht wurde, so daß sie es sehr wohl hören 
könnten. Sonder das sagt Paulus mit dem Psalmwort 
von dem über die ganze Erde ausgegangenen Schall: daß, 


161 


was alle gehört haben, die Juden auch gehört haben müs¬ 
sen. Er bezieht sich also gerade auf sein besonderes Amt 
als Heidenapostel, in welchem er trotz jener Arbeitsteilung 
die eigentliche Beziehung zwischen dem auferstandenen 
Christus und der Welt und in welchem er die Verkündi¬ 
gung an die Juden eingeschlossen gesehen hat: als die 
notwendige und praktisch sogar erste Rückwirkung des 
Vollzugs jener Beziehung. Und man wird hier weiter dar¬ 
an denken müssen, daß für Paulus alle Mission nur die 
menschliche und gewissermaßen indirekte Anzeige dessen 
war, was am Kreuz auf Golgatha allererst objektiv für 
die ganze Welt geschehen und durch Jesu Auferstehung 
von den Toten allererst objektiv der ganzen Welt bekannt 
gemacht ist. Von der Souveränität des in Vers 17 erwähn¬ 
ten Wortes Christi her weiß er, daß die ganze Welt es ver¬ 
nommen hat und sagt er nun auch der Judenschaft auf 
den Kopf zu, daß auch sie es tatsächlich gehört hat, weil 
sie mit dem ganzen übrigen Kosmos objektiv damit kon¬ 
frontiert worden ist. 

In Vers 19—20 wird eine zweite Ergänzungsfrage 
gestellt und beantwortet. Sie kommt in der Reihe Vers 
14—15 nicht vor und lautet: „Aber, sage ich, hat 
Israel etwa nicht verstanden?“ Wir denken an Vers 
2—3. Was ist es mit jenem Nichterkennen der Gerechtig¬ 
keit Gottes? Was dort gesagt wird, wird hier nicht zurück¬ 
genommen. Sondern das hören wir hier: sie haben ver¬ 
stehend nicht verstanden, wie sie nach Vers 18 hörend 
nicht gehört haben. Beweis: das, was unterdessen im Zu¬ 
sammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums in 
der Heidenwelt vor sich gegangen ist. Man bemerke, daß 
Paulus nicht etwa darüber diskutiert, ob das Evangelium 
eine verständliche Sache sei. Die Antwort von Vers 19—20 
setzt vielmehr voraus, daß das Evangelium dem Menschen 
gar keine verständliche Sache ist. Sondern von einem un- 


162 


verständigen, Gott nicht suchenden, nach ihm nicht fragen¬ 
den Volk ist ja in dieser Antwort die Rede: von einem 
Volk, durch das Gott sich kraft des durch den ganzen 
Kosmos gehenden Schall seines Wortes finden ließ und 
mit dessen Existenz er darum Israel Anlaß zur Eifersucht 
geboten hat. Unverständige verstehen! Gott nicht Suchende 
finden ihn, das ist es, was in der Berufung und Bekeh¬ 
rung der Heiden zur Kirche Ereignis geworden ist. Ihr 
Glaube, ihre Existenz in der Kirche ist der Beweis dafür, 
daß sie verstanden haben. Können nun die Juden noch 
geltend machen, daß sie nicht verstehen können? Sind die 
Juden nicht erwählt und bestimmt dazu, das verständige, 
das Gott suchende und nach ihm fragende Volk zu sein? 
Geschieht das nicht, so kann das gerade bei ihnen nicht 
daran liegen, daß sie das nicht können. Sie könnten wohl, 
aber sie wollen und tun es nicht. Man beachte, wie hier 
wieder die apostolische Arbeit, das Leben des im Auftrag 
seines Herrn in die Heidenwelt hinausgesandtenBoten der 
Ort ist, von dem aus argumentiert, wie aber eben dieses 
Argument auch hier in der Form des Schriftbeweises und 
nicht etwa in der naheliegenden Form des Berichtes von 
allerhand paulinischen Missionserfahrungen vorgebracht 
wird. Das ist keine Schrulle schriftgelehrter Gesetzlichkeit, 
sondern das geschieht darum, weil Paulus mit Allem, was 
er in diesem Kapitel gesagt hat und so auch mit diesem 
letzten die Erwählung und Berufung von ganz Israel 
nicht bestreiten, sondern angesichts seins Ungehorsams be¬ 
haupten will: seine Erwählung und Berufung durch den 
Gott, der sein, dieses ungehorsamen Volkes Erbarmer ist. 
Gerade um dieses Ziel aller seiner Gedanken festzuhalten, 
durfte Paulus das Geländer des Schriftwortes keinen 
Augenblick loslassen. Es ist also gerade der scheinbare 
Rabbinismus dieses Kapitels, der ihm, dem furchtbaren 
Satz, den er ausspricht, zum Trotz, seinen besonders 
evangelischen Charakter gibt. 


163 


Vers 21 setzt in diesem Sinn den Schlußstrich unter das 
Ganze. Nicht das schuldhafte Nichthören und Nichtver¬ 
stehen und also nicht der Ungehorsam der Juden ist das 
Faktum, an das die Kirche sich endlich und zuletzt halten 
soll, sondern das, was Gott den Juden gegenüber von jeher 
„den ganzen Tag lang“ getan hat: eben nach diesem Volk 
hat er nämlich seine Hände ausgestreckt, eben ihm gegen¬ 
über wurde er nicht müde, sich ihm zuzuwenden, sich zu 
ihm herniederzulassen, sich selbst ihm anzubieten. Deut¬ 
licher und schärfer kann seine Schuld nicht festgestellt und 
deutlicher und tröstlicher kann nicht von dem geredet wer¬ 
den, an dem es schuldig geworden ist und der es zum Ge¬ 
genstand seines Erbarmens gemacht — der es als solches 
nicht fallen gelassen hat, weil sein Erbarmen größer ist als 
seine und als alle menschliche Schuld. 

Der dritte Zusammenhang: Kap. 11, 1—36 steht unter 
dem Zeichen der Frage in Vers 1 „Hat Gott sein Volk 
verstoßen?“ und ihrer kategorischen Beantwortung in 
Vers 2 „Gott hat sein Volk, das er zuvor ersehen hat, 
nicht verstoßen“. Man kann die Frage in Vers 1 als eine 
Fortsetzung der Fragenreihe in Kap. 10, 18 und 19 auf¬ 
fassen: Sollte der Grund der Verweigerung des Glaubens 
und des Bekenntnisses durch die Juden darin zu suchen 
sein, daß Gott auf die Kreuzigung Jesu Christi damit 
geantwortet hat, daß er seinen Willen dem Volk Israel 
gegenüber verändert, seine ihm gegebene Verheißung zu¬ 
rückgezogen und sich nun ausschließlich den Heiden zu¬ 
gewendet hat, denen ja Jesus Christus von den Juden 
selbst damals ausgeliefert worden ist? Sind sie darum 
ungehorsam, weil Gott gar keinen Gehorsam mehr von 
ihnen fordert, weil sie bei Gott überhaupt keine Zukunft 
mehr haben? Die Frage ist sicher schon in Kap. 10, 21 
indirekt mit aller Entschiedenheit dahin beantwortet wor¬ 
den, daß das nicht in Betracht komme. Aber eben das soll 


164 


nun im elften Kapitel auch noch direkt und ausdrücklich 
gesagt und begründet werden. 

Paulus antwortet zunächst mit dem Hinweis auf sich 
selber: „Auch ich bin ein Israelit, aus dem Samen Abrahams, 
vom Stamme Benjamin“ — also wie Jeremia gerade von 
diesem nach Rieht. 20—21 einst beinahe der Vernichtung 
verfallenen und dann doch davor bewahrten Stamme: dem 
Stamme des von Gott verworfenen Königs Saul — gerade 
er, der sich als Verfolger der Gemeinde an der Kreuzigung 
Christi nachträglich bewußt und in eigener Person mit¬ 
schuldig gemacht hatte — gerade er, der an dem in Kap. 10 
beschriebenen Ungehorsam Israels vollsten Anteil hatte: 
gerade er erwies sich, berufen durch den auferstandenen 
Jesus Christus selber, nun dennoch als erwählt: als erwählt 
zum Träger des Apostelamtes, zum Heidenapostel. Wie 
könnte er zugeben, daß Gott sein Volk Israel verstoßen 
habe? Ist er nicht der lebendige Gegenbeweis, der Beweis 
für die Treue des göttlichen Erbarmens diesem Volke ge¬ 
genüber? Ist er nicht selber eine Erfüllung des Wortes in 
Ps. 94, 14: „Gott hat sein Volk nicht verstoßen“? Wie 
sollte gerade er die Erfüllung dieses Wortes nicht auch 
im Blick auf die anderen Ungehorsamen dieses Volkes 
allen Ernstes erwarten? Oder sollte die Existenz eines Ein¬ 
zelnen für das Ganze dieses Volkes nicht beweisend sein? 
Auf diese Frage wird offenbar in Vers 2b—4 geantwortet 
mit der Erinnerung an Elia, den Propheten des abgefalle¬ 
nen nördlichen Israel in den schlimmsten Tagen (den Ta¬ 
gen des Ahab und der Isebeel!) — an die Klage, mit der 
jener Einsame (ganz ähnlich wie der in Kap. 10, 16 er¬ 
wähnte Prophet) sich an Gott wandte, aber auch an den 
Gottesspruch, der ihm zur Antwort wurde, der die Klage 
und Anklage des Propheten wohl bestätigte und der ihm 
nun dodi auf die 7000 Nicht-Gleichgeschalteten aufmerk¬ 
sam machte, welche keine irrevelante Minderheit, sondern 


165 


gerade im Gegensatz zu der Mehrheit des damaligen 
Israel in Gottes Augen das ganze Israel, Israel als solches 
waren: von Gott für sich selbst bewahrt, inmitten des all¬ 
gemeinen Abfalls. Wie dort Elia keine die Regel bestä¬ 
tigende Ausnahme ist, keine Schwalbe, die noch keinen 
Sommer macht, so ist es auch Paulus nicht! So ist auch 
jetzt ein durch die Wahl der Gnade ausgesonderter Rest 
vorhanden: „Wenn aber durch Gnade, dann nicht auf 
Grund der Werke, sonst wäre ja die Gnade nicht Gnade“ 
(v. 5—6). Das ist die Anwendung des Gottesspruches auf 
die Gegenwart: Paulus denkt an die mit ihm aus Israel 
hervorgegangenen anderen Apostel, an die 3000 vom 
Pfingsttag in Jerusalem und an die Tausende, die später 
mit ihnen zum Glauben kamen. Er denkt an alle die aus 
den Synagogen der anderen Mittelmeerländer, denen er 
selbst das Evangelium nicht umsonst verkündigt hatte. 
Die Worte, in denen Paulus diese Anwendung vollzieht, 
unterstreichen nun aber in jenem Gottesspruch dies, daß 
es sich bei jenen 7000 nicht um ein löbliches Fähnlein 
der 7 Aufrechten, sondern um Gottes Erwählte, um die 
von Gott für sich übrig Behaltenen und so um das ganze 
Israel gehandelt habe. Indem ganz Israel als solches durch 
Gottes freie Gnade erwählt war und in Bestätigung die¬ 
ser ewigen Grundbestimmung Israels kam und kommt es 
nun auch in der Zeit, nun auch innerhalb Israels immer 
wieder zu solcher freien Gnadenwahl: ihr Werk ist die 
Existenz der 7000 Aufrechten, an denen es in diesem 
Volke auch in seinem tiefsten Abfall und unter den 
schwersten Gottesgerichten, die es deshalb trafen, nie ge¬ 
fehlt hat und in denen, um derentwillen ganz Israel als 
das erwählte Volk trotz allem weiter leben durfte. Nicht 
ihre Standfestigkeit und Wehrhaftigkeit macht sie der 
Gnadenwahl Gottes würdig, sondern Gottes Gnadenwahl 
macht sie dessen würdig, standfest und wehrhaft, das er¬ 
wählte Israel in seiner Gesamtheit darzustellen. So erwidert 


166 


Gott nicht Gunst mit Gunst, indem er sie für sich übrig 
behält, sondern er handelt an ihnen wie einst an Abra¬ 
ham. Und das eben ist das Köstliche, dessen sie, dessen 
der „Rest“ — und dessen im Blick auf ihn alle Israeli¬ 
ten sich rühmen dürfen: der Rest als solcher ist der Beweis 
dafür, daß Gott nicht aufgehört hat, so an Israel zu han¬ 
deln, wie er es von Anfang an getan hat: auf Grund und 
nach Maßgabe seines Erbarmens und nicht im Blick auf 
die menschlichen Werke — auf Grund seiner ganz freien 
und eben darum ganz mächtigen Gnade. Indem Gott im¬ 
mer wieder so an ihm handelt, ist Jesus Christus als der, 
für den das ganze Israel bestimmt ist, dem ganzen Israel 
immer wieder gegenwärtig und sichtbar. Indem Gott so an 
Israel handelt, gibt es immer — gab es damals und gibt 
es heute — Kirche auch aus und in Israel und eben in 
ihr lebte heimlich immer — lebte damals und lebt heute 
— das ganze Israel. Der durch Gnadenwahl bewahrte 
Rest Israels ist vor Gott als solcher, wie groß oder klein 
er sein möge, das ganze Israel. Indem die Eliageschichte 
wie die Geschichte des Paulus selbst diese göttliche Gna¬ 
denwahl bezeugen, bezeugen sie die Beständigkeit Gottes 
in der Erwählung seines Volkes, sind sie die Widerlegung 
der antisemitischen Frage von Vers 1: Sollte Gott sein 
Volk verstoßen haben? Die Frage „Was nun?“ in Vers 7 
bedeutet: Was ist der Gehalt des eben Gesagten und die 
daraus zu ziehende Folgerung? Die Antwort lautet zu¬ 
nächst (v. 7a): „Was Israel sucht, hat es nicht erreicht, 
die Wahl aber hat es erreicht“. Israel sucht nach Kap. 
9, 31 und 10, 3 durch Erfüllung des Gesetzes seine eigene 
Gerechtigkeit zu erlangen, aus und durch sich selbst seine 
Bestimmung zu erfüllen, Israel, der Gotteskämpfer zu 
sein. Das erreicht es, wie in Kap. 10 gezeigt wurde, und 
nun nicht mehr zu zeigen ist, nicht, sondern es erreicht 
das Gegenteil. Aber wie es in Kap. 9, 30 hieß, daß die 
Heiden die Gerechtigkeit, der sie nicht nachgejagt, fak- 


167 


tisch empfingen und in Kap. 10, 20: daß Gott sich fin¬ 
den ließ von denen, die ihn nicht suchten, so kann nun 
auch das in Vers 7a von Israel Gesagte das letzte Wort 
nicht sein. Was Israel im allgemeinen nicht erreichte, das 
hat „die Wahl“, d. h. das haben die 7000, das hat jener 
durch Gottes Gnadenwahl begründete Rest in alter und 
neuer Zeit — das hat Gott selbst als der nach seiner 
Gnade Erwählende tatsächlich erreicht: die 7000 erreich¬ 
ten, indem Gott sie suchte und fand wie jene Heiden, 
die Gerechtigkeit vor Gott, d. h. aber den Stand vor Gott, 
der Israels Bestimmung zum Gotteskämpfer entspricht 
und Genüge tut. In ihnen wird sichtbar, daß Gott Israel 
liebte und zu lieben nicht aufgehört hat, daß jene Be¬ 
rufung der Heiden nur als Offenbarung der Tiefe und 
Weite der Berufung gerade Israels zu verstehen ist. Israel 
bekommt Recht in diesen 7000: wohlgemerkt, gerade 
Israel genau so und nicht anders wie jene Heiden — als 
das Volk, dem Gott offenbar geworden, ohne daß es nach 
ihm gefragt hätte, als das Volk der göttlichen Gnaden¬ 
wahl. Weil Paulus eben daran alles liegt — weil eben 
das allein die Hoffnung für ganz Israel ist! — darum 
fährt er jetzt in scharfem Kontrast fort: „Die Übrigen 
aber wurden verstockt“ (v. 7b). Nach Vers 11 und 
allem, was dort folgt, kann das bestimmt nicht heißen: 
die Übrigen wurden von Gott fallengelassen. Es heißt 
allerdings, daß es in und unter der Geschichte Israels, die 
als solche eine Heilsgeschichte ist, auch immer eine Un¬ 
heilsgeschichte gab und noch gibt: ein göttliches Ver¬ 
schließen der Menschen für Gottes Verheißungen und 
Wohltaten. Wie Gott es dem ganzen Israel nicht schuldig 
war, gerade es zu erwählen, so ist er es auch keinem 
Israeliten schuldig, ihn zu den 7000 zu rufen und zu 
versammeln. Kein einziger Israelit hat das verdient. In¬ 
dem Gott die 7000 ruft und sammelt, beweist er seine 
Gnade und eben damit den Grund und die letzte Ge- 


168 


wißheit der Erwählung Israels, zu dem auch die gehören, 
die nicht unter den 7000 sind, eben damit auch ihre Hoff¬ 
nung. Er beweist es aber eben damit, daß es Unzählige 
gibt, die nicht unter den 7000 sind, an denen er die Frei¬ 
heit seiner Gnade damit offenbart, daß er sie zu jenem 
besonderen Zeugnis nicht beruft. Das ist das „Verstocken“, 
von dem in Vers 7b die Rede ist. Die drei in Vers 8—10 
angeführten Worte des Jesaia, des Mose und des David 
sollen nun dazu dienen, deutlich zu machen, wie Paulus 
diesen letzten Satz von Vers 7 versteht und verstanden 
wissen will: „so wie geschrieben steht“, so und nicht 
anders! Im Licht der Schrift, die in allen ihren Aussagen 
Weissagung auf Jesus Christus ist, kann der Satz von 
dem göttlichen Verstocken dem in Vers 2 angeführten 
Psalmwort offenbar nicht widersprechen, beweist vielmehr 
auch er, daß Gott sein Volk nicht verstoßen hat und be¬ 
weist er das auch zu Gunsten der Übrigen in diesem 
Volk, der Verstockten, der disqualifizierten Mehrheit der 
Israeliten. Denn eben das sagen doch jene alttestament- 
lichen Worte so nachdrücklich, daß Gott, der Gott Is¬ 
raels, auch an diesen Verstockten handelt — sei es denn 
so, sei es denn, indem er ihnen einen „Geist des Tief¬ 
schlafs“ gibt — und daß er als dieser Gott auch an ihnen 
zu handeln nicht aufhört. Gottes Tisch (der Inbegriff aller 
göttlichen Wohltaten!) ist und bleibt — sei es denn, wie 
jener Felsen in Zion Kap. 9 5 33 ihnen zum Verderben — 
auch in ihrer Mitte aufgerichtet. Gerade davon steht in 
Vers 7—10 nichts zu lesen, daß Gott, indem er hart mit 
diesen Übrigen umgeht, aufhören würde, jedenfalls auch 
mit ihnen umzugehen! Daß Gott verstocken kann und 
tatsächlich verstockt, das sagen freilich alle jene alttesta- 
mentlichen Texte. Man muß sie aber nur in den Zu¬ 
sammenhängen lesen, denen sie hier entnommen sind, um 
sich zu überzeugen: sie sagen es alle so, daß wie der 
Ernst so auch die Grenzen, so auch das Ende jener Un- 


169 


heilsgeschichte sichtbar wird. Kein aufmerksamer Leser 
des Alten Testamentes — und an solche wendete sich 
Paulus — konnte gerade bei diesen alttestamentlichen 
Sprüchen im Zweifel darüber sein, daß das letzte Wort 
über die von Gott Verstockten damit, daß sie Verstockte 
sind, noch nicht gesagt ist. 

Eben das wird ja nun mit der Frage in Vers 11a: „Sind 
sie dazu gestrauchelt, damit sie zu Falle kämen?“ — um von 
Gott fallengelassen zu werden? — und mit dem Nein!, mit 
dem Paulus darauf antwortet, unzweideutig ausgesprochen. 
Hat Paulus in Vers 7 von den Übrigen gesagt, daß sie ver¬ 
stockt wurden, so hat er das eben so gesagt, „wie geschrieben 
steht“, wie die Schrift es sagt. Er will damit, das erklärt 
er jetzt, unter keinen Umständen gesagt haben, daß Gott 
auch nur diese „Übrigen“ seines Volkes verstoßen hat. 
Was wollte und was will er mit ihnen? Es sollte (v. 11b) 
durch ihre Verfehlung das Heil zu den Heiden kommen. 
Nicht die 7000 Erwählten, sondern gerade die Überzahl 
der Verworfenen in Israel haben ja, indem sie Jesus 
Christus den Heiden auslieferten zur Kreuzigung, die 
Türe zu den Heiden aufgestoßen, die Solidarität der Sün¬ 
de aber auch die der Gnade hergestellt zwischen Israel 
und der Heidenwelt. Wie denn auch Paulus selbst regel¬ 
mäßig durch seine Abweisung seitens der Synagoge zu 
den Heiden geführt wurde. So gehört die Unheilsgeschichte 
dieser Ungehorsamen in einer gerade für die Heiden ent¬ 
scheidenden Weise hinein in die Heilsgeschichte. Was aber 
soll mit diesen Ungehorsamen selbst geschehen? Paulus 
antwortet: Sie sollen eben damit, daß das Heil zu den 
Heiden kommt, zur Eifersucht gereizt werden, d. h. sie 
sollen an Gottes eben den Unwissenden und Verlorenen 
da daraußen erwiesenem Erbarmen erkennen lernen, wer 
ihr eigener Gott und was er auch und zuerst gerade für 
sie ist. So hat Gott es, indem er sie verstockte, zuletzt 
gerade auf sie abgesehen! 


170 


Man lese die nun folgenden Verse, um sie zu verstehen, 
in der Reihenfolge: Vers 13, 14, 12, 15! Die Christen in 
Rom kennen Paulus als den Heidenapostel und er bekennt 
sich gerade hier ausdrücklich zu diesem seinem besonderen 
Auftrag. Aber gerade als Heidenapostel kann er „sein 
Fleisch <c (d. h. seine Verwandten nach dem Fleisch Kap. 9,3), 
jene Überzahl der dem Evangelium Widerstehenden in Is¬ 
rael, unmöglich links liegen lassen. Gerade die Herrlichkeit 
seines Amtes als Heidenapostel besteht vielmehr darin, 
seine Mitjuden zur Buße zu rufen. Muß er das Heil zunächst 
von jenen weg und zu den Heiden tragen, so kann doch 
eben das letztlich nur bedeuten, daß er es den Juden 
erst recht entgegenträgt. Der von ihm als Heiland der 
Welt Verkündigte ist ja als solcher nur der offenbarte 
Messias Israels. Dieser Offenbarung und also Israel dient 
die Heidenmission (v. 13—14). So sind die Heiden in der 
Kirche bloß Mittel zu diesem Zweck? Nein, das auch 
nicht! Denn die ganze Kirche Jesu Christi braucht ja 
umgekehrt die Juden; sie braucht ihren Fehltritt: eben 
er ist zum Reichtum für die Welt geworden; sie braucht 
ihr Fernbleiben: eben es hat die Heiden reich gemacht 
(v. 12), sie braucht ihre Verwerfung: eben sie war das 
Mittel zur Versöhnung der Welt (v. 15) — sie braucht 
aber noch viel mehr ihr vollzähliges Eingehen zum 
Glauben an ihren Messias (v. 12), ihre Hinzunahme zu 
den jetzt schon an ihn glaubenden Heiden und Juden 
(v. 15). Denn dann, wenn es dazu kommt, wird das 
jetzt auch der Kirche noch Verborgene offenbar, wird 
der ihr jetzt erst verheißene größere Reichtum in 
ihre Hände gelegt werden: Dann werden die Toten 
auferstehen (v. 15), dann wird es sichtbar und greif¬ 
bar werden, daß im Tod und in der Auferstehung Jesu 
Christi das Ende und der Neuanfang aller Dinge schon 
stattgefunden hat, das Reich Gottes auf einer neuen 
Erde und unter einem neuen Himmel heimlich schon an- 


171 


gebrochen ist. Was Israel nach Hesek. 37 verheißen ist, 
das wird dann an der Kirche, ja an der ganzen Welt 
in Erfüllung gehen. Aber eben: was Israel verheißen ist 
— und darum nicht ohne Israel selbst, nicht ohne sein „voll¬ 
zähliges Eingehen“ (v. 12), nicht ohne die Hinzunahme 
der jetzt Ungehorsamen (v. 15). Auf dieses Dann wartet 
also die ganze Kirche und kann darum nicht unwillig 
sein, ihrerseits ganz und gar dazu dienen zu müssen: die 
Juden „eifersüchtig“ zu machen, nicht unwillig, in ihrer 
Existenz ein einziger Akt von Judenmission zu sein. Ihre 
eigene Hoffnung steht und fällt mit der Hoffnung auf 
ganz Israel. Wie sollte sie da jener Meinung (v. 11) sein 
können, daß Gott die Mehrzahl der Juden dazu verstockt 
habe, um sie fallen zu lassen? 

Gegen dieselbe Meinung wird nun in Vers 16—18 der 
zweite Grund geltend gemacht: auch diese Juden gehören 
nun einmal zu dem ursprünglichen Werk und Eigentum 
Gottes, aus dem die ganze Kirche hervorgegangen ist, ohne 
das es auch keine Heiden in der Kirche, ohne das es über¬ 
haupt keine Kirche gäbe. „Da die Wurzel heilig ist, sind es 
auch die Zweige“ (v. 16) — auch diese Zweige! „Wenn du 
dich rühmen willst, so bedenke, daß du nicht die Wurzel 
trägst, sondern die Wurzel dich!“ (v. 18). Die Wurzel 
(das Erstlingsbrot v. 16) ist die dem Abraham gegebene 
Verheißung eines Nachkommen, durch den alle Völker 
gesegnet werden sollen und die in Jesus Christus ge¬ 
schehene Erfüllung dieser Verheißung. Als Vorfahren 
oder Verwandte dieses Samens Abrahams sind nun alle 
Juden als solche Zweige aus dieser Wurzel und dar¬ 
um heilig, zum Dienste Gottes bestimmt wie diese Wur¬ 
zel selber: alle, auch die verstockten, auch die ungläu¬ 
bigen Juden! So überhebe sich der Heidenchrist auf kei¬ 
nen Fall seiner Zugehörigkeit zur Kirche zu Ungunsten 
auch nur Eines von denen, die zu Israel gehören, und 
wenn dieser Eine Judas Ischarioth hieße! Denn immer 


172 


und trotz allem ist und bleibt jeder Jude als solcher, ist 
auch Judas Ischarioth der Heiligkeit teilhaftig, die die 
keines anderen Volkes sein kann: der Heiligkeit der na¬ 
türlichen Wurzel, aus der Jesus Christus und mit ihm 
die Kirche hervorgegangen ist. Wohl gibt es (v. 17) abge¬ 
hauene Zweige aus jener Wurzel, die an ihrem Leben 
keinen Anteil mehr haben: das sind eben jene vielen 
Verstockten aus Israel — und gibt es andererseits lebende 
Zweige, die, einst an einem wilden Ölbaum wachsend, 
dem edlen Ölbaum Israel jetzt auf gepfropft wurden: ein 
unmögliches Gleichnis für den in der Tat unbegreiflichen 
Vorgang, daß jetzt Heiden an die Stelle jener Ungehor¬ 
samen, in den vollen Besitz des gerade Israel zugedachten 
Heils getreten sind. Unbegreiflich ist beides: die Entfer¬ 
nung jener heiligen und die Einpflanzung dieser unheili¬ 
gen und nun durch diese Einpflanzung geheiligten Zwei¬ 
ge. Was haben die gläubigen Heiden vor den ungläubi¬ 
gen Juden voraus? Nur dies, daß die heilige Wurzel nun 
eben sie trägt. Sie ist und bleibt aber die Wurzel Israels. 
Wie könnten die Heidenchristen gerade das haben und 
vor den ungläubigen Juden voraus haben, ohne die Hei¬ 
ligkeit der sie tragenden Wurzel auch in jenen wieder zu 
erkennen, wie David auch in Saul den Erwählten und 
Gesalbten des Herrn zu erkennen und zu ehren nicht 
aufgehört hat? Wer Jesus im Glauben hat, der kann die 
Juden nicht nicht haben wollen. Sonst kann er auch den 
Juden Jesus nicht haben! 

Und nun wird die Feststellung dieses zweiten Grun¬ 
des gegen alle Überhebung der Gehorsamen über die 
Ungehorsamen (v. 19—22) ganz von selbst zur Mah¬ 
nung an die Gehorsamen, an die der großen Menge 
Israels jetzt so wunderbar vorgezogenen Heiden in der 
Kirche. Was meint ihr eigentlich? „Jene Zweige wurden 
abgehauen, damit ich eingepfropft werde“ (v. 19), so 
redet der christliche Antisemitismus bis auf diesen Tag: 


173 


die Juden haben Christus gekreuzigt; so sind sie nun 
Gottes Volk nicht mehr; so sind nun wir Christen an 
ihre Stelle getreten. „Sehr schön!“ antwortet Paulus 
in Vers 20. Er hat ja in Vers 17 scheinbar ganz das¬ 
selbe gesagt. Aber gerade antisemitisch kann das unmög¬ 
lich gesagt werden. Denn eingepflanzt werden zur Le¬ 
bensgemeinschaft mit jener heiligen Wurzel heißt glau¬ 
ben und glauben heißt an den auferstandenen Jesus 
Christus glauben, in welchem sich Gott gegen Israel ge¬ 
rade zu Israel bekannt hat. Daran scheitern die Ungehor¬ 
samen, die Juden, daß sie nicht glauben. Daran müßten 
aber sofort und erst recht auch die Gehorsamen, auch die 
Christen, scheitern, wenn sie etwa nicht mehr glauben, 
an den auferstandenen Jesus Christus glauben würden. 
In der Auferstehung Jesu Christi hat Gott nun einmal 
wie mit der Verwerfung Jesu Christi durch die Juden, so 
auch mit seiner Verwerfung der Juden Schluß gemacht. 
Er hat dort mit der jüdischen, aber eben damit mit aller, 
auch mit jeder christlidien Überheblichkeit zum vornher¬ 
ein aufgeräumt. Wer glaubt, der fürchtet Gott und fügt 
sich seiner Entscheidung (v. 21). Wollten die Heiden¬ 
christen sich dem ewigen Juden gegenüber „versteigen in 
ihren Gedanken“, dann würden sie seinem Schicksal sofort 
selber verfallen. Sie wären dann schlimmer dran als er, 
weil sie, wenn sie nicht glauben und also wieder ab¬ 
gehauen würden, im Unterschied zu den Juden sofort 
alles und jedes verlieren würden. Und (v. 22) Gott hat 
dort — in der Auferstehung Jesu Christi — mit seiner 
Strenge ja zugleich seine Güte offenbart und Menschen 
aus den Heiden haben sie sehen, erkennen, glauben dür¬ 
fen vor den Meisten aus Israel. Gottes Güte: die Güte 
des Gottes Israels! Was folgt daraus? Was ist damit eben 
von ihnen verlangtPDaß sie bei der ihnen offenbarten Güte 
Gottes bleiben. Das ist ihr Glaube. Wie sollten sie in 
diesem Glauben und von ihm aus zu dem Urteil kom- 


174 


men, daß Gott sein Volk Israel verstoßen und fallen ge¬ 
lassen habe? Sie müßten den Glauben verloren haben. 
Sie müßten selbst wieder abgehauen worden sein, wenn 
dieses Urteil das ihrige wäre. Antisemitismus ist die Sün¬ 
de gegen den Heiligen Geist: das ist es, was Paulus in 
Vers 19—22 faktisch gesagt hat. Die Gehorsamen mögen 
Zusehen, daß sie sidi nicht dieser potenziertesten Gestalt 
dieses Ungehorsams schuldig machen! 

Und nun fängt (v. 23) mitten in der fortgesetzten An¬ 
wendung des Gleichnisses vom Ölbaum und seinen Zweigen 
und mitten in der fortgehenden Mahnung an die Christen 
insofern ein neuer und letzter Gedankengang an, als Paulus 
jetzt zum erstenmal positiv ausspricht, was offenbar durch 
dieses ganze Kapitel hindurch das Ziel seiner Aussagen 
war: „Auch jene, (die Übrigen in Israel, die von Gott 
Verstockten) werden, wenn sie nicht im Unglauben ver¬ 
harren, wieder eingepropft werdend Wie die Güte Gottes 
den Vorbehalt bedeutet gegenüber den Gehorsamen, so 
bedeutet sie die Verheißung den Ungehorsamen gegen¬ 
über: sie hat die Macht, auch sie zu öffnen, wie sie sie 
verschlossen hat. Es vermag der Ungehorsam des Men¬ 
schen nicht, Gott gegenüber ein ewiges Faktum zu schaf¬ 
fen. Gott bleibt den Ungehorsamen gegenüber frei, wie 
er auch den Gehorsamen gegenüber frei bleibt. Indem 
Paulus denkt an das, was den jetzt zur Kirche versam¬ 
melten Heiden widerfahren ist, ist es ihm unmöglich ge¬ 
macht, an eine ewige Beharrungskraft des jüdischen Un¬ 
glaubens zu glauben. Wider die Natur des wilden und 
des edlen Ölbaumes ist es (v. 24) dazu gekommen, daß 
Heiden ihrer hoffnungslosen Entfremdung dem wahren 
Gott gegenüber entrissen und zum Glauben an ihn, den 
Gott Israels, berufen wurden. Schöpfung hat da statt¬ 
gefunden. Gnade hat da gewaltet. Indem Paulus Zeuge 
dieses größeren Wunders ist, ist ihm das kleinere selbst¬ 
verständlich: daß auch das von Natur dorthin gehörige 


175 


Israel dorthin kommen wird. Man vergesse nicht, daß 
Paulus dabei in der Gestalt des Synagogen-Juden den 
wirklich sündigen und verlorenen Menschen vor Augen 
hat, und daß ihm nur im Glauben an die in der Auf¬ 
erstehung Jesu Christi offenbar gewordene allmächtige 
Güte des Gottes Israels solches selbstverständlich ist im 
Blick auf diese Menschen. In diesem Glauben ist es ihm 
nun allerdings selbstverständlich und will er es auch der 
auf ihn hörenden Kirche selbstverständlich machen. Das 
„Geheimnis <c , von dem Paulus in Vers 25 redet, besteht 
nach der klaren Aussage dieses Verses nicht darin, daß 
dieses Selbstverständliche einmal geschehen wird, sondern 
darin, daß es noch nicht geschehen ist, daß Paulus und 
mit ihm die Kirche noch immer mit dem Rätsel zu ringen 
hat, daß es dem Evangelium gegenüber auch Ungehor¬ 
sam gibt, daß gerade der potenzierte Ungehorsam der 
Juden immer noch Wirklichkeit ist. Diesem Geheimnis ge¬ 
genüber sollen sich die Christen nicht für weise halten, 
indem sie das allzu nahe liegende Urteil wagen, daß das 
ungehorsame Israel von Gott verstoßen sei. Was sie vor 
Augen haben: die Verstockung eines großen Teils von 
Israel ist über diesen gekommen, weil zuerst , vor diesen 
Israeliten, die Fülle der in Jesus Christus erwählten, zu 
Gliedern an seinem Leib bestimmten Heiden „eingehen“, 
d. h. zum Glauben und in die Kirche berufen werden 
und kommen, weil die Letzten die Ersten, die Ersten die 
Letzten sein sollten. Was sie vor Augen haben, ist also 
kein skandalöser Zufall, sondern Gottes Ordnung. „So 
(auf diesem Wege) wird ganz Israel gerettet werden“ 
(v. 26a), weil diese Errettung so und nur so als Akt des 
göttlichen Erbarmens stattfinden kann, durch den die 
Niedrigen erhöht und die Hohen erniedrigt werden. Dies, 
sagt Vers 27 nach Jer. 31, ist seine (Gottes) letztwillige 
Verfügung über sie (Gottes Volk), die bei der Vergebung 
der Sünden in Anwendung kommt — dies nämlich 


176 


(v. 26b): „Es wird aus Zion ein Erretter kommen und 
wird die Gottlosigkeiten von Jakob wegnehmen“. Die 
Letzten werden die Ersten sein, weil der Erretter sich 
gerade der Verlorenen annehmen wird. Die Ersten wer¬ 
den die Letzten sein, weil eben das, was der Erretter tut, 
alle die, an denen er es tut, als Verlorene kennzeichnet. 
Das ist in Jesus Christus Gottes Vorgehen gegenüber dem 
ganzen (aus Juden und Heiden versammelten) Israel: 
darum müssen die Heiden nach dieser Ordnung voran¬ 
gehen, die Juden nachfolgen. Gottes Erbarmen muß und 
will an ganz Israel offenbart werden. Darum ist das Ge¬ 
heimnis, das dem Christen jetzt vor Augen steht, die 
Existenz der Ungehorsamen, der Stillstand, das Aufgehal¬ 
tensein der Synagoge, ein göttliches, ein anbetungswürdiges 
und nicht ein skandalöses Geheimnis. Von demselben Er¬ 
barmen, das hier die Verworfenen als Gottes Erwählte 
offenbarte, leben dort die Erwählten, deren Erwählung 
jetzt noch unter ihrer Verwerfung verborgen ist. Es bleibt 
bei ihrer Erwählung (v. 28), „denn unbereubar (also un¬ 
widerruflich) sind die Gnadengaben und ist die Berufung 
Gottes“ (v. 29). Wir denken bei diesem Satz an Kap. 9, 6: 
„Das Wort Gottes kann nicht hinfällig werden“. Gottes 
Wort, das an Israel ergangen ist, hat Anteil an Gottes 
Unveränderlichkeit. Und so sind Gottes Gerichtsentschei¬ 
dungen und Gnadenmaßnahmen wohl unerforschlich und 
unbegreiflich (v. 33), weil Gott in seinem Erbarmen kei¬ 
nen Ratgeber neben sich und keinen Richter über sich hat 
(v. 34), weil mit ihm niemand auf Geben und Nehmen 
verkehren kann (v. 35), weil alles, was geschieht, aus 
ihm, durch ihn, zu ihm hin geschieht (v. 36). Aber was 
dieser Lobpreis der göttlichen Souveränität bedeutet, das 
wird in Vers 30—32 eindeutig erklärt. Eben Gottes Er¬ 
barmen ist das Souveräne, das Unerforschliche und Un¬ 
begreifliche in Gott, dem der Mensch, drehe er sich, wie 
er wolle, zuletzt unterworfen ist. Untreue und Unzuver- 


177 


lässigkeit ist also nicht in Gott und so auch nicht in seinem 
Wort, nicht in der in Jesus Christus vollzogenen Ver¬ 
söhnung und Offenbarung. Wer sich aber zu diesem sei¬ 
nem Wort bekennt, wie es die Christen tun, der bekennt 
sich eben damit notwendig zu Gottes Treue gegenüber 
seinem Volk Israel. Und wer auf dieses Wort seine Hoff¬ 
nung setzt, dessen Hoffnung ist eben damit Hoffnung für 
die Zukunft des Volkes Israel. Kann Gott an sich selbst 
irre werden? Oder die Kirche an seinem Wort? Wenn sie 
das nicht kann, dann auch nicht an der Hoffnung für 
Israel. Damit ist begründet (v. 28b): die Christen haben 
in den ungläubigen Juden, in diesen abgeschnittenen, aber 
heiligen Zweigen aus der heiligen Wurzel, Gottes Ge¬ 
liebte — um dieser Wurzel, um der den Vätern wider¬ 
fahrenen Erwählung und Berufung willen von Gott Ge¬ 
liebte zu sehen. Das ist das letzte Wort über sie, während 
das andere, das sie in ihrem Verhältnis zum Evangelium 
— nach Vers 11—22 ja gerade „um euretwillen“! — 
Feinde, Gott Verhaßte, sind, nur ein vorletztes Wort sein 
kann, auf das die Christen weder sich selbst noch die Ju¬ 
den festlegen sollten. Es sind miteinander (v. 30—32) die 
Kirche und die Synagoge, die Gehorsamen und die Un¬ 
gehorsamen, auf denselben Trost angewiesen. Am Anfang 
steht überall der menschliche Ungehorsam. Nicht ihrem 
Gehorsam verdanken die Heidenchristen (v. 30a) ihren 
Vorsprung. Was hinter ihnen liegt, ist vielmehr grauen¬ 
hafter, durch keine Verheißung und kein Gesetz gebän¬ 
digter natürlicher Ungehorsam. Und nun heißt es auch 
nicht, daß sie dann gehorsam geworden seien, sondern 
daß sie dann Erbarmen gefunden hätten. Nicht sie ka¬ 
men nach Zion, sondern der Erretter aus Zion (v. 26) 
kam zu ihnen, und zwar durch den Ungehorsam der Ju¬ 
den, ohne den sie nicht wären, was sie sind. Wie sollten 
sie nun von anderswoher als von da aus in ihre eigene 
Zukunft und in die der Juden blicken? In der Tat: vom 


178 


Ungehorsam kommen auch diese her (v. 31) und in dem 
grauenhaften unnatürlichen Ungehorsam der bundesbrü¬ 
chigen Bundesgenossen Gottes stehen sie noch heute. Aber 
wohin kann sie das gerade nach dem Urteil der Heiden¬ 
christen allein führen als dazu, „daß auch sie Erbarmen 
finden“, daß auch sie des Heils, das durch sie zu den 
Heiden gekommen ist, selber teilhaftig werden dürfen. 
Und nun muß und wird auch hier ein Werkzeug zur 
Anwendung kommen. Wieder ist aber nicht vom Gehor¬ 
sam der Heidenchristen, sondern von dem ihnen wider¬ 
fahrenen Erbarmen Gottes die Rede. Indem die Heiden¬ 
christen da sind als solche, deren Gott sich erbarmt hat, 
ist auch die Aktion des Erbarmens Gottes den Juden ge¬ 
genüber schon eröffnet und in Gang gebracht. Die zweite 
Satzhälfte von Vers 31 lautet nämlich: „... damit in Folge 
der Barmherzigkeit gegen euch jetzt auch sie Barmherzig¬ 
keit erlangen“ und das bedeutet, daß es den Christen 
nicht etwa erlaubt ist, ihre dementsprechende Stellung 
zur Judenfrage auf den Jüngsten Tag zu verschieben, son¬ 
dern daß sie heute, jetzt dafür verantwortlich sind, daß 
durch die ihnen widerfahrene Barmherzigkeit auch jene, 
die Juden, Barmherzigkeit erlangen. Es sind (v. 32) Jesus 
Christus gegenüber alle beieinander, verschlossen unter 
den Ungehorsam; unter einen natürlichen Ungehorsam die 
Heiden, unter einen unnatürlichen die Juden — alle von 
Gott in dasselbe verdiente Gefängnis verschlossen. Und 
wieder in Jesus Christus hat Gott alle dazu bestimmt, 
seines Erbarmens teilhaftig und also frei zu sein. Das ist 
die Erkenntnis, in der die heute Gehorsamen zu den 
heute Ungehorsamen hinüberblicken, in der sie an ihre 
Zukunft denken sollen. So antwortet das Evangelium 
selbst seinen Verächtern, denn so antwortet Jesus Chri¬ 
stus denen, die ihn verworfen haben. Jede andere Ant¬ 
wort könnte nur eine unevangelische, eine unchristliche 
Antwort sein. 


179 


12, 1 — 15, 13 


Das Evangelium unter den Christen"') 


„Das Evangelium in der Kirche“, so könnten wir diesen 
letzten sachlichen Hauptteil des Römerbriefes auch über¬ 
schreiben, oder im Rückblick auf den Inhalt der voran¬ 
gehenden Kap. 9—11: „Das Evangelium und die ihm 
Gehorsamen“. 

„Ich ermahne euch“, so fängt Paulus sofort in Vers 1 
an. Man bemerke den Unterschied: Wenn er seinen Blick 
auf die dem Evangelium Ungehorsamen richtet, dann 
verschwindet alle Anrede an diese Menschen fast gänz¬ 
lich hinter dem Lob und Preis des Weges und Werkes 
Gottes. Blickt er aber zurück auf die Kirche, denkt er 
an die Christen als die dem Evangelium Gehorsamen, 
dann tritt umgekehrt — wir haben das bereits in Kap. 
11, 16 f. vorübergehend feststellen können — sofort 
die Anrede, die Mahnung an diese Menschen schlechter¬ 
dings in den Vordergrund. Weil der Gehorsam gegen das 
Evangelium nach Kap. 8, 28 f. und nach allem, was in 
Kap. 9—11 gesagt wurde, auf der freien erwählenden 
Gnade Gottes beruht, darum sind gerade die dem Evan¬ 
gelium Gehorsamen der Ermahnung bedürftig. Sie haben 
ihren Gehosam offenbar nicht in der Tasche, sondern er 
muß immer wieder geleistet und vollzogen werden. Sie 
dürfen und müssen von und mit der Gnade Gottes leben. 
Im Blick darauf ist das Evangelium — oder vielmehr die 
unmittelbare Konsequenz des Evangeliums immer auch 

*) Vgl. zu diesen Kapiteln KD II, 2, S. 794 f, 802 f, 814 f. 


180 


Mahnung: nicht an die Ungehorsamen, sondern gerade an 
die Gehorsamen gerichtet. Die Gnade selbst und als solche 
ist für die, denen sie durch das Evangelium offenbar 
und zuteil geworden, die unüberhörbare Mahnung, daß 
sie von ihr nicht weichen, daß sie sie jederzeit und 
überall und in jeder Hinsicht als die ihr Leben beherr¬ 
schende Macht gelten lassen sollen. Im Hören dieser 
Mahnung existiert die ganze Kirche. Im Hören dieser 
Mahnung konstituiert sich auch im Einzelnen das, was 
wir das christliche Leben nennen. So ist das christliche 
Leben, über dessen Gestalt Paulus in Kap. 12—15 der 
römischen Gemeinde Einiges geschrieben hat, nicht eine 
zweite Sache neben dem christlichen Glauben, neben dem 
Gehorsam gegen das Evangelium, sondern schlicht dessen 
Vollzug durch den Menschen, schlicht die fortlaufende 
menschliche Bestätigung und Anzeige, daß er nicht nur 
einmal, sondern wieder und wieder glaubt, nicht nur mit 
einem seiner Gedanken, sondern mit allen, nicht nur mit 
seinen Gedanken, sondern mit seiner ganzen Person, nicht 
nur in dieser und jener, sondern in jeder Beziehung sei¬ 
ner Existenz. Im christlichen Leben wird es fortlaufend 
wahr, daß er, der Mensch, durch Gottes Gnade glauben 
und damit dem Evangelium gehorsam sein darf. Wie 
würde er christlich glauben, wenn er nicht christlich 
leben würde? Daß das nicht möglich ist, das sagt die 
apostolische Mahnung. Sie sagt dem Gehorsamen, daß er 
sich mit seinem Gehorsam an den Ort begeben hat, wo 
er nicht anders kann, als wieder und wieder gehorsam 
sein. 

Der griechische Ausdruck für „mahnen“ ist reicher, als 
es in diesem deutschen Wort zum Ausdruck kommt. Er 
sagt zugleich: „trösten“. Damit tröstet Paulus die Chri¬ 
sten in ihrem Leben in der Zeit und in der Welt, daß er 
sie mahnt, d. h. daß er sie im Glauben bestärkt, zu neu¬ 
em Glauben, zum Leben im Glauben sie aufruft. Und 


181 


damit ermahnt er sie, daß er sie tröstet. „Durch die 
Barmherzigkeit (wörtlich durch die Erbarmungen) Got¬ 
tes“ — dieser Zusatz weist uns in dieselbe Richtung des 
Verständnisses: nicht an die Vernunft, Einsicht, Güte und 
Freiheit des Menschen wird mit dieser Mahnung apelliert; 
auch nicht eine Art menschlicher Vergeltung der gött¬ 
lichen Wohltaten wird mit ihr gefordert, sondern schlicht 
dies: daß sie die Mensdien seien, denen Gottes Erbar¬ 
men widerfahren ist. Von dorther sind sie ermahnt, von 
dorther will Paulus auch sein apostolisches Ermahnen ge¬ 
hört und verstanden wissen. Man beachte, wie damit der 
letzte starke Ton von Kap. 11 (v. 30 f.) neu aufgenom¬ 
men wird: das christliche Leben als das Leben des christ¬ 
lichen Glaubens ist das Leben derer, die von einer Vier¬ 
telstunde zur anderen durch Gottes Barmherzigkeit und 
sonst durch nichts gehalten sind. 

Aus diesem Ursprung der Mahnung ergibt sich nun so¬ 
fort die erste Zusammenfassung ihres Inhaltes. Die Christen 
sind durch Gottes Barmherzigkeit, von der sie allein leben, 
gemahnt, ihre Leiber — ihre ganze Person ohne Vorbehalt 
irgend eines ihrer Elemente, irgend einer ihrer Funktionen 
— zu einem lebendigen, heiligen, gottwohlgefälligen Opfer 
darzubieten, d. h. nicht mehr, aber auch nicht weniger als 
sich selbst — ungefragt, wer oder was sie seien — dem 
zur Verfügung zu stellen, der sie in seinem Erbarmen 
für dessen würdig hält, ihm zu gehören, dessen Wohl¬ 
gefallen es ist, sie für sich in Anspruch zu nehmen und 
sie, ihre ganze Person, als Gabe an ihn entgegenzuneh¬ 
men. Man merke: daß dies geschehen darf , daß Gott von 
sich aus etwas findet an diesen Menschen, daß er bereit 
ist, sie für sich zu haben — diese Güte Gottes ist die 
Kraft der Forderung, die hier in seinem Namen erhoben 
wird. Darum wird die Erfüllung dieser Forderung durch 
die Christen als „euer vernunftgemäßer (wörtlich: logi¬ 
scher) Gottesdienst“ bezeichnet. Es ist nichts als logisch, 


182 


nichts als folgerichtig: das Leben dessen, dem Gottes 
Barmherzigkeit widerfahren ist, ist als solches ein zur Da¬ 
hingabe an ihn bestimmtes Leben. Und daß diese Bestim¬ 
mung vollzogen wird, das ist nichts als euer gelebter 
Glaube, das ist euer, der Christen selbstverständlicher 
Gottesdienst. Aber das Wort von der Vernunftgemäßheit 
oder Logik dieses Gottesdienstes weist bestimmt noch in 
eine andere Richtung: Christen sind ja solche, die im 
Opfertode Jesu Christi der Barmherzigkeit Gottes teil¬ 
haftig geworden sind. So ist ihr Leben bestimmt zu einem 
Zeugnis von diesem seinem Opfertod und so selber zu 
einem Gott darzubringenden Lebensopfer, das freilich als 
solches zu ihrer in Jesus Christus geschehenen Versöh¬ 
nung nichts beitragen und hinzufügen kann, das aber 
als bestätigende Nachbildung, als dankbare Anerkennung 
eben dessen, was ihnen in Jesus Christus widerfahren 
ist, unmöglich ausbleiben kann. 

Von da aus versteht man Vers 2: Die Christen leben zwar 
in der Welt und in der Zeit, aber durch Gottes Barmherzig¬ 
keit ist es ihnen unmöglich gemacht, sich deren Gestalt und 
Charakter anzupassen und anzugleichen, ihrem Leben aufs 
neue die Gestalt und den Charakter dieser Welt zu geben. 
Das ist ihnen damit unmöglich gemacht, daß sie diese Welt 
kraft ihres Anteils an der Auferstehung Jesu Christi 
schon hinter sich gelassen haben. Ihr Anteil an der Auf¬ 
erstehung Jesu Christi besteht ja in einer ihnen wider¬ 
fahrenen Verwandlung: in einer Erneuerung ihres Den¬ 
kens nämlich, die sie nötigt und auch befähigt, mitten 
im Weltlauf, dem auch sie verfallen sind, zwischen dem 
Gesetz dieses Weltlaufs und dem Willen Gottes, zwischen 
dem göttlich und damit wahrhaft Guten, Wohlgefälligen 
und Vollkommenen und den natürlichen Ergebnissen des 
Weltprozesses zu unterscheiden und als die, die Gott ge¬ 
opfert und gehörig sind, in ihrem Leben nicht eine Wieder¬ 
holung der Gestalt und des Charakters dieser Welt dar- 


183 


zustellen, sondern ein Zeichen des Willens Gottes, ein 
Zeichen der Ordnung seiner kommenden neuen Welt auf¬ 
zurichten. Das ist der Weg, auf den sie durch die Barm¬ 
herzigkeit Gottes, als die um Jesu Christi willen Gott 
zum Opfer Dargebrachten gestellt sind, daß sie diesen 
Weg gehen sollen — darum sollen, weil sie es dürfen —, 
das ist die Mahnung, die nun im Folgenden in einigen 
Punkten erläutert werden soll. 

Von einem eigentlichen Gedankengang und also von 
einer Disposition läßt sich in diesen Kapiteln im Ganzen 
nicht reden. Sie unterscheiden sich darin von den elf ersten 
Kapiteln des Briefes, daß der Weg der Untersuchung 
und Abhandlung hier aufgegeben, daß an seine Stelle 
hier so etwas wie eine Querfeldeinwanderung getreten 
ist, bei der das Prinzip der Auswahl und der Reihenfolge 
der besprochenen oder auch nur berührten Gegenstände 
für uns nicht mehr auszumachen ist. Man kann wohl 
teilweise (etwa bei der Stelle über die Staatsgewalt Kap. 
13, 1—7) oder bei dem großen Schlußteil über die Star¬ 
ken und Schwachen im Glauben (Kap. 14, 1 — 15, 13) 
annehmen, daß Paulus sich auf Nachrichten bezieht, die 
er aus der römischen Gemeinde erhalten hat und die 
ihm gerade diese besonderen Mahnungen nahelegten. 
Alles übrige ist ihm wohl im Blick auf das christliche 
Leben anderer Gemeinden in Griechenland und Klein¬ 
asien auch hier in die Feder gekommen. Eine systemati¬ 
sche Darlegung, so etwas wie eine christliche Ethik, darf 
man also hier nicht einmal in den Umrissen zu finden er¬ 
warten. Haben wir es zuerst in Kap. 12, 3—8 dann 
wieder in Kap. 13, 1—7, dann wieder in Kap. 13, 8—10 
und Kap. 13, 11—14 und im Schlußteil in Kap. 14, 1 f. 
mit in sich geschlossenen und gegliederten Einzelzusam¬ 
menhängen zu tun, so ist die Stelle Kap. 12, 9—21 eine 
Reihe von Zurufen, die man nur künstlich auf den Nenner 
eines beherrschenden Gedankens bringen könnte; und eben- 


184 


so steht es mit dem Ganzen dieser Kapitel: es ist wohl ein 
lebensmäßiges, sicher und sichtbar von der Grundmah¬ 
nung in Kap. 12, 1—2 her beherrschtes, es ist aber nicht 
ein von einem bestimmten Begriff her gegliedertes Ganzes. 
Es redet, wie es bei einer wirklichen Mahnung der Fall 
sein muß, je in seinen Einzelheiten, und so muß es auch — 
immer von jenem Ansatzpunkt in Kap. 12, 1—2 her und 
natürlich im Zusammenhang mit der ihm zugrundeliegen¬ 
den Verkündigung des Evangeliums — verstanden wer¬ 
den. 

Die Mahnung richtet sich zuerst (Kap. 12, 3—8) an 
den Christen als Glied der christlichen Gemeinde. Der 
Wille Gottes, den er hier nach Vers 2 erkennen, dem er 
sich hier im Unterschied zu der Gestalt dieser Welt unter¬ 
ordnen soll, besteht darin, daß er sein Leben in der Ge¬ 
meinde als einen Dienst verstehe und vollstrecke, der da¬ 
durch geordnet ist, daß die eine der Gemeinde als solche 
zugewendete Gnade die Gestalt vieler, nicht getrennter 
und konkurrierender, aber verschiedener und eben in ihrer 
Verschiedenheit zusammengehöriger und zusammenklin¬ 
gender Gaben hat, wobei der Glaube, der die Gnade als 
solche und als besondere Gabe ergreift, gleichzeitig (als 
christlicher Glaube) jedem Einzelnen seine mit allen ande¬ 
ren gemeinsame Bestimmung und (als sein christlicher 
Glaube) jedem Einzelnen seine Grenze anweist. Der Ge¬ 
stalt dieser Welt entsprechend müßte es auch in der Ge¬ 
meinde so zugehen, wie in Vers 3 warnend beschrieben 
ist: es müßte und würde ein Jeder im Vertrauen auf 
die Gewalt und das Recht seiner persönlichen Vitalität ins 
Grenzenlose schweifen. Der Apostel aber, in Wahrneh¬ 
mung seines Amtes, das er selber durch die Gnade hat, 
um eben die Gnade als die in der Gemeinde gültige Ge¬ 
walt und Rechtsordnung zu verkündigen, heißt einen 
Jeden die geschehene Erneuerung seines Denkens darin 
fruchtbar machen, daß er auf nichts anderes als genau 


185 


auf das sich ausrichte, was „sich geziemt“, daß er darauf 
sinne, besonnen zu sein, was dann sofort damit erklärt 
wird: daß er den ihm von Gott bestimmten Lauf seines 
christlichen Glaubens antrete und vollende (v. 3). Damit 
lebt er in der Gemeinde, in welcher jeder Einzelne als 
Glied des einen Leibes damit in der Fülle des Ganzen 
lebt, daß er seiner besonderen, nicht von ihm ausgesuch¬ 
ten und bestimmten, sondern ihm zugewiesenen Stellung 
und Funktion getreu ist (v. 4—5). Die Gnade selbst ist 
ungeteilt eine und dieselbe für alle; ihre Gaben aber sind 
verschiedene: nicht nach der Verschiedenheit der mensch¬ 
lichen Anlagen, Temperamente und Tendenzen, sondern 
nach der Verschiedenheit des Willens Gottes, dem ein Jeder 
in seinem Glauben Gehorsam zu leisten, den ein Jeder 
zu erfüllen, an den aber auch ein Jeder — gerade im 
Gegensatz zu der gnadenlosen Grenzenlosigkeit der Vita¬ 
lität des natürlichen Menschen — sich zu halten hat, wenn 
er der ihn allein haltenden göttlichen Barmherzigkeit 
nicht verlustig gehen will. (v. 6) Innerhalb dieses Maßes 
kann nun aber die Mahnung, wie der Schluß (v. 6—8) 
zeigt, nur dahin lauten, daß ein Jeder gerade das, was 
ihm durch den Willen Gottes gegeben und aufgetragen ist, 
ausschöpfe, auslebe, auswirke, genau wie es ihm eben ge¬ 
geben und aufgetragen ist. Eben sein Gehorsam sei nun 
auch rücksichtslos seine Freiheit! Eben die Fülle des 
Ganzen sei nun auch seine persönliche Fülle! Die einzelne 
Bezeichnung der Gnadengaben verhindert nämlich hier 
wie 1. Kor. 12 zum vornherein den Mißbrauch, der an¬ 
gesichts dieser positiven Seite der Mahnung drohen könnte: 
Es handelt sich ja nicht um individuelle Veranlagungen, 
Neigungen und Lüste: es handelt sich um das propheti¬ 
sche Wort, um den Liebesdienst, um die Lehre, um die 
Ermahnung, um das Schenken, um das Regieren, um 
die Barmherzigkeit — um alles das, mit dem die Ge¬ 
meinde, mit dem also auch die Einzelnen in der Gemeinde 


186 


nicht sich selbst und nicht den Menschen in der Gemeinde 
noch denen in der Welt, auch nicht der Gemeinde als 
solcher, wohl aber Gott in der Gemeinde und so Gott in 
der Welt zu dienen, mit dem sie sein Licht auf den 
Leuchter zu stellen haben, damit es scheine in der Fin¬ 
sternis. Das sind die Gaben der Gnade. Und weil sie das 
sind, kann die Mahnung nur dahin lauten, daß man sie 
nehmen und brauchen soll. Die Besonnenheit, von der 
zuerst die Rede war, kann da nicht verloren gehen, sie 
muß und wird — im Gegensatz zu aller weltlich klugen 
Zurückhaltung — eben da zu Ehren kommen, wo es dar¬ 
um geht, diese , die offenkundig zu diesem Zweck bestimm¬ 
ten Gaben (in der Einheit der Gnade, die sie alle dar¬ 
stellen) wirklich rücksichtslos auszuschöpfen, auszuleben, 
auszuwirken. Es wäre Unbesonnenheit, wenn irgend je¬ 
mand das nicht tun würde! 

Wir kommen nun zu jener Reihe loser aneinander ge¬ 
reihter einzelner Weisungen (Kap. 12, 9—21) — es han¬ 
delt sich im Griechischen von Vers 9—17 um eine fast 
ununterbrochene Reihe von lauter Partizipialsätzen —, bei 
denen sichtlich das Leben des einzelnen Christen als sol¬ 
chen in seinem Zusammenleben mit anderen einzelnen 
Menschen zunächst innerhalb, dann aber auch außerhalb 
der Gemeinde ins Auge gefaßt wird. Wie lebt man in 
diesem Zusammenleben als ein Gott Geopferter (v. 1), 
nach Maßgabe der geschehenen Erneuerung des Denkens, 
in der Unterscheidung des Willens Gottes von der Gestalt 
dieser Welt (v. 2)? Das ist die Frage, auf die auch hier 
geantwortet wird. Daß es sich um Auslegungen jener 
Grundmahnung handelt, wird man also auch hier zum 
Verständnis jedes einzelnen dieser Worte nicht aus den 
Augen lassen dürfen. Wir können sie nur streifen. 

Christliche Liebe den anderen Menschen gegenüber, wie 
sie zunächst innerhalb der Gemeinde zugleich erlaubt und 
geboten ist, ist dann „ungeheuchelt“ und also aufrichtig, 


187 


wenn sie die Bezeugung unserer Erkenntnis ist, daß Gott 
uns in dem Menschen Jesus zuerst geliebt hat. Sie kann 
und muß diesen anderen Menschen gegenüber ebenso in 
der Verneinung des Bösen wie in der Bejahung des Gu¬ 
ten, ebenso in Ablehnung wie in Zustimmung, sie muß 
auf alle Fälle in unterscheidender Weisheit geschehen 
(v. 9). Sie muß aber, da es ja in der Gemeinde um den 
gemeinsamen Auftrag, um den Dienst an der gemein¬ 
samen Sache geht, in jener Innigkeit, d. h. in jenem Zu¬ 
getansein geschehen, in welchem man weder sich selbst 
noch den Anderen, sondern in Brüderlichkeit mit dem 
Anderen zusammen den gemeinsamen Herrn meint und 
sucht und in dem man gerade darum die Ehre gerne 
dem Anderen als dem stellvertretenden Darsteller dieses 
Herrn lassen wird (v. 10). Der Eifer darf nicht nach- 
lassen, das Feuer nicht erlöschen, der Dienst nidit ab¬ 
brechen, die Hoffnung nicht unfreudig, die Haltung in 
der Bedrängnis nicht unbeständig, das Gebet nicht stok- 
kend, die Bedürfnisse der Heiligen, d. h. des dem Dienst 
des Herrn zugewendeten Lebens der Gemeinde, dürfen 
nicht vernachlässigt werden (v. 11—13). So, mit dem 
Allem, in Gestalt dieses völligen und pausenlosen Inan¬ 
spruchgenommenseins liebt man einander in der Ge¬ 
meinde. So ist man hier ein Gott Geopferter im Zusam¬ 
menleben mit den anderen Menschen. Diesen Sinn und 
diese Kraft hat die Liebe als christliche Liebe. Sie hat 
den Sinn und die Kraft, den Ernst und die Freiheit, 
die Unendlichkeit und die Grenzen höchster Sachlichkeit. 
Sie kann in Sentimentalität sicher nicht ausarten. Sie kann 
aber auch nicht müde, nicht pervertiert werden in Gleich¬ 
gültigkeit, Abneigung und Zersplitterung. Sie nimmt alle 
Leidenschaft in Anspruch und sie hat Dauer, Autorität 
und Macht, weil sie selbst keine Leidenschaft ist. Was sie 
bewegt und trägt, ist ja die Gnade und nicht die Natur, 
der Auftrag der Gemeinde und nicht das persönliche Be- 


188 


diirfnis, die Furcht Gottes und nicht der Respekt vor den 
Menschen — oder umgekehrt: die Natur, die durch die 
Gnade gefangen genommen, das persönliche Bedürfnis, 
das in den Dienst der Gemeinde gestellt, der Respekt vor 
den Menschen, der durch die Furcht Gottes begründet 
und bedingt ist. Paulus wird nachher (Kap. 13, 8 f.) noch 
einmal auf diese Sache zurückkommen. 

Aber nun lebt ja der Christ nidit nur innerhalb der Ge¬ 
meinde, sondern auch außerhalb, in der Welt: eben in jener 
Welt, deren Gestalt er sich nicht mehr anpassen kann! Eben 
in diese Welt hinein ist ja die Gemeinde gestellt; eben für 
sie lebt sie ja ihr scheinbares Sonderleben. So wird alles dar¬ 
auf ankommen, daß sie es — indem sie ihren Protest gegen 
ihre Gestalt erhebt und durchführt — wirklich für sie 
und nicht gegen sie lebe. Daß sie also und daß jeder 
einzelne Christ in ihr auf die ihr widerfahrende und ihn 
persönlich treffende Verfolgung nicht mit Fluchen — als 
stünde hier eine Partei gegen eine andere —, sondern mit 
Segnen antworte! (v. 14). Dies ist es ja, was Jesus Chri¬ 
stus an jedem Christen „da wir noch Feinde waren“ (Kap. 
5, 10) zuerst getan hat. Dieses ihm Widerfahrene ist es, 
was er als Christ gerade denen, die ihm als Feinde be¬ 
gegnen, zu bezeugen hat. Er gehe gerade nicht seiner 
Wege — das wäre nicht aus der Erneuerung seines Den¬ 
kens, das wäre allzu weltlich gedacht und gehandelt, 
wenn er sich vor der Welt flüchten wollte. Wie könnte er 
dann segnen? Stoischer Verzicht auf das Mitleben mit den 
Menschen in der Welt ist nun einmal noch nie das dem 
Christen befohlene Segnen gewesen. Segnen kann er nur, 
indem er auf die ihm widerfahrende Verfolgung damit 
antwortet, daß er erst recht mit den Menschen in der 
Welt lebt, mit ihnen sich freut, mit ihnen weint, mit ihnen 
ein Mensch ist (v. 15). Um nun doch eben als solcher in 
Mitfreude und Mittrauer eine ganz bestimmte, nämlich 
die durch die Einheit der Gemeinde und ihren Auftrag 


189 


bestimmte Linie verfolgen, welche darin bestehen wird, 
daß er den eigentümlichen Zug und Trieb in die Höhe, 
den Drang nach Gottähnlichkeit, der für die Welt, die 
das Evangelium noch nicht gehört hat, charakteristisch ist, 
nicht mitmacht, sondern immer da zu finden sein wird, 
wo ihn selbst Gottes Gnade in Jesus Christus gefunden 
hat, nämlich in der Niedrigkeit dessen, der seiner eige¬ 
nen Klugheit und Macht für Zeit und Ewigkeit nichts 
zu verdanken sich bewußt ist, in der Niedrigkeit dessen, 
der wo er auch stehe: in Freude oder in Trauer, in Er¬ 
folg oder in Mißerfolg, mit der Mehrheit oder mit der 
Minderheit gehen, ein Angenommener, ein von Gott auf 
seinen Weg und zu seinem Werk Zugelassener ist. Im¬ 
mer da wird der Christ zu finden sein, wo es zum Be¬ 
kenntnis der Menschlichkeit des Menschen im Gegensatz 
zu aller Gottähnlichkeit kommt (v. 16). Er wird auf dieser 
Linie bestimmt nicht Böses mit Bösem vergelten, sondern 
vor den Augen aller Menschen — ob sie es sehen oder 
nicht — für das göttlich Gute einstehen. Denn das gött¬ 
lich Gute ist immer (und ist auch nie umsonst) bei denen, 
die Gott durch seinen Geist zu Armen, zu schlechterdings 
Bedürftigen gemacht hat (v. 17). Eben in dieser seiner 
echten Bedürftigkeit vor Gott wird der Christ dann auch 
ein lebendiges, ein schlechterdings aufrichtiges Friedens¬ 
angebot an alle Menschen — der Träger des an sie ge¬ 
richteten göttlichen Friedensangebotes — sein (v. 18). 
Wenn sie es aber nicht annehmen? Und sie werden es ja 
gewiß trotz allem nicht alle annehmen! Nicht Alle? Wie¬ 
viele, wie wenige werden es annehmen? Soll er nun doch 
als Partei gegen Partei wider sie Vorgehen? Gleiches mit 
Gleichem vergelten? Mindestens damit, daß er sie nun 
dennoch fallen läßt, daß er endlich und zuletzt, ein Bild 
des göttlichen Zornes, doch von ihnen weg und seiner Wege 
geht? Paulus sagt in Vers 19—21 in aller Deutlichkeit, 
daß eine andere Vergeltung als die des Bösen mit dem 


190 


Guten, als die Verstärkung also jener Teilnahme, von 
der in Vers 15 die Rede war, für den Christen nicht in 
Betracht komme. Er müßte ja selbst die Gnade fahren 
lassen, die ihm zuteil geworden, wenn er statt ihrer auf 
einmal den Zorn und die Rache Gottes bezeugen wollte. 
Den Zorn und die Rache Gottes zu bezeugen ist — mit 
Vorbehalt des besonderen Auftrags, von dem nachher 
die Rede sein wird — Gottes Sache ganz allein. Es ist 
der Auftrag der Gemeinde und so der Auftrag jedes ein¬ 
zelnen Christen bestimmt der, Gleiches gerade mit Un¬ 
gleichem zu vergelten und also den Feind, den Menschen, 
der das Friedensangebot nicht annimmt, damit zu be¬ 
kämpfen und zu überwinden, daß er ihn als Feind ein¬ 
fach nicht gelten läßt, daß er ihn seiner Feindschaft zum 
Trotz erst recht nicht als Feind sich so weit ausleben 
läßt, daß er ihm wiederum zum Feinde würde. Er wird 
ihn vielmehr damit aus dem Felde schlagen, damit „feu¬ 
rige Kohlen auf seinen Kopf häufen“, daß er auch ihn 
als einen Bedürftigen, als einen Hungernden und Dür¬ 
stenden behandelt und also speist und tränkt, statt ihn, 
den Armen, als vermeintlicher Exekutor des göttlichen 
Gerichtes etwa noch ärmer zu machen. Und das alles eben 
— wie sehr hat hier Nietzsche die Konsequenz des Evan¬ 
geliums mißverstanden! — nicht etwa in Schwachheit, 
sondern in Kraft, nicht aus Minderwertigkeitsgefühl, son¬ 
dern in königlicher Überlegenheit, nicht nachgiebig, son¬ 
dern gerade damit echten Widerstand leistend, eben damit 
die siegreiche Schlacht schlagend: gerade damit beweisend, 
daß er, der Christ, vom Bösen nicht überwunden, son¬ 
dern in der Lage ist, das Böse mit dem Guten zu über¬ 
winden. 

Von dieser Grundregel des Verhältnisses des Christen 
zur Welt machen nun auch die folgenden berühmten 
Verse über die Staatsgewalt (Kap. 13, 1—7) keine Aus¬ 
nahme. Sie sagen einmal, daß niemand von der Befolgung 


191 


jener Regel die Entstehung eines allgemeinen Chaos zu 
befürchten oder zu erhoffen hat. Wie Gott und indem Gott 
die christliche Gemeinde mit jenem Auftrag, das Böse durch 
das Gute zu überwinden und ganz allein mit der Gewalt 
und dem Recht ihrer Bedürftigkeit, ihres Lebens von sei¬ 
nem Erbarmen, in die Welt hineingestiftet hat als sein Frie¬ 
densangebot an alle Menschen — so hat er in der Welt selbst 
eine Ordnung aufgerichtet, durch deren Existenz und 
Handhabung dafür gesorgt ist, daß auch sein Zorn und 
seine Rache (Kap. 12, 19) allen Menschen gegenüber zur 
Bezeugung komme, daß also das Böse und die Bösen auch 
abgesehen von dem ihnen durch die Gemeinde übermittel¬ 
ten Friedensangebot, auch da, wo das Evangelium noch 
nicht oder nicht mehr Gehorsam findet, in ihre Schran¬ 
ken gewiesen sind, ihren freien Lauf nicht nehmen kön¬ 
nen. Und diese Verse sagen zum anderen, daß die Chri¬ 
sten sich in diese Ordnung fügen und einordnen und 
zwar von Gewissens wegen, also frei und von sich aus 
fügen und einordnen sollen, daß ihr „vernünftiger Got¬ 
tesdienst“ (v. 2) auch diese Gestalt: die Gestalt des politi¬ 
schen Gottesdienstes (vgl. v. 4, 5, 6) haben muß. — Die 
„Gewalten“, von denen in Kap. 13, 1 f. die Rede ist, sind 
tatsächlich das, was wir die Staatsgewalt nennen. Die 
Übersetzung „Obrigkeit“ hat darum viel Verwirrung an¬ 
gerichtet, weil man dabei allzu einseitig nur an die exe¬ 
kutiv regierende Staatsgewalt und zu wenig an die bei 
dieser Sache so oder so unvermeidliche aktive Beteiligung 
auch der jeweils Regierten gedacht hat. Das Wort ist das¬ 
selbe, das in Matth. 28, 18 gebraucht wird: „Mir ist 
gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ — das¬ 
selbe Wort, das im Neuen Testament zur Bezeichnung 
einer bestimmten Gruppe von Engelmächten verwendet 
wird. Wir können schon daraus entnehmen, daß Paulus 
von einer von der Gewalt Jesu Christi unabhängigen, 
von einer „naturrechtlich“ begründeten Gewalt hier nicht 


192 


hat reden wollen. Kein Wort verrät uns, daß Paulus in 
diesen Versen plötzlich nicht mehr „auf Grund der Barm¬ 
herzigkeit Gottes c< (v. 12, 1) ermahnen, daß er hier nicht 
mehr die Christen als solche und also auf ihren Gehor¬ 
sam gegen Jesus Christus anreden würde. Indem Jesus 
Christus das Haupt seines Leibes, der Gemeinde, ist, ist 
er nach Kol. 1, 16 f. auch der, durch den und auf den 
hin alles geschaffen ist: alle „Throne, Herrschaften, 
Mächte und Gewalten“. Eben das gilt auch von der 
Staatsgewalt. Sie gehört zwar nicht zur Kirche, wohl aber 
mit der Kirche zum Reiche Christi. Eben darum hat sich 
Jedermann — Jedermann gerade in der Gemeinde — der 
Staatsgewalt zu fügen und einzuordnen (v. 1). Von Ein¬ 
ordnung ist die Rede und nicht von einer blinden Unter¬ 
werfung, einer Sache, die es in der Bibel — man kann 
ruhig sagen: überhaupt nicht gibt. Wo solche Staatsgewalt 
ist, da ist sie von Gott eingesetzt: in dem, worin sie 
Staatsgewalt ist natürlich — nicht etwa in dem, worin sie 
sich vielleicht als deren Gegenteil, als Revolution, als 
Anarchie, gebärdet und ausweist — so daß wer sich ihr 
entziehen, ihr sich entgegensetzen wollte, der Anordnung 
Gottes selbst widerstehen würde (v. 2). Die im Namen 
und in der Vollmacht solcher von Gott eingesetzter Staats¬ 
gewalt Regierenden können für die, die das Gute tun, für 
die Christen also, kein Gegenstand der Furcht, keine 
Fremden sein, denen gegenüber sie nur Distanz zu wah¬ 
ren hätten. Das sind sie für die Bösen: gerade für jene 
also, denen die Christen bis jetzt scheinbar erfolglos ihr 
Friedensangebot gemacht haben. Ihnen ist damit, daß es 
eine Staatsgewalt gibt, gewehrt — sie sind durch sie ge¬ 
warnt, daß sie es allzu weit jedenfalls nicht treiben möch¬ 
ten auf ihrer bösen Linie. Wogegen sich der Christ als 
Täter des Guten, als der Träger ihrer Botschaft vom Sieg 
des Guten, vor ihr und vor den sie vertretenden Personen 
bestimmt nicht zu fürchten, nicht zu distanzieren hat, in 


193 


deren Funktion er vielmehr geradezu die Erfüllung eines 
Gottesdienstes dankbar anerkennen wird. Fürchten und 
distanzieren müßte er sich in dieser Sache nur, wenn er 
die ihn haltende Gnade loslassen, der Gestalt dieser Welt 
sich anpassen und damit selber das Böse tun würde (v. 3 
bis 4). Die Staatsgewalt ist nämlich tatsächlich Gewalt: sie 
führt das Schwert und sie führt es nicht umsonst, nicht 
zum Schein und da, wo sie von Gott eingesetzt ist, auch 
nicht aufs geratewohl, sondern tatsächlich gegen die Bö¬ 
sen: sie ist also an sich wohl geeignet, Furcht zu erregen, 
zu Fluchtgedanken anzuregen. Was sie zu bezeugen hat, 
ist nicht mehr und nicht weniger als Gottes Zorngericht 
über den, der das Böse tut: wie sollte also nicht Jeder¬ 
mann, auch der Christ, erschrecken können vor diesem 
Zeugnis. Wollte und würde er das Böse tun — und 
was sonst als Gottes Gnade hindert ihn daran? — so 
würde auch er hier nur erschrecken können: erschrecken 
als vor der Anzeige des ewigen Gerichtes in der Gestalt 
des irdischen Richters (v. 4). Aber eben weil er durch 
Gottes Gnade gehalten ist, kann und muß er sich hier 
ohne Furcht fügen und einordnen: nicht nur aus jener 
Furcht, wie es die Anderen tun, sondern gerade er um 
des Gewissens, um der Erkenntnis Gottes und seiner 
Herrschaft willen, weil er weiß und will, daß Gott auch 
durch die Begründung und Aufrechterhaltung dieser Ord¬ 
nung gepriesen wird, daß er auch in den Vertretern dieser 
Ordnung — gleichgültig ob sie glauben oder nicht — fak¬ 
tisch seine Diener hat, weil das Reich Christi und seine hei¬ 
ligende Gewalt außerhalb der Gemeinde auch diese Ge¬ 
stalt hat (v. 5). Sich fügen und einordnen heißt aber: aktiv 
tun, was zur Aufrechterhaltung und Durchführung dieser 
Ordnung nötig ist als Leistung an Steuer und Zoll, an 
Respekt und Ehre (v. 6—7). Sich fügen und einordnen 
heißt also: in praktischen Entscheidungen seine Verant¬ 
wortlichkeit auch in dieser Sache bewähren, heißt auch 


194 


in dieser Sache: drinnen und nicht draußen sein. Die 
Christen sind hier unter der Ordnung Gottes — des 
einen Gottes — wie sie es in der Gemeinde sind. Sie 
sollen es als die Gott Geopferten an beiden Orten ganz 
sein: anders hier als dort, aber an beiden Orten ganz 
und auch hier darum, weil sie es dürfen, auch hier gerade 
darum, weil sie von der Gnade Gottes gehalten und ge¬ 
tragen sind. 

In dem Abschnitt Kap. 13, 8—10 kehrt Paulus mit 
deutlicher Unterstreichung zu dem Thema und Gedan¬ 
ken von Kap. 12, 9—13 zurück. Der Satz in Vers 8 ist 
nicht so einfach, wie er auf den ersten Blick aussieht. 
Heißt es doch nicht: „Seid niemandem etwas schuldig, als 
daß ihr ihn liebt!“ sondern: „Seid niemandem etwas 
schuldig, außer dem, daß ihr euch unter einander liebt!“ 
Paulus sagt also: Dies sei der Inbegriff alles dessen, was 
die Christen der Welt schuldig sind: daß sie sidi unter¬ 
einander liebten! Das wäre eine unerträgliche Aussage, 
wenn der Begriff der christlichen Liebe (Kap. 12, 9—13) 
nicht bereits dahin erklärt wäre, daß die Liebe der Chri¬ 
sten unter einander, ja in jenem gemeinsamen Einstehen 
für die Sache der Gemeinde, die die Sache ihres Herrn 
und so eine für die ganze Welt wichtige und heilsame Sache 
ist, ihren Grund und ihre Kraft hat. Daß dieses gemein¬ 
same Einstehen Ereignis werde und bleibe, darauf kommt 
hinsichtlich der Aufgabe des Christen der Welt gegen¬ 
über, hinsichtlich seines „Segnens“, seiner Mitfreude und 
Mittrauer, seines Eintretens für das Gute unter allen 
Umständen, seiner Beteiligung an der Staatsgewalt alles 
an. Es hängt alles daran, daß die Kirche in dem allen 
Kirche ist und bleibt. Sie ist und bleibt es aber, indem 
jenes Lieben unter den Christen in seiner ganzen Tiefe 
und Radikalität, mit seinem ganzen Wohl- und Wehtun, 
in seiner ganzen leidenschaftslosen Leidenschaftlichkeit le¬ 
bendig ist. In dieser Liebe erbaut sich die Kirche. Mit 


195 


ihr leistet sie, was sie der Welt schuldig ist. Mit diesem 
Lieben erfüllt sie das Gesetz in allen seinen Geboten; 
denn mit diesem Lieben befindet sie sich in der Nachfolge 
dessen, der das Gesetz ein für allemal erfüllt hat. In ihm 
betätigt sie ihren Glauben, in ihm betätigt ihn jeder 
einzelne Christ. Ist er nur ein Liebender in jener höch¬ 
sten Sachlichkeit, dann gibt er dem Nächsten, jedem Näch¬ 
sten, was er ihm schuldig ist; dann wird er ihm sicher 
nichts Böses, sondern bestimmt alles Gute erweisen. 

Der Abschnitt in Kap. 13, 11—14 ist gewissermaßen 
die Wiederholung und Erklärung der grundsätzlichen 
Worte in Kap. 12, 1—2. Die Christen müssen als solche 
immer wieder und in jeder Hinsicht realisieren, daß die 
Gestalt dieser Welt als ihre Gestalt nicht mehr in Be¬ 
tracht kommen kann. Sie kann das darum nicht, weil sie, 
die Christen, „die Zeit verstehen“. Sie verstehen nämlich 
mit jeder weiteren Stunde besser, daß sie in der Wende 
der Zeit stehen und daß sie sich danach zu richten haben. 
„Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe herbei¬ 
gekommen“ (v. 12). Diese Wende der Zeit ist geschehen: 
wie sollten sie das nicht wissen, indem sie gläubig ge¬ 
worden sind? Eben diese Wende geht nun aber auch un¬ 
aufhaltsam weiter; sie ist das Zeichen, unter das alle 
menschliche Geschichte von dem Ereignis von Golgatha an 
so gestellt ist, daß es immer sichbarer werden muß: wie 
sollten wir das nicht beachten, indem wir heute wieder 
glauben, was wir gestern geglaubt haben? Wie sollten 
wir es heute nicht noch viel mehr als gestern beachten? 
Wie sollten wir das anders als tätig beachten? Wie anders 
als damit, daß wir vom Schlaf aufstehen, das Schlafge¬ 
wand (v. 13 beschrieben!) auszichen und für den kom¬ 
menden, immer näher kommenden Tag uns anziehen und 
ausrüsten — mit den Waffen des Lichtes, mit dem Herrn 
Jesus Christus selber? Daß die Christen die Wende der 
Zeit, wie sie schon geschehen ist und noch geschieht, be- 


196 


achten — in der Tat beachten, das ist es, was aus der 
ihnen widerfahrenen Erneuerung ihres Denkens mit Not¬ 
wendigkeit folgt, das die Mahnung, die gerade sie, die 
Gehorsamen, nicht genug hören können. 

Der Zusammenhang in Kap. 14, 1—15, 13, mit dem 
die apostolische Mahnung an die Christen und damit die 
sachliche Belehrung des Römberbriefes zum Abschluß 
kommt, hebt sich von dem in Kap. 12—13 Vorangehenden 
schon dadurch deutlich ab, daß jetzt die ausführliche Be¬ 
handlung einer bestimmten Lebensfrage an die Stelle der 
vielen allgemeinen und einzelnen Weisungen tritt, die dort 
das Bild beherrschen. Aber etwas Anderes ist noch wich¬ 
tiger: In Kap. 12—13 war vom Gehorsam gegen das Evan¬ 
gelium die Rede, sofern er unterschiedslos von der gan¬ 
zen Kirche, von jedem Christen als solchem zu erwarten 
und gefordert ist: Ohne die Beteiligung am Dienst der 
Gemeinde, ohne das Leben in der Liebe, in welchem diese 
begründet ist und stetig erneuert wird, ohne ein Segen 
zu sein inmitten der feindseligen Außenwelt, ohne die 
Übernahme politischer Verantwortlichkeit, ohne das zu¬ 
nehmende Zurückbleiben und Abfallen der Bindungen 
eines im Tod und in der Auferstehung Christi schon 
entmächtigten Menschenwesens könnte und würde nie¬ 
mand ein Christ sein, so gewiß das alles aus der mit 
dem Empfang des Evangeliums Ereignis gewordenen Sin¬ 
neserneuerung (Kap. 12, 2), mit dem in der Taufe voll¬ 
zogenen Anziehen des Herrn Jesus Christus (Kap. 13, 
14) folgt: nicht nur folgen kann oder folgen muß, sondern 
notwendig und tatsächlich folgt. Es folgt aber nach Kap. 
14—15 aus jener Sinneserneuerung oder aus der Taufe 
weder notwendig noch tatsächlich dies, daß dieser Gehor¬ 
sam aller Christen (der Gehorsam jedes Christen, ohne 
den keiner ein Christ sein könnte und wäre) in allen 
und jeden dieselbe menschlidie Gestalt hat. Wir hörten 
in Kap. 12, 3—8 bereits von der Verschiedenheit der Ga- 


197 


ben der einen Gnade. Aber eben weil es sich dort um die 
Gaben der Gnade handelte, konnte die Mahnung dort in 
Kap. 12, 6f. dodi nur dahin lauten: es möge ein Jeder 
von der nun gerade ihm gegebenen Gabe den vollen rück¬ 
sichtslosen Gebrauch machen, der ihrer Natur entspricht, 
um eben damit das Leben eines Gliedes des einen heiligen 
Leibes Jesu Christi zu leben — ein Jeder an seinem Ort 
und auf seiner Bahn selber das Ganze und eben darum 
und so sicher in Besonnenheit. Die Verschiedenheit, von 
der in Kap. 14—15 die Rede ist, hat mit der Verschieden¬ 
heit der Gaben nichts zu tun. Hier handelt es sich viel¬ 
mehr um das verschiedene Empfangen der einen Gnade, 
um die menschlich bedingte Verschiedenheit in der Ge¬ 
stalt des von Allen geforderten Gehorsams. Es gibt 
„Schwache im Glauben“ (Kap. 14, 1), denen „Starke“ 
gegenüberstehen (Kap. 15, 1). Man bemerke, daß Paulus 
nicht etwa eine Begründung und Rechtfertigung dieser 
Verschiedenheit gibt, sondern daß er sich damit begnügt, 
festzustellen, daß sie tatsächlich vorhanden ist. Er sagt 
also nicht etwa, daß diese Verschiedenheit einen besonde¬ 
ren Reichtum der Gemeinde ausmache, daß man sich über 
ihr Vorhandensein freuen dürfe oder wohl gar müsse als 
über ein Zeichen von Leben oder dergleichen, sondern 
er rechnet nur damit, daß sie da ist und gibt Anwei¬ 
sung, wie man sich dazu zu stellen habe. Und es ist auch 
nicht einmal so, daß Paulus sich dieser Verschiedenheit 
gegenüber neutral verhielte, daß er beide in gleicher Weise 
gelten lassen würde, sondern er läßt keinen Zweifel dar¬ 
an übrig, daß er — und zwar nicht nur nach seinem 
persönlichen Geschmack, sondern als Apostel des Evange¬ 
liums — die eine dieser Möglichkeiten, die der „Starken“ 
nämlich, für die bessere hält: nur daß er eben unter 
dieser Voraussetzung gerade diese „Starken“ zum rechten 
Verhalten den „Schwachen“ gegenüber mahnt und damit 
offenbar auch die andere Voraussetzung sichtbar macht: 


198 


daß es auch solche „Schwache im Glauben“ nun einmal 
gibt in der Gemeinde. Er sagt, daß die ganze Gemeinde in 
dieser Verschiedenheit ihrer Gestalt und ihres Gehorsams, 
sofern und solange sie nun einmal vorhanden ist, sich ge¬ 
genseitig — nicht als gleichberechtigt anerkennen, auch 
nicht bloß dulden, wohl aber aufnehmen, tragen muß: 
nicht darum, weil diese beiden verschiedenen Gestalten 
gleich gut wären, aber darum, weil das Gute, das noch 
besser ist als das Bessere von beiden, eben in diesem 
Aufnehmen und Tragen besteht, weil das, was in der Ge¬ 
meinde „gut“ zu heißen verdient, endlich, letztlich und 
entscheidend nur das Gute Jesu Christi sein kann, der 
(Kap. 14, 9) der Herr der Toten wie der Lebendigen 
ist, der (Kap. 15, 3) nicht sich selbst, sondern als Trä¬ 
ger der Schmach derer, die Gott schmähen, dem Näch¬ 
sten gedient hat, der (Kap. 15, 7 f.), indem er die Ver¬ 
heißung Israels erfüllte, auch die Heiden angenom¬ 
men hat. Das ist das Gute, das das Gesetz der ganzen 
Gemeinde bildet. Im Blick auf dieses Gute hat sie 
zu den menschlichen Verschiedenheiten der Gestalt des 
christlichen Gehorsams, haben die Christen untereinan¬ 
der in diesen Verschiedenheiten Stellung zu nehmen. In 
der Unterordnung unter dieses Gesetz wird ihr Gehorsam 
auch in dieser Verschiedenheit einer sein. Es gibt eine 
bessere Gestalt des christlichen Gehorsams. Aber auch sie 
ist doch nur menschlich besser: es geht nicht darum, daß 
die „Starken“ eine bessere Gnade empfangen hätten als 
die Schwachen; es geht nur darum, daß sie sie tatsächlich 
besser empfangen haben. Eben darum besteht die Gefahr, 
daß gerade sie das Gesetz verletzen könnten, das über 
ihnen wie über den Schwachen steht: daß sie sich gegen 
die Gnade versündigen könnten, von der die ganze Ge¬ 
meinde lebt. Es könnte ihr Besseres der Feind des Guten 
— eben jenes Guten Jesu Christi selber werden. Das ist es, 
was nicht geschehen darf! Das für die ganze Gemeinde gül- 


199 


tige Gesetz, die eine Gnade, die Alle nötig haben und 
die auch Allen gegeben ist, das Gute Jesu Christi muß 
auch in der Art triumphieren, wie sie nun tatsächlich seine 
besseren Empfänger sind. Würde das nicht geschehen, dann 
wären sie nicht nur keine besseren, sondern überhaupt 
keine Empfänger dieses Guten! M. e. W.: auch die bessere, 
auch die beste Gestalt menschlichen Gehorsams gegen das 
Evangelium ist schlechterdings daran gemessen, ist immer 
wieder ganz und gar auf die Waage der Entscheidung 
gelegt: ob es denn wirklich zum Gehorsam gegen das 
Evangelium kommt gerade in dieser Gestalt? Ob sich nicht 
etwa der Ungehorsam gegen das Evangelium nun gerade 
unter der Gestalt des besseren und besten Gehorsams 
ihm gegenüber verstecken und breit machen möchte? Ob 
dieser Gehorsam bereit ist, sich als menschliche Gehor¬ 
samsgestalt in und trotz seiner menschlichen Güte wirk¬ 
lich vom Evangelium als dem von ihm anerkannten Ge¬ 
setz her richten und zurecht richten zu lassen? 

Die Verschiedenheit der menschlichen Gestalt des christ¬ 
lichen Gehorsams entstand in der römischen Gemeinde 
(wie Paulus offenbar in Korinth erfahren hat) an einer 
Frage, die nach 1. Kor. 8, 1 f.; 10, 23 f. auch die korin¬ 
thische Gemeinde beschäftigt hat — und die wohl grund¬ 
sätzlich genommen die Frage ist, an der die hier bespro¬ 
chene Verschiedenheit noch immer entstanden ist: Es gab 
Christen, die es für nötig und richtig hielten, jener in Kap. 
13, 11—14 von allen Christen mit so besonderem Nach¬ 
druck geforderten Befreiung von den Bindungen des in 
Jesus Christus erledigten und entmächtigten Menschen¬ 
wesens damit gewissermaßen von sich aus nachzuhelfen, 
vielmehr: sich selbst bei jenem „Ablegen der Werke der 
Finsternis“ (Kap. 13, 12) damit Stütze und Halt zu ver¬ 
schaffen, daß sie zu gewissen, von ihnen selbst gewählten 
Maßnahmen griffen, die ihnen die große Wendung vom 
Alten zum Neuen im Einzelnen und Kleinen erleichtern 


200 


sollten. Sie errichteten sich so etwas wie ein Geländer, 
dem folgend sie den den Christen befohlenen Weg sicherer 
gehen zu können gedachten. Sie hielten sich an gewisse 
Prinzipien, an denen sie sich auf diesem Weg jeweils 
orientieren wollten. Sie erdachten gewisse Übungen, mit 
Hilfe derer sie ihren Gang nach dem Worte Gottes regu¬ 
lieren wollten. Sie haben nach Kap. 14, 2 z. B. vegeta¬ 
risch gelebt. Sie waren nach Kap. 14, 21 wohl auch Alko¬ 
holabstinenten. Sie haben nach Kap. 14, 5 auch gewisse 
Tage durch eine bestimmte Lebensweise vor anderen aus¬ 
gezeichnet. Zu anderen Zeiten und unter anderen Umstän¬ 
den sind zu demselben Zweck bekanntlich noch andere 
derartige Maßnahmen vorgeschlagen und in die Tat um¬ 
gesetzt worden. Paulus setzt ausdrücklich voraus, daß sie 
das im Glauben taten: also nicht etwa, um durch gute 
Werke das Gesetz Gottes zu erfüllen. Mit Leuten, die 
dies, die also einen Rückfall ins Judentum im Schilde führ¬ 
ten, hat Paulus ganz anders geredet, nämlich so, wie er 
es im Galaterbrief getan hat. Die Leute, von denen hier 
die Rede ist, wollen nicht durdi ihre Werke gerettet und 
selig werden, sie wollen nur ihres Glaubens leben, wol¬ 
len aber, eben um das tun zu können, jene besonderen 
Maßnahmen ergreifen: weil sie sie für unentbehrlich hal¬ 
ten, weil sie es sich nicht Zutrauen, ohne jenes Geländer, 
jene Prinzipien, jene Übungen durchzukommen, weil sie 
ohne diese kleine Selbsthilfe aus der Gnade zu fallen be¬ 
fürchten. Darum nennt sie Paulus — es liegt keine Be¬ 
schimpfung darin, sondern nur die Feststellung eines Tat¬ 
bestandes: „Schwadie im Glauben“ (Kap. 14, 1). 

Und nun verlangt er (zunächst von der ganzen Gemeinde 
als solcher, als deren besondere Vertreter er aber von An¬ 
fang an die „Starken“ anredet), daß man sie „annehme“. 
Annehmen heißt nicht: sie bestätigen, ihnen recht geben. 
Annehmen heißt aber auch nicht nur „dulden“, sondern 
schlicht, wie das Wort sagt: auch sie sollen (ob nun ihr 


201 


Vorgehen gut oder weniger gut zu heißen sei) als solche, die 
in ihrer Art den gemeinsamen Glauben haben und also 
gehorsam sein wollen, ohne Anfechtung wegen dieser ihrer 
besonderen Art zur Gemeinde gehören und entsprechend 
dieser Zugehörigkeit behandelt werden. „Daß es über 
ihren besonderen Meinungen in dieser Sache zu keiner 
Scheidung in der Gemeinde komme!“ Es ist nun einmal 
so (v. 2), daß die Einen (sie werden erst in Kap. 15, 1 
ausdrücklich die „Starken“ genannt werden) im Glauben 
von solchen Maßnahmen keinen Gebrauch machen müs¬ 
sen; die Anderen aber, eben die „Schwachen“ tun es. Erste 
Regel (v. 3): es sollen Jene Diese nicht verachten, d. h. 
sie sollen ihrem Glauben nicht absprechen, daß er tief 
sei. Und es sollen diese Jene nicht „richten“, d. h. sie sollen 
ihrem Glauben nicht absprechen, daß er ernst sei. Wer 
nur den Weg des Glaubens geht (mit oder ohne Nach¬ 
hülfe und Geländer), der soll angesehen und behandelt 
werden als Einer, den Gott angenommen hat. Christen 
sind (v. 4) Knechte, die dem gemeinsamen Herrn ein Jeder 
mit seinem eigenen Glauben zu dienen, die also in dem 
gemeinsamen Herrn ein Jeder seinen eigenen Richter aber 
auch seinen eigenen Erbarmer haben. Sie können einander 
unter sich nicht richten um der verschiedenen mensch¬ 
lichen Gestalt ihres Gehorsams willen. „Richten“ heißt aus¬ 
schließen. Sie können nicht ausschließen, wo Gott schon 
angenommen hat, wo Gott allein über die Treue oder Un¬ 
treue der von ihm Angenommenen nach seiner Barm¬ 
herzigkeit entscheiden wird. Audi das Verachten wäre ein 
Richten (v. 13!), wie das Richten umgekehrt immer auch 
ein Verachten ist. Beides ist gleich unmöglich. 

Zweite Regel: es kommt (v. 5) für Alle alles darauf an, 
daß ein Jeder auf seinem Weg (den Weg mit oder ohne 
Geländer!) seiner Sache, nämlich der Gestalt seines christ¬ 
lichen Gehorsams völlig gewiß sei: dessen gewiß, daß er 
diesen Weg wirklich im Glauben gehen muß und darf. 


202 


Sollte das Verachten und das Richten nicht in gleicher 
Weise davon herkommen, daß die Verächter und die Rich¬ 
ter ihrer eigenen Sache nicht völlig gewiß sind? Sind sie es, 
wie sollten sie dann das Verachten und das Richten nötig 
haben? Wie aber kommt ein Jeder zu dieser Gewißheit? 
Darauf wird in Vers 6—9 die umfassende Antwort ge¬ 
geben: es ist ein Jeder dann für sich auf dem rechten 
Wege — gleichviel ob dieser an sich der bessere oder der 
weniger gute ist —, wenn er das, was er tut oder nicht 
tut, „für den Herrn“, für Jesus Christus, zur Bezeu¬ 
gung seiner Zugehörigkeit und Liebe zu ihm und also 
— denn das muß der Grund solchen Zeugnisses sein — 
aus Dank gegen Gott tut oder nicht tut. Was ein Werk 
dieses Dankes ist, das ist als solches ein gutes Werk des 
Glaubens: kein „Werk der Finsternis“ (Kap. 13, 12!), aber 
auch kein Gesetzeswerk zur Umgehung und Verleugnung 
der freien Gnade Gottes — gleichviel, ob es in Anwen¬ 
dung oder Nichtanwendung jenes Geländers, jener Prin¬ 
zipien und Übungen bestehe. Wir können weder mit der 
einen noch mit der anderen Gestalt unseres Gehorsams 
etwas für uns selbst wollen. Wir können uns ihrer auf 
alle Fälle nur „für den Herrn“ zu jener Dankesbezeugung 
bedienen wollen. Können wir doch weder für uns selbst 
leben, noch für uns selbst sterben. Sind wir doch lebend 
und sterbend des Herrn Eigentum. Hat er uns doch durch 
sein Sterben und Leben zu seinem Eigentum erworben, un¬ 
ser Leben und Sterben unter seine Herrschaft und also in 
seinen Dienst gestellt, unsere Existenz prädestiniert dazu, 
daß sie auf alle Fälle, unter allen Umständen und auf der 
ganzen Linie in jener Dankesbezeugung bestehen muß. 
Was bleibt uns schon übrig, als daß jede menschliche Ge¬ 
stalt, die wir unserem Gehorsam geben können, jede Mög¬ 
lichkeit, in der wir unseren Glauben leben mögen — wel¬ 
ches unsere Wahl nun auch sei und wie auch das göttliche 
und das menschlidie Urteil über diese unsere Wahl aus- 


203 


fallen möge — auf alle Fälle eine Gestalt und Möglich¬ 
keit jenes Dienstes und jener Dankesbezeugung sein wird. 
Sind wir lebend und sterbend des Herrn — wie sollte 
dann auch nicht hinsichtlich der Wahl, die wir unter jenen 
Gestalten und Möglichkeiten unseres Glaubens zu treffen 
haben, dies die Frage aller Fragen sein: daß wir diese 
Wahl so oder so nur als die, die dem Herrn gehören und 
nur in Bezeugung dieser unserer Hörigkeit treffen und 
aufrechterhalten dürfen. Tut das ein Jeder — und das 
ist’s, was ein Jeder zu tun, das ist’s aber auch, was ein 
Jeder dem Anderen zuzutrauen und das ist es wieder¬ 
um, worin ein Jeder den Anderen zu bestärken hat — 
dann darf und soll ein Jeder seiner Sache gewiß und 
zwar völlig gewiß sein. Bist du deiner Sache völlig gewiß 
(v. 10), was richtest, was verachtest du dann deinen Bru¬ 
der? Wie kommst du dann dazu, ausschließen zu wollen, 
wo deine ganze Sorge nur darauf gerichtet sein könnte, 
in der Gewißheit deines Glaubens, in deiner Dienstleistung, 
deiner Dankesbezeugung nicht müde, an ihr nicht irre zu 
werden, immer genauer sich an das zu halten, was dir 
befohlen und anvertraut ist, damit du dem Richter ent¬ 
gegengehen könnest als dem, der dir seine Barmherzigkeit 
zugesagt und in seiner Zusage schon erwiesen hat, um auf 
Grund seines Urteils endlich und zuletzt selber einge¬ 
schlossen zu sein und zu bleiben? Hat sich (v. 11) das 
Knie des Anderen vor mir oder habe ich das meinige vor 
ihm zu beugen? Hat er mich (meine menschliche Gehor¬ 
samsgestalt) oder habe ihn ihn (die seinige) zu preisen? 
Offenbar keines von beiden. Wir werden vielmehr gemein¬ 
sam ihm uns zu beugen haben, den preisen dürfen, dem 
wir beide untertan sind, wenn wir nur — so oder so, 
in besserer oder weniger guter Gestalt — ihm wirklich 
gehorsam sind. 

Also dritte Regel (v. 12): es ist die Verantwortung, 
die ein Jeder zu tragen und zu leisten hat diejenige, 


204 


die ein Jeder für sich selbst und gerade dann und so 
in wahrhafter Gemeinschaft mit dem Anderen tragen 
und leisten soll. Aber das ist das letzte Wort noch nicht. 
Für was sind wir verantwortlich? Ein Jeder für sich selbst, 
für unsere Dienstleistungen und Dankesbezeugungen, hör¬ 
ten wir. Aber in was bestehen diese gerade angesichts der 
Tatsache, daß ihre menschliche Gestalt so verschieden sein 
kann? 

Sie bestehen (4. Regel!) darin, daß wir in Voll¬ 
streckung der von uns getroffenen Wahl dem Bruder, 
dem Anderen, der in seiner Weise mit uns glaubt, 
nicht Anstoß geben, ihn nicht verführen, sondern nach 
Vers 19 nach dem trachten, was zum Frieden, was zur 
Erbauung untereinander dient. „Anstoß geben“ heißt 
nicht einfach: befremden, auf regen, ärgern, verdrießen. 
Es ist für den Schwachen sehr befremdend und vielleicht 
sehr verdrießlich, daß es auch Starke gibt und umge¬ 
kehrt. Und daraus pflegt es dann zu dem gegenseitigen 
Verachten und Richten allerdings zu kommen. Daß wir 
einander dazu überhaupt keinen Anlaß bieten sollten, uns 
zu richten oder zu verachten, das ist nicht, was von uns 
verlangt ist. Das kann darum nicht von uns verlangt sein, 
weil es ja dann jene besonderen Wege besonderen Lebens 
im Glauben, jene verschiedenen Gestalten menschlichen Ge¬ 
horsams überhaupt nicht geben dürfte, was Paulus offen¬ 
bar — indem er die eine für besser hält als die andere 
— nicht sagen will. Es ist aber von uns verlangt, daß wir 
einander nicht richten, nicht ausschließen sollen. Und dies 
ist es, was damit geschehen würde, wenn wir einander 
„Anstoß und Verführung bereiten“, d. h. wenn wir einan¬ 
der darin irre machen würden, daß ein Jeder bestimmt 
nur den Weg seines Glaubens und keinen anderen gehen 
darf. Es könnten die Schwachen den Starken zur Ver¬ 
suchung werden, ihrerseits für unentbehrlich zu halten, 
was ihnen in Wirklichkeit gar nicht unentbehrlich ist. Es 


205 


könnten aber auch umgekehrt — und daran ist Paulus 
hier fast ausschließlich interessiert — die Starken den 
Schwachen zur Versuchung werden, ihr Geländer, ihre 
Prinzipien, ihre Übungen fahren zu lassen, wo sie sie 
doch ihrem Glauben gemäß — wenn dieser echte Dienst¬ 
leistung und Dankesbezeugung sein soll — gar nicht 
fahren lassen dürften. Paulus erklärt in Vers 14 a sehr 
bestimmt, was er über jene Maßnahmen der Schwachen 
denkt: „Ich weiß und bin im Herrn Jesus überzeugt, daß 
nichts an und für sich unrein ist“. Alles ist rein“ (v. 20 
— „den Reinen“ ist wohl späterer Zusatz!) M. e. W.: Es 
gibt keine objektive Notwendigkeit für jene Schutz- und 
Sicherheitsmaßnahmen. Man soll sie nicht für Gottes Ge¬ 
setz halten und ausgeben. Wer sie ergreift, der tut es 
auf seine eigene Verantwortung. Es gibt aber nach Vers 
14 b eine subjektive Notwendigkeit solcher Maßnahmen: 
da, wo ein Christ mit dem Tun des an sich Reinen für 
seine Person tatsächlich etwas tun würde, was für ihn 
nicht Dienstleistung für den Herrn, nicht Dankesbezeu¬ 
gung gegen Gott wäre. Kann er es im Glauben nicht 
tun, dann ist es für ihn unrein, Sünde (v. 23). Dies ist es, 
was der Andere, der „Starke“ zu bedenken hat. Er darf 
mit dem, was er tut, den Schwachen unter gar keinen 
Umständen dazu veranlassen, seinerseits zu tun, was für 
ihn Sünde ist. Die objektive Reinheit aller Dinge in 
Ehren — in Ehren auch seine eigene Reinheit im Ge¬ 
brauch aller Dinge — er hat aber darüber hinaus nicht 
die Vorurteile, nicht die Engstirnigkeit, nicht den Fana¬ 
tismus und dergleichen des Schwachen, wohl aber den 
Schwachen selbst, nämlich seinen Glauben, in Ehren zu 
halten; er hat die bedrohte Reinheit des Schwachen zu 
bedenken und zu berücksichtigen. Er darf ihn nicht ver¬ 
anlassen, zu tun, was für ihn ein unreines, ein seinem 
Glauben nicht entsprechendes Tun wäre. Der Zustand, in 
den der Schwache dadurch versetzt würde, wird in Vers 


206 


15 „Betrübnis“ genannt. Gemeint ist die traurige Lage 
dessen, der seinen einzigen möglichen Halt verloren hat. 
Das kann geschehen, das geschieht sogar unvermeidlich, 
wenn er sich nicht streng daran hält, seinen Weg so zu 
gehen und einzurichten, wie er es nach seinem Glauben 
an das Wort Gottes, als der Empfänger der Gnade, der er 
nun einmal ist, tun muß. Veranlasse ich ihn dazu, so 
heißt das — und wenn mein objektives Recht noch so 
groß wäre —, daß ich ihn zum Ungehorsam veranlasse, 
was dann für mich selbst sofort heißt, daß ich nicht gemäß 
der Liebe wandle, daß ich für mich selbst jenes Lebens¬ 
elementes der Gemeinde entbehre, daß ich an meinem 
Teil der Welt das schuldig bleibe (Kap. 13, 8), was idi 
ihr als Christ unter keinen Umständen schuldig bleiben 
dürfte: ich zerstöre dann die Gemeinde, die ich, damit sie 
ein Licht für die Welt sei, bauen sollte. Ich bringe dann 
den ins Verderben, für den Christus gestorben ist. Denn 
das ist sein Verderben, wenn er aufhört, seines Glaubens 
zu leben — auch dann, wenn es ein objektiv besseres 
Leben im Glauben gibt als das seinige, auch dann, wenn 
ich noch so gut in der Lage bin, es ihm vorzuleben. Ist 
es nicht das seinige und kann es das nicht werden, so bin 
ich sein Verführer und also ein Schädling der Kirche, 
wenn ich ihm mein Besseres so oder so aufdränge. Ich 
habe (v. 16) mit ihm gemeinsam ein „Gutes“ zu hüten, 
vor Profanierung zu bewahren. Dieses Gute — das Gute 
des Reiches Gottes, dessen Offenbarung die Christen ent¬ 
gegengehen — besteht aber (v. 17) nicht in den verschie¬ 
denen menschlichen Gestalten unseres Gehorsams als sol¬ 
chen, also gewiß nicht in seinem Vegetariertum oder in 
seiner Abstinenz, aber ebenso gewiß auch nicht in meinem 
unbeschwerten Essen oder Trinken, sondern jenseits dieser 
Gegensätze in der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Freu¬ 
de als den Gaben des Heiligen Geistes, aus und mit denen 
ein Jeder auf seinem Weg leben darf, sofern er der Weg 


207 


seines Glaubens ist und sofern er ihm als solchen treu 
bleibt. Wir können (v. 18—19) Christus nur darin dienen, 
Gott nur darin wohlgefällig und auch unter den Men¬ 
schen nur darin brauchbar sein, daß wir einander gegen¬ 
seitig veranlassen und darin bestärken, eben diesen Weg 
immer wieder zu suchen, dann aber auch zu gehen, 
gleichviel, ob er der unsrige sei oder nicht. Das heißt Frie¬ 
den, das heißt gegenseitige Erbauung in der Gemeinde, 
und daß es dazu komme, das ist der positive Sinn dieser 
wichtigsten, der vierten Regel des Paulus. Ihre Anwen¬ 
dung kann aber nach Vers 20—21 für den Starken ge¬ 
radezu das bedeuten, daß er selbst — nicht um seines 
Glaubens, aber um des Glaubens des Schwachen willen, 
nicht in Verleugnung seines Glaubens, nicht etwa aus 
Furcht vor dem Richten des Schwachen (wie Petrus in 
Antiochien Gal. 2, 11 f.), sondern in der Furcht Gottes, 
in der Furcht davor, den Schwachen in jenes Verderben 
zu bringen — seinerseits unterlassen wird, was jenem, 
wenn er ihn unter Verleugnung seines Glaubens nach¬ 
ahmen, wenn er etwa umgekehrt ihn fürchten sollte, zu 
diesem Verderben gereichen würde. Es ist der Vorsprung 
des Starken vor dem Schwachen, daß er diesem in solcher 
Weise beispringen kann: wer ohne Geländer gehen kann, 
kann es offenbar auch mit Geländer; wer keine Prinzi¬ 
pien braucht, kann sie offenbar auch gelten lassen; wer 
nicht auf Übungen angewiesen ist, kann sie offenbar auch 
einmal mitmachen. Wie sollte er der Stärkere sein, wenn 
er das, was der Schwächere kann, etwa nicht könnte? Er 
wird aber tatsächlich tun, was er auch kann, wenn es 
darum geht, den Bruder nicht fallen zu lassen, das Werk 
Gottes, das in der Gemeinde auch durch diesen Bruder ge¬ 
schehen soll, nicht zu zerstören. Gerade der Glaube, den 
er selbst hat (v. 22a) und der ihm, ginge es nur um 
seine Person, erlauben, ja gebieten würde, ganz und gar 
geländerlos und unprinzipiell und ohne alle und jede be- 


208 


sondere Übung seinen Weg zu gehen — gerade dieser 
Glaube kann ihm und wird ihm in diesem Fall, weil er 
ihn nidit nur für sich selbst, sondern vor Gott hat, er¬ 
lauben und gebieten, Rücksicht zu nehmen. Es bleibt da¬ 
bei: er müßte sich selbst an sich nicht verurteilen, wenn 
er täte, was er jetzt um des Andern willen unterläßt 
(v. 22b). Er weiß aber auch (v. 23), daß er schon verurteilt 
wäre, wenn er es zweifelnd, wenn er es nicht im Glau¬ 
ben, wenn er es nicht in voller Verantwortlichkeit, im 
Vollzug der seinem Glauben entsprechenden Dienstleistung 
und Dankesbezeugung, wenn er es bloß aus irgend einer 
Lust des Zufalls täte. Er weiß, daß, was nicht aus Glau¬ 
ben geschieht, Sünde ist. Und sieht er nun den Schwa¬ 
chen eben in dieser Gefahr, dann wird er ihn in der 
Anwendung jener Maßnahmen damit unterstützen, daß 
auch er selber sich ihnen unterzieht, ohne daß er sie für 
sich nötig hätte: lieber das, als daß er ihm Anlaß geben 
würde, sich in eine Freiheit zu begeben, die für ihn, den 
Schwachen, weil er nun einmal schwach ist, gerade keine 
Freiheit wäre. 

Man könnte sidi ohne allzu große Mühe eine ent¬ 
sprechende apostolische Ansprache und Mahnung an 
die Schwachen vorstellen. Aber es entspricht wohl dem, 
daß die ganze apostolische Mahnung sich an die Ge¬ 
horsamen und nicht an die Ungehorsamen richtet, wenn 
sie nun in diesem Zusammenhang tatsächlich nur an die 
Starken und nicht an die Schwachen ergeht. Was diesen zu 
sagen wäre, könnte ja auch nur in der Bestätigung und 
Erklärung bestehen, daß sie tatsächlidi die Schwachen 
sind und in der Mahnung, daß sie sich doch ja nicht etwa 
plötzlich, wie es manchmal vorkommt, als die Starken, 
als die eigentlichen und besseren Christen ausspielen und 
ausgeben sollen. Von einem Recht dazu kann gar keine 
Rede sein. Aber Paulus hat ihnen das nicht anders als 
eben mit ihrer Bezeichnung als „Sdiwache“ und mit der 


209 


schlichten Mahnung vorgehalten, daß sie ihrerseits nicht 
richten sollten. Sein ganzes Interesse, die ganze Wucht sei¬ 
ner Mahnung gilt den Starken, die er jetzt (Kap. 15, 1) 
auch ausdrücklich — und indem er sich selbst ausdrück¬ 
lich zu ihnen bekennt — darauf anredet, daß sie eben 
als die Starken schuldig, verpflichtet sind, die Schwachheit 
der Ungefestigten (das sind die Anderen!) zu tragen 
und nicht sich selbst zu Gefallen zu leben. Sie sind inso¬ 
fern die Starken, als ein geiänder- und prinzipienloses, 
auf besondere Übungen verzichtendes Leben dem Wesen 
ihres Glaubens als Bezogenheit auf Jesus Christus ganz 
allein zweifellos besser entspricht als ein solches unter 
Zuhilfenahme von allerlei selbstgewählten menschlichen 
Möglichkeiten, Geboten und Verboten. Aber eben: Dieses 
Bessere kann und darf doch nicht der Feind des Guten 
(v. 2 vgl. Kap. 14, 16) werden. Der Starke im Glauben, 
der sich selbst zu Gefallen leben wollte, wäre ein hölzer¬ 
nes Eisen. Daß der Christ nicht sich selbst lebt und stirbt, 
sondern dem Herrn (Kap. 14, 7), das bedeutet konkret: 
er lebt seinem Nächsten zu Gefallen — nicht so wie es 
seinem Nächsten gefällt, sondern so, daß seinem Näch¬ 
sten damit das zu Gefallen geschieht, was ihm zu Gefallen 
geschehen muß — er lebt für das in der Erwartung der 
Offenbarung des Reiches Gottes gemeinsam mit seinem 
Nächsten zu hütende Gute; er lebt für die Auferbauung 
der Gemeinde. Gerade weil der Glaube Bezogenheit auf 
Jesus Christus ganz allein ist (v. 3), kann das nicht anders 
sein. Denn eben Christus hat nicht sich selbst zu Gefallen 
gelebt. Hätte er das getan, dann hätte er (Phil. 2, 6 f.) seine 
göttliche Gestalt für eine gute Beute angesehen und für 
sich behalten. Nun aber hat er sich ihrer entäußert, hat 
Knechtsgestalt angenommen und ist den Menschen gleich 
geworden: er hat die Schande derer, die Gott schänden, 
auf sich selbst genommen und getragen. Um die Entspre¬ 
chung dieses seines Tuns handelt es sich im Glauben, ge- 


210 


rade indem dieser unsere Bezogenheit auf Jesus Christus 
allein ist. Wie wäre da starker Glaube, wie wäre da 
überhaupt Glaube, wo es zu dieser Entsprechung nicht 
käme? Indem uns die ganze heilige Schrift des Mose und 
der Propheten Christus als den bezeugt, der sich für uns 
gedemütigt hat, wie eben nur der lebendige Gott sich de¬ 
mütigen kann in seiner allmächtigen Barmherzigkeit — 
eben damit und nicht anders bezeugt sie den Glaubenden 
die Hoffnung, die Beharrlichkeit, den Trost, von dem sie 
als Glaubende leben dürfen, neben dem sie zu einem vor 
Gott rechten Leben etwas Anderes tatsächlich nicht nötig 
haben, in dem sie völliges Genügen haben, so daß alle 
Selbsthilfe oder auch nur Nachhilfe objektiv unnötig ist. 
Aber eben indem die Schrift dieses Christus und in Chri¬ 
stus diesen Gott bezeugt, kann es (V. 5—6) nicht anders 
sein, als daß dieser Gott unter den an ihn Glaubenden 
und durch ihn Lebenden die Einheit herstellt, die dem 
Willen Jesu Christi, die seinem Bilde und insofern weder 
dem Bilde der Schwachen noch dem der Starken ent¬ 
spricht, in der aber beide miteinander unter allen Um¬ 
ständen statt sich selber zu Gefallen zu leben, Gott prei¬ 
sen dürfen und werden in der Gemeinde und als Ge¬ 
meinde in der Welt. In dieser Einheit des Glaubens und 
seiner Erfüllung im Lobpreis Gottes werden sie einander 
(v. 7) annehmen, so wie sie selber alle miteinander ja 
nur Angenommene sind, so wie sie selber außer diesem 
Angenommensein als Christen gar keine Existenz, in die¬ 
sem Angenommensein ihr Ein und Alles haben. Was be¬ 
sagt demgegenüber die Verschiedenheit ihres eigenen An- 
nehmcns, ihres besseren oder weniger guten Gehorsams¬ 
weges? Noch und noch einmal sollen sie (v. 8—12) schlicht 
an Jesus Christus selber denken, der als Messias der 
Juden die Treue und gerade darum als Heiland der Welt 
die Barmherzigkeit Gottes offenbar und wirklich gemacht 
hat auf Erden, um so aus dem einen Volk und den 


211 


vielen ein einziges zu machen. Das ist doch das große 
Annehmen, auf Grund dessen es auch in Rom Kirche 
Jesu Christi gibt. Was wären die dortigen Starken im 
Glauben ohne dieses große Annehmen und Hineinneh¬ 
men der Heiden zu dem einen Volke Gottes? Und was 
ist schon ihr Gegensatz zu den Schwachen neben dem 
Gegensatz von Licht und Finsternis, den Jesus Christus 
dort überwunden hat? Wir beachten, daß die Mahnung 
hier (v. 13, wie schon v. 5—6) ins Gebet, in die Für¬ 
bitte übergeht. In Vers 13 sogar so, daß der besondere 
Inhalt dieser Kapitel gar nicht mehr erwähnt wird. Es 
bedarf nur dessen, daß dieses Gebet gebetet und erhört 
werde, so wird auch das, wozu Paulus hier — und wozu 
er von Kap. 12, 1 ab — „ermahnt“ hat, geschehen: „Der 
Glaube der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und 
allem Frieden, indem ihr glaubt, damit ihr reich werdet 
in der Hoffnung durch die Macht des Heiligen Geistes!“ 


212 


15, 14 — 16, 27 


Der Apostel und die Gemeinde 


Daß der Römerbrief ein wirklicher Brief ist, von einem 
bestimmten Menschen in bestimmter Zeit und Lage an 
bestimmte andere Menschen gerichtet, das wird uns in 
diesem Schlußteil, wenn wir es etwa vergessen haben soll¬ 
ten, noch einmal bestimmt in Erinnerung gerufen. Es ist 
zum Verständnis des Ganzen notwendig, daß man das vor 
Augen habe. Gerade das Evangelium, dessen entscheiden¬ 
den Inhalt und dessen Begegnung mit dem Ungehorsam 
und mit dem Gehorsam der Menschen Paulus in diesem 
Brief umschrieben hat, darf niemals als eine gewisser¬ 
maßen im leeren Raum schwebende „Wahrheit“ — ge¬ 
rade das Evangelium kann nach dem biblischen Begriff 
des Wortes Wahrheit nur als eine zwischen Mensch und 
Mensch stattfindende Eröffnung des Geheimnisses Gottes 
und also als ein geschichtliches Ereignis vorgestellt und 
verstanden werden. Der im Evangelium Gott heißt, ist 
ja Mensch geworden. Was im Evangelium Ewigkeit heißt, 
hat ja die Zeit erfüllt. Was im Evangelium Geist heißt, 
das wohnt ja in sterblichen Leibern (Kap. 8, 11). Das 
Evangelium existiert nie und nirgends an sich und für 
sich, sondern immer in bestimmten Zeiten mit ihren Um¬ 
ständen. Immer in den bestimmten Personen der Boten, 
die es ausrichten und in den bestimmten Personen derer, 
die die Botschaft empfangen. Es existiert auch im Römer¬ 
brief nicht anders. Das ist es, was diesen seinen Schluß 
wichtig macht, in welchem wir zwar sachlich in der Haupt¬ 
sache keine weitere Belehrung mehr empfangen, in wel- 


213 


chem dafür eben dies wieder sichtbar wird: daß wir es 
mit einem ums Jahr 58 von Korinth nach Rom geschrie¬ 
benen Brief, mit dem Apostel Paulus in einem besonde¬ 
ren Stadium seines Lebensweges und mit einer besonde¬ 
ren unter den Christengemeinden jener ersten Zeit zu tun 
haben. 

Was wir zunächst in Vers 14—21 zu lesen bekommen, 
ist im Rückblick auf den ganzen Brief geschrieben. Pau¬ 
lus ist sich nach Vers 15 (vgl. auch v. 18) dessen be¬ 
wußt, den römischen Christen „teilweise etwas kühn“ ge¬ 
schrieben, ihnen gegenüber mit diesem Briefe etwas ge¬ 
wagt zu haben. Wir wissen nicht direkt, auf was sich 
Paulus hier im besonderen bezogen hat: sicher nidit etwa 
auf die Ausführlichkeit seiner Darlegungen und sicher 
auch nicht nur auf die Mahnungen des vorangehenden 
Kapitels, obwohl die Dringlichkeit, in der da eine nicht 
von ihm gegründete und ihm sonst auch nur teilweise 
bekannte Gemeinde angeredet wird, zu der erwähnten 
„Kühnheit“ auch gehören mag. Es liegt doch, wenn man 
den Eindruck offen reden läßt, den man von diesem gan¬ 
zen Apostelbrief von Anfang an noch heute hat, am näch¬ 
sten, vor allem eben an das Ganze dieser Darlegung zu 
denken. Viel Ungewohntes und darum Überraschendes 
haben auch wir seinen wenigen Blättern auf Schritt und 
Tritt entnehmen müssen. Viel seltsame, bald unvermutet 
rasch, bald unvermutet langsam vollzogene Schritte hatten 
wir mitzumachen. Viel radikalen, aufregenden, in ihren 
Konsequenzen scheinbar oder wirklich geradezu gefähr¬ 
lichen und anstößigen Sätzen sind wir begegnet. Welche 
Rücksichtslosigkeit gegenüber allen sonst bekannten christ¬ 
lichen und nichtchristlichen Standpunkten und Anschau¬ 
ungsweisen! Welche Anforderungen an unsere Fähigkeit 
und Willigkeit, aus allen Burgen und Zelten der Freiheit 
und der Gebundenheit, der Bürgerlichkeit und der 
Boheme, der Moral und der Amoral, der Gottes- und der 


214 


Weltkindlichkeit heraus — und bei dem hier zur Sprache 
gebrachten Erkennen und Bekennen mitzukommen: im¬ 
mer um neue Kurven herum mitzukommen! Welcher 
Ausleger empfände hier nicht das Bedürfnis sich zu ent¬ 
schuldigen mit dem Hinweis darauf, daß das Alles nicht 
in ihm, sondern wirklich im Text dieses Briefes seine 
Ursache hat? Der Tatbestand, der uns hier nodi heute 
in die Augen springt, ist schon in der neutestamentlichen 
Zeit selbst empfunden worden. Die am Anfang unserer 
Vorlesung erwähnte Stelle in 2. Petr. 3, 15—16 mag jetzt 
ausdrücklich zu Worte kommen: „Haltet die Langmut 
unseres Herrn für euer Heil, wie auch unser geliebter 
Bruder Paulus nach der ihm verliehenen Weisheit euch 
geschrieben hat, wie auch in allen Briefen, wenn er in 
ihnen hiervon redet: in denen sich einiges Schwerver¬ 
ständliche findet, was die Unwissenden und Ungefestigten 
verdrehen — wie auch die übrigen Schriften — zu ihrem 
eigenen Verderben“. Es ist die „Kühnheit“ des Paulus 
(und zweifellos nicht zuletzt, sondern zuerst die Kühnheit 
gerade des Römerbriefes), auf die mit diesen Worten 
schonend aber deutlich hingewiesen wird. Sie war, wie 
unsere Stelle zeigt, auch dem Paulus selbst bewußt. Was 
hat er dazu zu sagen? Man muß hier vor allem Vers 14 
beachten, wo er seinen Lesern das nach allem Voran¬ 
gehenden gewiß erstaunliche Zugeständnis madit, daß er 
nicht nur von der Fülle ihrer guten Gesinnung, sondern 
auch davon überzeugt sei, sie seien voll Erkenntnis und 
fähig, sich selbst gegenseitig zu unterrichten. Wozu dann 
der ganze Römerbrief in seiner ganzen Kühnheit? Nun, 
sagt Vers 14, jedenfalls nicht dazu, um seinen Lesern 
etwas Neues, etwas Anderes, etwas von dem, was sie als 
Christen schon gehört haben und schon wissen, Verschie¬ 
denes zu sagen. Das Alte neu, ja, aber nichts Neues! Das 
Eine anders, ja, aber nichts Anderes! Ein größerer Gegen¬ 
satz ist gar nicht denkbar als der zwischen einem Apostel 


215 


und einem genialen Stifter neuer Religion und Weltan¬ 
schauung. Als Zeuge des auferstandenen Jesus Christus 
und also als Ausleger des Mose, der Propheten und der 
Psalmen hat Paulus im Römerbrief geredet. Er hat also 
tatsächlich nichts gesagt, was nicht grundsätzlich ebenso 
gut irgend ein Christ dem anderen sagen könnte. Er hat 
nur wiederholt, was die Christen, zur Kirche zusammen¬ 
gerufen, längst gemeinsam gehört haben. Er hat geschöpft 
aus der Quelle der Erkenntnis, die auch in der Gemeinde 
zu Rom offen und zugänglich ist. Er hat nichts Anderes 
als ihr eigenes Bekenntnis ausgesprochen und erläutert. 
Hat er nun nach Vers 15 doch „teilweise etwas kühn“ 
geschrieben, so geschah das, „um euch eine Erinnerung 
zu geben“, also eben: um ihnen das ihnen schon Be¬ 
kannte zu wiederholen, neu und frisch vor Augen zu 
stellen. Eben indem er das tut, kommt es zu jener 
„Kühnheit“. Eben diese Repetition hat notwendig den 
Charakter einer Revolution. Aber warum gerade dann, 
wenn Paulus der Repetitor ist? Warum hat es in der 
ganzen Kirchengeschichte noch immer Unruhe gegeben, 
wenn gerade Paulus und gerade der Römerbrief wieder 
aufmerksam gelesen und unerschrocken ausgelegt wurde? 
Wenn Paulus nun sagt, daß er seinen Lesern diese Er¬ 
innerung gegeben hat, „kraft der ihm von Gott verliehe¬ 
nen Gnade, so verwahrt er sich damit offenbar gegen die 
Vermutung, es könnte irgend eine Eigenart seiner Per¬ 
sönlichkeit, es könnte seine christliche Originalität oder 
dergleichen sein, was bei dieser Erinnerung als „Kühn¬ 
heit“ wirksam werde. Die Sache liegt nach Vers 16 ganz 
anders: Darum muß Paulus so reden und schreiben, wie 
er es tut, weil sein Amt ein so ganz außerordentliches 
ist. Was tut nämlich Paulus? Er verkündigt das Evan¬ 
gelium. Aber eben das ist eine Sache, die mit der Tätig¬ 
keit eines Redners oder Schriftstellers — obwohl es dabei 
ohne viel Reden und Schreiben nicht abgeht — im Grund 


216 


nichts zu tun hat. Sie ist vielmehr in Wahrheit die Tätig¬ 
keit eines Opferdieners, eines Leviten, der das, was zu 
opfern ist, für den das Opfer vollziehenden Priester zu¬ 
zubereiten hat. Der Priester ist Jesus Christus. Das Opfer 
sind die Heiden. Und Alles, was Paulus tut mit seinem 
Reden und Schreiben, ist nichts als das Zudienen, durch 
das dieses Opfer für diesen Priester brauchbar, durch 
das es zu einem Gott wohlgefälligen Opfer gemacht wird. 
Es geht um die Heiligung der Heiden durch den Heiligen 
Geist. Und es ist die Beteiligung des Paulus an diesem 
Wunderwerk der göttlichen Erwählung und Berufung, bei 
dem unbegreiflichen Aufgehen dieser Türe zwischen Israel 
und den Völkern, die seinem Reden und Schreiben, die 
auch seinem Brief an die Römer jene Kühnheit gegeben 
hat. Es bildet (v. 17) dieses sein Amt — nicht kraft 
seiner menschlichen Würdigkeit dafür, aber kraft dessen, 
daß es ihm von Jesus Christus verliehen ist, als Amt des 
Hilfsdienstes an dessen eigenem Dienst — seinen Ruhm, 
seine Ehre und Rechtfertigung Gott gegenüber. Sein Amt 
ist der Grund dessen, was seinen Hörern und Lesern als 
kühn, als neu und sonderbar an ihm auffallen mag. Was 
er auch wagen mag in seinem Reden und Schreiben (v. 
18—19) — er wird bestimmt nichts Anderes sagen als eben 
das, was Christus durch dieses sein Amt wirklich gemacht 
hat. Er wird Christus bezeugen als den Priester, der im 
Begriff steht, die verlorene Welt der Heiden als wohl¬ 
gefälliges Opfer Gott darzubringen. Paulus steht nun ein¬ 
mal selber als Erster überrascht und betroffen von der 
Tatsache jenes Wunderwerkes, daß heute die Heiden zum 
Gehorsam gerufen werden durch Gottes Worte und Taten, 
durch die Kraft der von Gott gegebenen Zeichen und 
Wunder, durch die Kraft des Geistes. Paulus steht vor der 
Tatsache, daß er „das Evangelium von Christus von Jeru¬ 
salem im Bogen bis nach Illyrien fertig gemacht“ hat. 
Die beiden Ortsbezeichnungen in diesem Ausdruck sind 


217 


nicht wörtlich, sondern als Bezeichnung der Endpunkte 
des Gebietes zu verstehen, das Paulus auf seinem bis¬ 
herigen Weg durchlaufen hat. Und „fertig machen“ hat 
mit dem zweifelhaften modernen Begriff „Durchevangeli- 
sieren“ natürlich nichts zu tun, sondern will sagen: daß 
diese ganzen Gebiete mit den darin wohnenden Völkern 
von seiner Verkündigung erreicht wurden, daß das Licht 
des Evangeliums in diesen ganzen Gebieten an genügend 
vielen Orten angezündet worden ist, um die daselbst vor¬ 
her herrschende Finsternis zu brechen, um — ohne Rück¬ 
sicht auf die größere oder kleinere Zahl der da und dort 
zum Glauben Gekommenen — die Feststellung zu er¬ 
lauben, daß dieser ganze Bereich, die ganze diesen Be¬ 
reich bevölkernde Menschheit den Namen Jesu Christi 
vernommen hat. Und war (nach v. 20—21) der Grund¬ 
satz, dem Paulus auf diesem ganzen Weg treu geblieben 
ist, der: auf alle Anknüpfung an frühere von Anderen 
geleistete Missionsarbeit, auf alles „Bauen auf fremdem 
Grund“ zu verzichten und sich an die und nur an die 
Orte und Gegenden zu halten, wo Christus noch nicht 
bekannt gewesen war und also Jes. 52, 15 in seiner 
wörtlichen Wahrheit kennen zu lernen: „Die von ihm keine 
Kunde bekommen hatten, die werden sehen, und die nicht 
gehört haben, die werden verstehen“. Wir müssen hier 
daran denken, in welchen Tönen eines völlig Überrasch¬ 
ten und Verwunderten Paulus schon früher, besonders in 
Kap. 9—11, von diesem Ausbruch des Evangeliums aus 
der Enge Israels in die Weite der Heidenwelt, aus seinem 
natürlichen Wurzelboden hinein in jene gänzliche Fremde 
geredet hat. Es ist so gar nicht selbstverständlich, sondern 
es ist wirklich Gottes Wunderwerk, es ist anders als von 
der Auferstehung Jesu Christi her tatsächlich nidit zu er¬ 
klären, was da geschehen ist. Von dieser Geschichte kommt 
der Paulus her, der den Römerbrief geschrieben hat. Nicht 
er hat diese Geschichte gemacht; aber in dieser Geschichte 


218 


ist er wirksam gewesen; als ihr Zeuge redet und schreibt 
er und darum so kühn, darum so neu und sonderbar. 
Er redet und schreibt als der Mann, dem darin, daß er 
jenen Dienst tun durfte, das Erbarmen Gottes zu einer 
immer unbegreiflicheren, aber auch immer handgreifliche¬ 
ren Tatsache geworden ist. Wer das nicht so sieht, dem mag 
es erlaubt und möglich sein, weniger kühn zu reden und 
zu schreiben, seinen Hörern und Lesern weniger Fragen 
und Rätsel aufzugeben. Wen das Erbarmen Gottes, wen 
die Versammlung der Heiden zu Israel weniger verwun¬ 
dert, der mag sich dann in seiner Darlegung des Evan¬ 
geliums auch weniger verwunderlich äußern als Paulus 
es getan hat — der mag sich behüten vor der großen 
Wunderlichkeit, in der sich Paulus über diese Sache ge¬ 
äußert hat. Aber wer kann sich hier eigentlich behüten 
wollen? Wem müßte diese Sache im Grunde nicht ebenso 
verwunderlich sein, wie sie es dem Paulus gewesen ist? 
Wer kann im Grunde eine andere Rede von dieser Sache 
zu hören begehren, als eben die wunderliche Paulusrede? 
Ist nicht gerade das Außerordentliche des Römerbriefes 
das, was in dieser Sache als das allein Ordentliche be¬ 
zeichnet werden muß? War es also nicht notwendig, daß 
es gerade die Gestalt des Paulus war, die sich der Chri¬ 
stenheit von Anfang an, so befremdend sie ihr immer 
wieder war, als die Gestalt des Apostels eingeprägt hat? 
Und kommen wir darum herum, uns gerade mit ihm als 
mit dem Apostel des Evangeliums auseinanderzusetzen 
oder vielmehr zusammen zu tun — nicht trotz, sondern 
gerade wegen der „Kühnheit“ seiner Rede? Es könnte 
ja doch sein, daß man sich da vor dem Evangelium selbst 
behütet, wo man sich vor der paulinischen Kühnheit durch¬ 
aus und endgültig behüten wollte! 

Der Abschnitt Vers 22—33 redet von den Zukunfts¬ 
plänen des Paulus. Er wollte (v. 22, vgl. Kap. 1, 13) 
die Gemeinde in Rom schon lange besucht haben. Vieles 


219 


— und offenbar auch sein besonderer Auftrag (im Sinne 
von Vers 20—21) — hat ihn bis jetzt davon zurückgehal¬ 
ten. Nachdem er jetzt jenen Bogen (v. 19) vollendet hat, 
möchte er nach Spanien reisen, unterwegs auch die römi¬ 
sche Gemeinde besuchen, sich, wie in Kap. 1, 11 f. bereits 
beschrieben, mit ihr zusammen stärken und schließlich aus 
ihrer Mitte ein Geleite für jenes weitere Unternehmen 
empfangen dürfen. Aber noch steht ihm (v. 25 f.) eine 
Reise in gerade umgekehrter Richtung bevor: nach 
Jerusalem, um jene von den Gemeinden in Mazedonien 
und Griechenland beschlossene und erhobene Kollekte für 
die dortigen Armen persönlich abzuliefern, von der im 
2. Korintherbrief so ausführlich die Rede ist. Man beachte 
die in Vers 27 gegebene Motivierung dieser Kollekte: sie 
ist die leiblich-materielle Anzeige der Dankbarkeit, die 
den Heiden dem Volk Israel gegenüber selbstverständlich 
ist. Indem sie jenen leiblich Armen beistehen, bezahlen 
sie nicht, aber bezeugen sie die Schuld, in der sie, die 
geistlich Armen, jenen als dem Volk des Messias, der 
der Welt Heiland ist, gegenüberstehen. Es handelt sich 
also nicht um eine Wohltätigkeitsaktion wie irgend eine 
andere, sondern um die zur Begründung der einen Kirche 
aus Juden und Heiden notwendige feierliche Besiegelung 
der ganzen Arbeit des Paulus und eben darum um einen 
Akt, den er selber persönlich vollziehen muß. Nachdem er 
vollzogen ist, will er jene Reise nach Spanien, die ihn 
auch nach Rom führen soll, antreten (v. 28—29). Er 
mahnt die römische Gemeinde, zunächst seine Reise nach 
Jerusalem mit ihrem Gebet zu begleiten. Er wird es nötig 
haben, denn er wird ja dort erst recht auf jene „Ungehor¬ 
samen“ stoßen, auf die Hochburg der ungläubigen Syna¬ 
goge. Es scheint aber auch seine gute Aufnahme bei den 
„Heiligen“, d. h. bei den Aposteln und den anderen Chri¬ 
sten der Urgemeinde von Jerusalem nicht so gesichert zu 
sein, daß er jener Fürbitte nicht bedürfte. Wie Paulus nach 


220 


dem 2. Korintherbrief bei den Heidenchristen werben 
mußte um den freudigen Vollzug jenes Aktes der Dank¬ 
barkeit, so bei den Judenchristen um ihr Wohlgefallen 
an seinem Dienst als Heidenapostel und auch an diesem 
besonderen Akte. Es verstand sich nicht von selbst, daß 
sie das im Werk des Paulus offenbar gewordene Ver¬ 
hältnis zwischen Israel und der Kirche ihrerseits anerkann¬ 
ten und also auch dessen Besiegelung durch jene Kollekte 
so aufnahmen, wie sie gemeint war. 

In Kap. 16, 1—2 wird eine christliche Frau, Phöbe, 
der römischen Gemeinde zu gutwilliger Aufnahme emp¬ 
fohlen. Es ist anzunehmen, daß sie den Brief von Korinth 
nach Rom gebracht hat. In der Gemeinde von Kenchreä, 
dem östlichen Hafenvorort von Korinth, hatte sie bis dahin 
ein Amt versehen, über dessen Art und Umfang wir frei¬ 
lich nichts Näheres erfahren. Doch wird von ihr gesagt, 
daß sie Vielen und so auch dem Paulus selbst ein Bei¬ 
stand gewesen sei und es wird den Christen in Rom 
nahegelegt, ihr das zu vergelten durch Beistand, da, wo 
sie selber dessen bedürfen sollte. 

Es folgen nun in Kap. 16, 3—15 die persönlichen Grüße 
des Paulus an eine ganze Reihe von ihm bekannten ein¬ 
zelnen Gliedern der römischen Gemeinde. Man hat sich 
schon gefragt, wie es möglich war, daß Paulus so viele 
Personen in dieser fernen Gemeinde kannte und hat auf 
diese Frage und im Blick auf gewisse Einzelheiten die 
am Anfang unserer Vorlesungen erwähnte Vermutung 
begründet, wir könnten es in dieser Grußliste mit einem 
Brief oder Briefstück zu tun haben, das ursprünglich an 
eine andere, Paulus besser bekannte Gemeinde (man 
denkt an Ephesus) gerichtet gewesen sei. Zieht man die 
Tatsache in Betracht, daß damals in Rom tatsächlich 
Menschen aus dem ganzen Mittelmeergebiet in großer 
Zahl zuzureisen und sich niederzulassen pflegten, so ist 
es doch nicht ausgeschlossen, daß Paulus es in der dorti- 


221 


gen Gemeinde tatsächlich mit vielen alten Bekannten aus 
dem Osten zu tun hatte. Wie dem auch sei: es ist be¬ 
merkenswert, daß gerade der Römerbrief als der sach¬ 
lichste unter allen paulinischen Briefen mit dieser aus¬ 
führlichen Grußliste zugleich auch den Stempel des per¬ 
sönlichsten von allen erhalten hat. Die meisten der hier 
erwähnten Personen sind uns sonst unbekannt. Wir wis¬ 
sen von dem in Vers 3—4 genannten Ehepaar Prisca 
und Aquila, daß sie die Wege des Paulus mehr als ein¬ 
mal gekreuzt haben; wiederum ist uns nicht bekannt, 
wo und wie sie sich für ihn in die in Vers 4 erwähnte 
Lebensgefahr begeben haben. Man beachte den Nachdruck, 
mit dem von ihnen gesagt wird, daß mit Paulus selbst 
alle heidenchristlichen Gemeinden ihnen zu besonderem 
Dank verpflichtet seien. Es könnte ferner der in Vers 13 
genannte Rufus identisch sein mit dem in Mark. 15, 21 
unter diesem Namen erwähnten zweiten Sohn des Simon 
von Kyrene. Bei allen übrigen müssen wir uns mit dem 
Wenigen und Allgemeinen begnügen, das hier angedeutet 
wird. Die in diesen Versen vorkommenden Namen sind 
auf Inschriften jener Zeit auch sonst nachweisbar und 
zwar bezeichnenderweise fast alle als Sklavennamen: ein 
wichtiger Hinweis auf die soziale Zusammensetzung die¬ 
ser und (nach 1. Kor. 1, 26 f.) sicher nicht nur dieser 
Gemeinde. Aristobulus (v. 10) und Narcissus (v. 11), 
deren „Leute“ gegrüßt werden, sind offenbar heidnische 
Herren, bei denen diese Christen als Sklaven im Dienst 
standen. Daß verhältnismäßig nicht wenige Frauennamen 
Vorkommen, ist ebenso interessant wie daß sie immerhin 
nicht die charakteristische Mehrzahl bilden. Eine von 
ihnen, die Mutter des Rufus, (v. 13) hat Paulus „seine 
und meine Mutter“ genannt. Indem Andronikus und 
Junias (v. 7) und Herodion (v. 11) ausdrücklich als 
Stammesgenossen des Paulus, also als geborene Juden 
bezeichnet werden, ist anzunehmen, daß es sich bei allen 


222 


übrigen um geborene Heiden handelt. Man notiere: für 
alle diese Leute und Leutlein ist der Römerbrief damals 
bei aller „Kühnheit“ offenbar nicht „zu schwer“ gewesen! 
Das sachlich Wichtigste ist doch wohl die Tatsache, daß 
bei so vielen der Gegrüßten (wie schon bei Phöbe, Prisca 
und Aquila) und auffallenderweise gerade bei einigen 
Frauen dies hervorgehoben wird, daß sie „für euch“ oder 
„im Herrn“ sich gemüht, gearbeitet haben (v. 6 und 12), 
daß Urbanus in Vers 9 ein Mitarbeiter des Paulus und 
Apelles in Vers 10 ein „in Christus Bewährter“ genannt 
werden kann. Man kann diese Grußliste nicht lesen, ohne 
den bestimmten Eindruck zu bekommen, daß alle diese 
„Geliebten“, „Erwählten“ und „Heiligen“ nicht etwa nur 
passiv, empfangend und genießend, erbaut, belehrt, ge¬ 
tröstet und ermahnt, sondern in eigener Verantwortlich¬ 
keit, Anstrengung und Opferbereitschaft am Evangelium 
teilnahmen. Das Evangelium ist ihre Sache wie es die des 
Apostels ist und daraufhin, als aktive Mitträger dieser 
Sache werden sie von ihm gegrüßt und angeredet. Das 
Persönliche geht nicht unter, sondern es kommt zu Ehren 
in dem Gegenüber von Apostel und Gemeinde: aber eben 
damit, daß es hier überall „im Herrn“, „in Christus“ seine 
Wirklichkeit hat und daß damit wieder nicht bloß ein 
Dabeisein, sondern ein allgemeines und besonderes Mit¬ 
tun bezeichnet ist. Wer etwa der Meinung sein sollte, daß 
der Römerbrief zu viel Lehre und zu wenig Leben, zu 
viel Worte und zu wenig Taten biete, der lese diese 
Grußliste und mache sidi klar: hier, bei den Lesern des 
Römerbriefes entschied sich damals und entscheidet sich 
bis heute die Frage nach dem der Lehre entsprechenden 
Leben und nach den den Worten entsprechenden Taten. 
Wer diese Frage stellen will, der soll sie also zuerst und 
vor allem an sich selbst richten. So positiv, wie es in dieser 
Grußliste sichtbar wird, hat sie sich damals entschieden. 
Leben will gelebt, Taten wollen getan sein. Wo das so 


223 


geschieht, wie es hier offenbar geschehen ist, da kann und 
muß dann auch das Andere gelten: Lehre will gelehrt 
und gelernt sein. Es dürfte aber auch die Umkehrung 
gelten: eben da, wo Lehre gelehrt und gelernt wird, wie 
es hier geschehen ist, da kann und wird dann das Leben, 
das als solches nicht gut Inhalt eines Briefes sein kann, 
wirklich gelebt werden. 

In Vers 16 hat Paulus offenbar bereits angesetzt zu 
den Grüßen, die er aus seiner Umgebung seinerseits zu 
bestellen hat: „Es grüßen euch alle Gemeinden des Chri¬ 
stus“. Wo das Evangelium evangelisch, apostolisch ver¬ 
kündigt wird, da grüßt die ganze Kirche aller Zeiten und 
aller Orte je die Kirche, die es dann im besonderen hören 
darf. 

Aber bevor Paulus mit diesem Grüßen fortfährt, unter¬ 
bricht er sich (v. 17—20) mit einer kurzen, leidenschaft¬ 
lichen Warnung vor einer die Gemeinde von Rom bedro¬ 
henden Verführung, zu deren Bezeichnung ihm am 
Schluß (v. 20) auch der Name des Satan nicht zu hart 
ist. Wir kennen den näheren Anlaß dieser Warnung und 
die besondere Art der hier erwähnten Versuchung nicht. 
Deutlich ist nur dies: es handelt sich um eine Ab¬ 
weichung eben von der „Lehre, die ihr gelernt habt“, und 
um die Entzweiung und das Ärgernis, die durch solche 
Abweichung angerichtet werden könnten, vielleicht tat¬ 
sächlich schon angerichtet sind — gefährlich darum, weil 
ihre Urheber ihre Sache mit sdiönen Worten und Segens¬ 
sprüchen vorzutragen fähig sind. Wer würde da nicht 
hören, wenn etwas in seiner Weise „schön“ und „geseg¬ 
net“ ist? Die Arglosen sind dann immer bereit, „schön“ 
mit „wahr“ und „gesegnet“ mit „christlich“ zu verwech¬ 
seln. Wenn Paulus in Vers 18 von denen, die die Ge¬ 
meinde in dieser andächtigen Weise bedrohen, sagt, daß 
sie nicht unserem Herrn Jesus Christus, sondern ihrem 
Bauche dienen, so muß man das grobe Wort sicher fein 


224 


und also dahin verstehen, daß zu dem, was hier „Bauch“ 
genannt wird, auch das Herz und der Kopf gehört, daß 
der „Bauch“ also den sich selbst lebenden und ausleben¬ 
den Menschen bezeichnet. Daß ihm, dem Menschen und 
nicht Christus gedient wird, das war und ist — vom 
Römerbrief her gesehen — das falsche aller falschen, 
d. h. nur angeblich christlichen Lehre zu allen Zeiten. 
Daß die Lehre des Römerbriefs Christus dient, haben 
wir gesehen. Alle Abweichung von seiner Lehre wird in 
der Tat darin bestehen, daß sie dem Menschen dienen 
will. Das also ist es, was nicht geduldet, nicht trotz der 
Liebe, sondern gerade wegen der Liebe unter keinen Um¬ 
ständen geduldet werden kann. Paulus zweifelt nach Vers 
19 nicht daran, daß die römischen Christen ihrem bisher 
bewiesenen Gehorsam treu bleiben werden. Er ist nicht 
besorgt um sie, er freut sich im Gedanken an sie. Er 
wünscht ihnen aber die weise Offenheit, die ihnen zur Er¬ 
haltung im Gehorsam — und die einfältige Verschlossen¬ 
heit, die ihnen zur Abweisung alles möglichen Ungehor¬ 
sams nötig ist. Man beachte, daß es hier offenbar nicht um 
Diskussionen und Auseinandersetzungen, sondern nur um 
Entscheidungen und zwar um (v. 20) „in Bälde“ zu voll¬ 
ziehende Entscheidungen gehen kann — Entscheidungen, 
die die Leser vollstrecken müssen und in denen sie doch 
gar nicht zu wählen haben werden: es ist der Gott des 
Friedens, es ist der Herr der Kirche, der sie vollstrecken 
wird und ihr Vollstrecken wird nur darin bestehen, daß 
sie sie als von ihm vollzogen zu anerkennen haben. Wo 
das Ja des Römerbriefs einmal gesprochen ist, da kann 
es hinsichtlich des Nein zu seinem Gegenteil offenbar kein 
langes Fragen geben. 

In Vers 21—23 kommen die Grüße aus der Umgebung 
des Paulus, zu denen er in Vers 16 ansetzen wollte, zu 
Wort: Timotheus, der bekannte Mitarbeiter des Paulus, 
drei auch sonst bekannte judenchristliche Freunde, Ter- 


225 


tius, der den Brief geschrieben, Gajus, bei dem Paulus 
wohnt und in dessen Haus sich die korinthische Gemeinde 
versammelt, Erastus, der Schatzmeister der Stadt, ein offen¬ 
bar angesehenes Glied dieser Gemeinde und ein sonst un¬ 
bekannter Bruder Quartus. 

Der in Vers 20 und 24 wiederholte Gruß „Die Gnade 
unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch Allen!“ faßt 
hier wie in den anderen Briefen des Paulus das Ganze in 
sich, was er seinen Gemeinden, was er als Apostel über¬ 
haupt zu sagen hat. Die Gnade unseres Herrn Jesus 
Christus ist das Evangelium, das Paulus verkündigt hat 
und neben dem es nach Gal. 1, 8 ein anderes nicht gibt. 
Daß die Gnade unseres Herrn Jesus Christus mit ihnen 
ist, das ist es, was die Christen zu Christen macht. 

Hier endigt der Römerbrief des Paulus. Denn was in 
Vers 25—27 noch zu lesen steht, ist nach äußeren und 
inneren Gründen als ein späterer Zusatz von fremder 
Hand anzusehen, dessen Inhalt zwar an sich beachtlich, 
bedeutsam und lehrreich ist, auf dessen Erläuterung wir 
aber schon darum verzichten dürfen, damit das letzte 
Wort, das uns hier in den Ohren bleibt, das Wort des 
Paulus selbst sei: das sehr einfache und sehr gute Wort 
von der Gnade unseres Herrn Jesus Christus, von der er 
seinen Lesern wünscht, daß sie mit ihnen allen sein möge! 


KARL BARTH 


Karl Barth zum Kirchenkampf 

Beteiligung • Mahnung • Zuspruch 

(Theologische Existenz heute, Nr. 49) 

96 Seiten 

Dieses Heft vereinigt eine Fülle von Äußerungen Barths. Besonders ein¬ 
dringlich sind die Briefe an seine ehemaligen Schüler in der Bekennenden 
Kirche aus dem Jahre 1937, sein Gutachten zur Frage des „Treueides“ der 
Pfarrer, nicht zuletzt der Brief vom Juli 1945 an die deutschen Theologen 
in der Kriegsgefangenschaft. Das Heft ist keineswegs ein Erinnerungsstück, 
sondern auch für die Kirche heute ein Aufruf zur Sache, zu der Sache, mit 
der sie sich vor allem anderen und hauptsächlich zu befassen hat, nämlich 
mit der reinen Verkündigung des Wortes Gottes. Das Neueste 


Evangelium und Gesetz 

(Theologische Existenz heute, Nr. 50) 

32 Seiten 

Außerhalb jeglichen Lehrgezänks oder politischen Streits steht diese mitten 
im heißesten Kampf geschriebene Unterweisung. Sic ist ein leuchtendes 
Kleinod. Barth zeigt sich hier als ein Erklärer und Künder göttlicher Gnade. 
Ein regsamer Geist, eine eigentümliche, elastische Sprache zeichnet sein lite¬ 
rarisches Werk aus. Diese kleine Schrift ist nicht nur eine charakteristische 
Kostprobe daraus, sie zeigt auch Barths zentrale Position als christlicher 
Lehrer der Gegenwart. Neue Zürcher Zeitung 


Die Ordnung der Gemeinde 

Zur dogmatischen Grundlegung des Kirchenrechts 
88 Seiten 

Dieser Sonderdruck aus der Kirchlichen Dogmatik, Band IV/2, gehört zu 
jenen Abschnitten aus Barths Dogmatik, die wirklich Eingang in die Ge¬ 
meinde finden müssen. Von dem Axiom her: „Jesus Christus, Haupt der 
Gemeinde, von dem das Recht kommt“, entfaltet Karl Barth das Kirchen- 
rccht 1. als Dienstrecht der Gemeinde, 2. versteht Barth das Kirchenrecht 
als liturgisches Recht, 3. als lebendiges und 4. als vorbildliches Recht. Wol¬ 
len wir etwas zur Empfehlung dieses Heftes sagen, so müßten wir cs ab- 
drucken, d. h., wir empfehlen cs dringend zum gründlichen Selbststudium. 

Reformierte Kirchenzeitung 


CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN